Triggerwarnung
Neurodivergent: Liv
Text und Fotos: Sabrina Haas
Liv ist ein verträumtes Kind und lebt in einer eigenen Welt. Mit sieben Jahren sitzt sie in der zweiten Klasse Volksschule, kann sich schlecht konzentrieren und kommt im Unterricht nicht mit. Während die anderen Kinder beim Diktat aufmerksam ihren Satz zu Ende schreiben, schafft Liv gerade einmal den halben und noch dazu mit Fehlern. Die Lehrerin wartet nicht. Liv fängt an zu weinen.
Heute ist Liv 24 Jahre alt, macht einen Master in Entwicklungs- und Bildungspsychologie und arbeitet als Referent:in bei der Studierendenvertretung der Universität Wien. Dort berät sie Studierende zu Angeboten der barrierefreien Lehre. Für ZIMT öffnet Liv die Tür zu dem Gemeinschaftsgarten, in dem sie Mitglied ist und viel Zeit verbringt. Sie sitzt in einem gepolsterten Sofasessel und erzählt über ihr Leben.
Vor einigen Wochen hat Liv das erste Vernetzungstreffen für neurodivergente Studierende organisiert. Dort tauscht man sich über Schwierigkeiten im Studium, über Unterstützungsangebote, Therapien und Therapeut:innen, aber auch über Interessen und Hobbies, aus. Liv kann viel erzählen. Unterstützungsangebote und Therapien begleiten sie schon seit der Volksschule.
Diagnose verhindert Schulwechsel
Während andere Kinder lächelnde Smileys unter ihre Hausaufgaben bekommen, bekommt Liv in der Volksschule von den Lehrer:innen immer wieder einen traurigen Stempel auf Schularbeiten und Hausaufgaben. Von ihren Eltern wird sie dafür geschimpft. Die Lehrpersonen fordern Liv auf, sich mehr zu konzentrieren und aufmerksamer zu sein. Sie solle ihren Pult aufräumen und allgemein weniger ‘verpeilt’ sein. Noch dazu verliert oder verlegt sie ständig Dinge. So passiert es, dass mehrmals die Woche der Sportbeutel im Bus liegen bleibt und der Schlüssel nicht mehr auffindbar ist. Das führt zu Streit in der Familie. Die Erwachsenen sind frustriert. Das Kind hat das Gefühl, eine Belastung zu sein.
Mit 12 Jahren besucht Liv gemeinsam mit der Mutter eine Neurologin. Die Ärztin macht mit Liv einige Tests und sammelt Erfahrungsberichte von ihren Lehrenden, Eltern und Geschwistern. Die Diagnose ergibt eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS.
Trotz aller Herausforderungen schafft Liv es aufs Gymnasium. Dort bezeichnet die Klassen- und Deutschlehrerin sie als dumm und für diese Schule ungeeignet. Liv vermutet, die Lehrerin könnte voreingenommen sein, denn Livs Eltern sind aus Polen. Die Pädagogin meint, Liv wäre in einer Förderschule besser aufgehoben. Für ihre Mutter kommt das nicht in Frage. Sie schickt ihr Kind zu einer weiteren Diagnostik, die ergibt, dass Liv eine Lese-Rechtschreibschwäche, auch Legasthenie genannt, hat. Gedanklich konfrontiert Liv triumphierend die Lehrerin: „Ich bin doch nicht dumm, ich hab einfach eine Schwäche in Rechtschreibung und Lesen.” Warum sie diese Worte nicht laut ausspricht, weiß sie heute nicht mehr.
Lernförderungen und diverse Therapien
Livs Mutter ist Psychotherapeutin und ist bedacht darauf, dass ihr Kind die richtige Hilfe bekommt. Über ihre gesamte Schulzeit probiert Liv abwechselnd verschiedene Unterstützungsangebote, Therapien und Lernförderungen aus. Eine Zeit lang geht sie zu einer Psychotherapeutin, die auf Legasthenie und Dyskalkulie spezialisiert ist. Sie versucht es auch mit Ergotherapie, Verhaltenstherapie, Neurofeedbacks und dem Besuch einer ADHS-Gruppentherapie. In fast allen Fächern benötigt Liv Nachhilfe, in Sprachen und Mathematik ganz besonders. Die Ergotherapeutin bastelt mit ihr eine Rolle aus Kunstfell, die Liv zuhause auf ihre Türklinke hängt. Diese soll beim runterdrücken daran erinnern, die Wäsche aufzuräumen oder das Geschirr in die Küche zu bringen. Solche Methoden helfen, Ordnung zu halten.
