Das Innere nach außen kehren: Tessa
Dass Tessa autistisch ist, weiß dey schon seit Kindheitstagen. Eine offizielle Diagnose lehnt Tessa lange ab. Heute spricht dey öffentlich über deren Erfahrungen mit Autismus.
Fotos: Sabrina Haas, Yero Adugna Eticha
Tessa lernt viel und beinahe dauernd, aber nicht so, wie es in der Schule erwartet wird. Im Unterricht schaltet dey oft ab. Weil Tessa sich auf die Vorträge der Lehrer:innen nicht konzentrieren kann, bringt dey sich die Inhalte lieber selbst bei. Tessa schreibt gute Noten. Trotzdem scheint dey in den Augen einiger Lehrpersonen alles falsch zu machen. In Tessas Umfeld kommt, soweit dey weiß, niemand auf den Gedanken, dass Tessa autistisch ist.
Heute ist Tessa 35 Jahre alt und bezeichnet sich als Kulturmacher:in und Kulturwandler:in. Dey ist im Performance- und Filmbereich tätig, arbeitet an deren Doktorat und leitet das Projekt AfroPolitan Berlin. Dort arbeitet Tessa an Initiativen für die Schwarze und afrodiasporische Community in Berlin. Eine dieser Initiativen ist Black Spectrum – ein Gesprächskreis und Netzwerk für Schwarze neurodivergente Personen im deutschsprachigen Raum. Im Rahmen von regelmäßigen Austauschmöglichkeiten werden auch Themen wie die der Mehrfachdiskriminierung besprochen. Wegen mehrerer Faktoren diskriminiert zu werden, gehört auch zu Tessas Erfahrungswelt.
Tessa kämpft sich durch
Tessa sitzt hinter deren Schultisch und ist vertieft in einen Mathetest. Bei einer der Aufgaben hält dey an. Dey kann sich nicht mehr an den Rechenweg erinnern, den der Mathelehrer während des Unterrichts angewendet hat. Dey wendet einen anderen Rechenweg an, einen den dey nicht in der Schule gelernt hat. Zu dem richtigen Ergebnis gelangt Tessa letztendlich trotzdem. Statt Lob regnet es Vorwürfe. Der ungläubige Mathelehrer wirft demm vor, geschummelt zu haben. Er verstehe nicht, wie Tessa einen Lösungsweg finden konnte, den er seiner Klasse nie beigebracht hat. Tessa bekommt für die Matheaufgabe keine Punkte angerechnet. Der Lehrer mahnt dey, froh zu sein, keine größeren Probleme für das Schummeln bekommen zu haben. „Andere Kinder werden für richtige Lösungen gelobt und ich werde niedergemacht und angezweifelt”, denkt sich Tessa. „Mir werden komplett falsche Vorwürfe gemacht und ich habe gar keine Macht, dagegen vorzugehen.” Tessa ist autistisch, queer und das einzige als Mädchen gelesene, Schwarze Kind in der Klasse. Zudem besucht Tessa eine Schule in der viele Kinder überdurchschnittlich wohlhabende Eltern und konservative Ansichten haben.
Tessa wird in der Schule das Gefühl gegeben, dey sei hier Fehl am Platz, denn Tessas Mutter ist alleinerziehend und Tessa finanziell schlechter gestellt als der Durchschnitt der Mitschüler:innen. Demm ist zu dem Zeitpunkt noch nicht klar, dass das, was dey im Schulalltag erlebt, Diskriminierungen sind. Rückblickend kann Tessa auch nicht trennen, welche Zuschreibungen und Haltungen über deren Identität ausschlaggebend für die Diskriminierungen war. Tessa fängt früh an, das Verhalten der anderen Kinder zu beobachten und nachzuahmen, um den Vorstellungen deren Umfelds zu entsprechen. Dey unterdrückt die eigenen Instinkte und Gefühle. Wenn es demm nicht gut geht, nimmt dey trotzdem an schulischen Aktivitäten teil. Tessa präsentiert sich so, als ob es demm in diesen Situationen gut geht. In Tessas Innenleben spielt sich aber das Gegenteil ab. Tessa kämpft sich durch die Schule. „Ich dachte mir, ich muss in diesem Schulsystem funktionieren, um irgendwie zu überleben und um das zu machen, was ich danach im Leben machen will”, schildert dey. Tessa kommt zu einer für sich wichtigen Erkenntnis: „Dieses System sagt eigentlich nichts über mein wirkliches Können und über meinen wirklichen Wert aus.”
In die Schule geht Tessa nicht mehr gerne, die Lust am Lernen verliert dey aber nicht. Lange Zeit sieht deren Umfeld Tessas Zukunft in den Naturwissenschaften und in der Mathematik. Doch Tessa entscheidet sich für das Theatermachen – deren langjährige Passion, der dey schon seit der Kindheit nachgeht. Auch weil Tessa weg möchte von den starren Strukturen der Schule, trifft dey die Entscheidung, deren künstlerischem Interesse nachzugehen und beginnt ein Studium im Theaterbereich. Dafür zieht dey zuerst nach Berlin, dann nach London. Auch wenn der Kulturbereich nicht frei von vorgefertigten Regeln und diskriminierenden Strukturen ist, hat Tessa mehr Raum, dey selbst zu sein. „Meine Existenz war hier trotzdem keine Selbstverständlichkeit, aber in diesem Bereich konnte ich das Potenzial von mehr Freiheit für mich sehen.”, schildert Tessa. In dem Studium werden kreatives Denken und das Entwickeln von eigenen Herangehensweisen gefördert und gelobt. „Hier habe ich die Freude am kulturellen Arbeiten entdeckt.”
