Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit dem Thema Depressionen. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Mama werden: Alessandra

Ein halbes Leben lang begleiten Alessandra depressive Episoden. Dann wird sie schwanger. Damit ändert sich alles.

Text und Fotos: Jana Reininger

Datum: 24. Februar 2022

Alessandra ist 15 Jahre alt, als ihr erster Freund mit ihr Schluss macht. Der Schmerz sitzt tief, denn das Verlassenwerden kennt Alessandra. Die Einsamkeit überrollt sie wie eine Lawine, die Ohnmacht sticht sie ins Herz. Die Tränen hören nicht auf, über ihr Gesicht zu rollen. Alessandra braucht Hilfe. Weinend sitzt sie neben ihrer Mutter, hoffend auf Trost. „Hör auf zu weinen“, sagt die, während sie in ihren Computer tippt. „Davon kommt er auch nicht wieder zurück.“

Alessandra ist 30 Jahre alt, als ihr Baby nicht aufhört zu schreien. Sie wiegt es und schaukelt es, streichelt es und hält es zu ihrer Brust, aber nichts hilft. Alessandra wird wütend und erschrickt über sich selbst. „Es ist normal, dass Kinder weinen“, sagt sie sich. „Wieso kann ich sie nicht einfach trösten und ihr Liebe schenken?“

Heute ist Alessandra 35 Jahre alt. Sie ist Fotografin und alleinerziehende Mutter. Für das Gespräch mit ZIMT sitzt sie auf dem großen Holztisch in dem Atelier, das sie vor ein paar Jahren aufgezogen hat. Alessandra erzählt von Zeiten, in denen sie Depressionen hatte und davon, wie es ist, wenn sich als Mutter plötzlich alles verändert. Depressionen hat sie heute keine mehr.

Die depressiven Episoden, die Alessandra erlebt, folgen oft auf Trennungen von Liebesbeziehungen. Aber sie kommen auch einfach so immer wieder. „Das waren ganz schlimme Phasen, wo ich dann tagelang nichts gegessen und nicht gesprochen habe. Ich habe mich total isoliert. Ich hab versucht, den Schmerz irgendwie weg zu schlafen. Ich war dann meistens alleine, weil ich das niemand anderem zumuten wollte.“ Alessandra kennt diese Phasen seit ihrem 13. Lebensjahr. „Ich hatte dann auch mal Gedanken aus dem Fenster zu springen. Mir ging es wirklich schlecht.“

Alessandra in in ihrem Atelier

Vom Trennungsschmerz zur Depression

Als Alessandra 15 Jahre alt ist und ihr Freund sie verlässt, findet sie sich in genau so einer Situation wieder. „Ich hab damals nicht verstanden, dass das für mich deshalb so schlimm war, weil mein Vater uns auch schon früh verlassen hat“, sagt Alessandra, die meistens Selli genannt wird.

Mit 20 Jahren fasst Alessandra den Entschluss, eine Therapie zu beginnen. Jahrelang sucht sie nach einer:m Therapeut:in, der:die zu ihr passt. Wo die Chemie, die Kosten und der freie Platz stimmen. Aber Alessandra wird nicht fündig. Mal fühlt sie sich nicht wertgeschätzt, mal fühlt sie sich nicht im Erzählen ermutigt. Also beginnt Alessandra ihre Gedanken aufzuschreiben. „So hab ich die Dinge auch schwarz auf weiß gehabt“, sagt sie – das hilft. „Grenzen zu setzen war für mich sehr wichtig“, erzählt Alessandra. „Ich wurde oft schlecht behandelt, bin belogen und betrogen worden und hab mir dann immer gedacht: Warum ich? Es war ein Lernprozess, zu verstehen, dass ich mir nicht alles gefallen lassen muss.“

Alessandra geht es laufend besser. Als sie schwanger wird, ändert sich ihr Leben schlagartig. Sie geht nun früher schlafen, steht früher auf, hat Routinen im Leben. Aber das eigene Leben auf Pause zu stellen, um unermüdlich nur für das Kind da zu sein, ist hart, auch ohne depressive Episoden.

„Ich war ein Jahr lang nur zuhause, habe gestillt, war im Babyschwimmen, im Gymnastik, habe jeden Tag fünf Mütter getroffen und habe mein Leben für ein Jahr einfach stumm geschalten.“ Alessandra hat keine Zeit für ihre eigenen Bedürfnisse. Wenn ihre Tochter stundenlang weint, fühlt sich Alessandra in frühe Erinnerungen zurückversetzt. „Dann bin ich draufgekommen, dass es die Reaktion meiner eigenen Mutter war, die mich wütend gemacht hat und nicht die meiner Tochter.“

Alessandra in ihrem Atelier

Mit Zeit für sich selbst zur Heilung

Als Alessandra ein Kind ist, sehnt sie sich nach mehr Zuneigung und Nähe von ihrer Mutter, aber sie kriegt sie nicht. Ihre Mutter bemüht sich, nach der Trennung vom Vater alles alleine zu schaffen, immer da zu sein und nie für sich selbst. Die Anforderungen sind hoch, emotional blockt Alessandras Mutter ab. “Ich bin mir sicher, hätte meine Mutter sich ab und zu einen Nachmittag für sich genommen, wäre sie auch für uns eine bessere Mutter gewesen”, sagt sie. Weil Alessandra in ihrer Kindheit Fürsorge vermisst hat, ist ihr die Beziehung zu ihrer Tochter umso wichtiger.

Als ihr Kind anfängt, den Kindergarten zu besuchen, beginnt Alessandra die wenige Zeit, die für sich selbst übrig bleibt, mehr zu schätzen. Erst ist ihre Tochter nur für ein oder zwei Stunden weg, später länger. Alessandra beginnt wieder zu fotografieren, sie gründet ihr eigenes Atelier und damit ein Künstler:innenkollektiv. Wenn ihre Tochter für ein paar Tage bei ihrem Vater ist, nutzt Alessandra jede Minute. Dann schläft sie sich erstmal aus, geht mit Freund:innen in Ausstellungen oder allein in die Natur, allein essen oder allein ins Kino. Ganz einfach, weil Alessandra das Alleinsein mag.

Weil Alessandra sich Zeit für sich nimmt, geht es ihr besser denn je zuvor. Auch depressive Episoden kennt Alessandra heute nicht mehr. Davon profitiert nicht nur sie selbst. „Dann habe ich auch wieder mehr Energie und Kraft, um mich gut um meine Tochter zu kümmern“, sagt Alessandra. „Es ist schön, ein Kind zu haben, auch wenn es anstrengend ist. Auch, wenn du sie manchmal für zwei Wochen in den Urlaub wegschicken willst. Es kommt so viel an Liebe zurück. Wenn Emma am Abend sagt: ‚Mama, ich liebe dich, schlaf gut.‘, gibt mir das so viel Energie. Das ist einfach das Schönste auf der Welt.“

In ihrem Atelier veranstaltet Alessandra laufend unterschiedliche Ausstellungen und Kunstmärkte. Neugierig geworden? Schau mal im Atelier Analog vorbei oder online auf: https://www.atelieranalog.at/