Der positive Einfluss verschiedener Therapien hält immer für ungefähr ein halbes Jahr, dann hat Liv wieder vermehrt Schwierigkeiten im Alltag und in der Schule. Letztendlich probiert man es mit Medikamenten. Liv bekommt Methylphenidat verschrieben. Das ist einer der bekanntesten Wirkstoffe, die bei ADHS eingesetzt werden. In den zwei Jahren der Einnahme dieses Arzneistoffes verbessert sich Livs schulische Leistung enorm. „Andererseits hat es auch alles andere zerstört.” Liv ist aufeinmal viel mehr in sich gekehrt. “Ich hatte das Gefühl, ich hätte diese ganze Energie in mir, aber sie kommt nicht raus. Das hat sowas wie ein inneres Zittern ausgelöst.” Auch ihr Essverhalten verändert sich. Oft hat Liv keinen Appetit. Eine weitere Nebenwirkung macht sich auf dem Bluttest sichtbar, den Liv der Tabletten wegen regelmäßig machen muss. Ihre weiße Blutkörperchen sinken erheblich. Zu wenige weiße Blutkörperchen stellen eine Gefahr für den Immunschutz des Körpers dar. Die Dosis des Medikaments soll verringert werden.
Liv strickt im Gemeinschaftsgarten
Das Leben mit drei Diagnosen
Als Liv mit ZIMT im Gemeinschaftsgarten sitzt und über ihre Jugendjahre erzählt, geht im anliegenden Hof plötzlich die Tür auf. Liv muss ihre Erzählung unterbrechen. Sie wartet bis der Nachbar seinen Müll entsorgt hat. „Was ich echt stark habe, ist, dass ich Reize nicht ausblenden kann, so wie jetzt gerade”, sagt sie. Dann fallen ihr alle Geräusche und Gerüche gleichzeitig auf. In der Stadt hat sie aus diesem Grund immer geräuschunterdrückende Kopfhörer und Ohrstöpsel mit.
Besonders stark wurden diese Reizüberflutungen nach mehreren aufeinanderfolgenden Gewalterfahrungen im Alter von 16 Jahren. Liv entwickelt damals eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Diese geht auch mit psychosomatischen Schmerzen, Dissoziationen und Schlafstörungen einher. Vor allem in den ersten zwei Jahren lebt Liv deswegen sehr eingeschränkt. Sie kann lange keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Taxifahren geht auch heute noch nicht. “Eigentlich habe ich schon das Gefühl, dass meine PTBS die meisten Barrieren mit sich bringt, die ich in den letzten paar Jahren erlebe”, sagt Liv und starrt dabei in die Ferne.
Liv weiß nicht immer genau, welches Symptom mit welcher Diagnose zusammenhängt, denn die Symptome können sich überschneiden. Den Begriff ‘neurodivergent’ findet sie daher für die eigene Welterfahrung am besten. „Ich finde es wichtig einfach sagen zu können: Ich bin neurodivergent. Und nicht sagen zu müssen: Dieses Symptom hängt jetzt mit ADHS zusammen und dieses mit PTBS.” Diagnosen zu haben findet Liv trotzdem wichtig, da diese den Zugang zu passenden Unterstützungsangeboten und Therapien ermöglichen.
Umgang mit verschiedenen Therapieansätzen
Um mit den Herausforderungen der PTBS klarzukommen, macht Liv eine Traumatherapie. Zusätzlich geht sie auf Empfehlung der Psychotherapeutin zu einer Person, die traumasensibles Shiatsu anbietet. Diese Körperarbeit hilft vor allem bei psychosomatischen Schmerzen und dem Abbau von Triggern, also Reizen, die durch konkrete Ereignisse ausgelöst werden. Dort spricht Liv nicht über ihr Trauma, sondern konzentriert sich darauf, zu lernen, ihren Körper besser wahrzunehmen und Grenzen zu spüren. Wenn dabei Erinnerungen hochkommen, dann bespricht sie diese in Form einer Gesprächstherapie mit ihrer Psychotherapeutin. „Ich glaube, es ist voll wichtig einen Ort zu haben, wo man weiß: Die Person hat eine Schweigepflicht und beschäftigt sich nur mit mir auf Basis meines Traumas. Das ist ein Safe Space, der da kreiert wird.“
Das Medikament, dass die seltene Nebenwirkung ausgelöst und Livs weiße Blutkörperchen verringert hat, setzt sie damals aus eigener Entscheidung heraus ab. Seit der Covid-Pandemie nimmt sie wieder ein Medikament gegen die Symptome von ADHS. Durch die veränderten Umstände hat Liv größere Schwierigkeiten, sich zu organisieren und den Alltag zu strukturieren. Auch einige Prüfungen hat sie vor Einnahme des Medikamentes nicht bestanden. Das Arzneimittel sieht sie trotzdem kritisch. Oft hat sie das Gefühl, etwas zu medikamentieren, das sie selbst nicht als störend wahrnimmt, das los zu werden ihr jedoch von der Gesellschaft abverlangt wird. „Es ist immer so eine Abwägung: Wie viel muss ich funktionieren, um in der Leistungsgesellschaft, in der wir leben, klar zu kommen?”, sagt Liv mit starker Stimme. “ Ich kann mich nicht einfach von der Gesellschaft befreien und aus ihr aussteigen. Wenn sonst nichts hilft, dann muss ich halt Medikamente nehmen.”
Das Umfeld passt sich an
Das Gymnasium war für Liv anstrengend. Geschafft hat sie es nur dank der Lernförderung, Nachhilfe, Therapien und der zusätzlichen Unterstützung im Klassenraum. Während Schularbeiten wurde Liv mehr Zeit und die Möglichkeit in separaten Räumen zu Ende schreiben, gewährt. Auch für die Arbeiten und Prüfungen an der Universität gibt es mehr Zeit. „Damit habe ich keinen Vorteil, damit habe ich einfach einen Ausgleich, damit ich halbwegs auf dem Level von den Anderen bin.”
Livs Freund:innen wissen über die Herausforderungen in Livs Alltag Bescheid und achten darauf. Wenn Liv zum Beispiel das U-Bahnfahren zu viel wird und sie aussteigen möchte, steigen alle Freund:innen gemeinsam mit ihr aus. Einen Freundeskreis zu haben, mit dem Liv offen kommunizieren kann, ist für sie sehr wichtig. „Ich glaube, dass Freundschaften sehr unterschätzt werden und wie wertvoll es sein kann, gute platonische Beziehungen zu haben zu Menschen, die auf deine Bedürfnisse gucken und dich bestärken.”
Liv gießt im Gemeinschaftsgarten Blumen
Sichere Orte
Als sich das Treffen mit ZIMT dem Ende nähert, geht Liv behutsam den Gemeinschaftsgarten ab und gießt, was noch in der Erde schlummert. Sie freut sich schon auf den Zeitpunkt, an dem die Keimlinge aus der Erde sprießen werden. Der Gemeinschaftsgarten lässt Livs Seele besonders erblühen. Liv macht gerne etwas mit den Händen. Wenn der Fernseher oder ein Hörbuch läuft, dann wird gepuzzelt oder gestrickt.Vor nicht allzu langer Zeit hat sie eine Decke gehäkelt. “Ich glaube, Sachen, die man mit den Händen macht und bei denen man relativ schnell Erfolgserlebnisse hat, sind richtig gut für alle Menschen.” Zwischendurch erzählt sie von der eigenen Wohnung, einer weiteren Wohlfühloase. Liv umgibt sich gerne mit selbstgestrickten Dingen, natürlichen Stoffen wie Leinen und Wolle und mit schöner Keramik. „Es ist wichtig, dass man sich seine eigenen sicheren Orte und Höhlen baut, wo man geschützt ist vor den Reizen der Außenwelt.”
Liv ist queer und möchte im Alltag auf Pronomen, also auf Artikel vor dem Namen, die das Geschlecht einer Person bestimmen, verzichten. In gewissen Kontexten, wie in diesem Artikel, sind sie/ihr Pronomen für Liv in Ordnung. Liv wird hier daher auf eigene Entscheidung mit sie/ihr Pronomen beschrieben.