Offen darüber sprechen
Eines Tages fragt eine Psychotherapeutin, die Tessa wegen einer anderen Angelegenheit begleitet, ob dey schon mal über Autismus nachgedacht habe. Tatsächlich weiß Tessa eigentlich bereits seit deren 12. Lebensjahr, autistisch zu sein. Tessas Wissenshunger führt damals dazu, dass dey viele Informationen über Autismus sammelt und sich schließlich selbst darin wiedererkennt. „Ich wollte lange Zeit keine Diagnose haben. Ich habe immer wieder gesehen, dass über Autismus viel Schädliches behauptet wird. Ich hatte Angst vor negativen Vorurteilen.” Die Aussicht darauf, die passendste Therapie erhalten zu können, ist letztlich ausschlaggebend für Tessa, sich einer Autismus-Diagnostik zu unterziehen: Das Ergebnis bestätigt die Erwartung.
Einige Jahre später ist Tessa mit einer größeren Gruppe in Berlin unterwegs. Die Personen in dieser Gruppe sind noch wenig miteinander vertraut. Alle wollen in einen Nachtclub, nur Tessa möchte nicht mit, weil dey die Reize dort überfordern. „Das sind Hürden, die immer wieder kommen”, sagt Tessa. „Neurotypische Menschen nehmen solche Situationen vielleicht als ein ‘naja du lehnst uns ab und willst nicht sozialen Kontakt mit uns haben’ wahr” sagt Tessa. Dey ist in solchen Situationen auch Kommentare und Spott gewohnt. Tessa fängt irgendwann damit an, manchmal einfach ganz offen über Autismus zu sprechen und erklärt, warum dey bestimmte Aktivitäten nicht mitmachen kann, auch wenn dey findet, dass eine Erklärung eigentlich nicht notwendig sein sollte. Dey erklärt, dass die vielen Sinneseindrücke im Nachtclub physische Schmerzen auslösen können. Die Reaktionen der Anderen sind sehr unterschiedlich. Manche sind still oder sehen Tessa ungläubig an. Oft muss sich Tessa Vorurteile anhören: „Ja aber, du kannst ja nicht so autistisch sein. Du kannst ja reden”, sagen sie dann. Oder: „Du hast ja Freunde.” Einige reagieren aber auch mit Neugierde und Offenheit. Die wenigsten wissen schon über Autismus Bescheid. Heute macht Tessa bei Dingen, die demm schaden würden, nicht mehr mit. Statt Nachtclubs schlägt dey vor, in gemütliche Bars, Cafés oder spazieren zu gehen. Auch der Gruppenzwang wird dadurch gebrochen, denn meistens stellt sich heraus, dass auch andere dankbar für die Alternativvorschläge sind. “Und dann können alle einen schönen Abend haben”, betont Tessa.
Tessas enge Freund:innen reagieren nicht verwundert oder überrascht, als Tessa ihnen erzählt, dass dey autistisch ist. Viele von ihnen sind selbst neurodivergent und erhalten, so wie Tessa, erst im Erwachsenenalter eine offizielle Diagnose. Doch schon vor den Diagnosen finden sie zueinander. „Wir verstehen uns halt mit den Menschen, mit denen wir uns irgendwie gleichgesinnt fühlen”, sagt Tessa. Für die Freund:innen ist es selbstverständlich, dass Menschen unterschiedlich denken, lernen und fühlen. Hier muss sich Tessa nicht erklären.
Schluss mit der Anpassung
Das Recht, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, wird Tessa vor allem während der Covid-Pandemie bewusst. In dieser Zeit denkt dey oft darüber nach, dass auf einmal Vieles machbar ist. Es werden zum Beispiel persönliche Freiräume respektiert und mehr Anpassungen der Arbeitsweisen, wie selbstverständliches Home-Office, ohne abfällige Kommentare von anderen, ermöglicht. Einige der gesellschaftlichen Normen verändern sich. Tessa denkt über Normen nach, an die dey sich schon ein ganzes Leben lang anpassen muss, obwohl dey sich damit nicht wohlfühlt. „Ich habe darüber nachgedacht, dass ich eigentlich nie, selbst nachdem ich die Autismus-Diagnose hatte, verlangt habe, dass es mir in irgendeiner Weise recht gemacht wird. Ich war immer darauf gepolt, dass ich es allen Anderen recht machen muss.” Die Anpassungsmethoden, die Tessa vor allem während der Schulzeit verinnerlicht hat, versucht dey im Erwachsenenalter abzubauen. Dey muss sich selbst immer wieder daran erinnern, dass dey nicht mitmachen muss, nur weil alle das so machen. Tessa versucht mehr, in sich hineinzuhören und zu schauen, wie sich die Dinge, die dey tut, anfühlen.
Eigene Wege finden
Die Gründe, derentwegen Tessa nicht in das Schulsystem passte und das Schulsystem nicht zu Tessa, haben dazu geführt, dass dey schon sehr früh deren eigene Wege gegangen ist und sich heute abseits von traditionellen Berufsfeldern bewegt. An bestimmten Tagen arbeitet dey für AfroPolitan Berlin, an anderen widmet dey sich freiberuflichen Projekten im kulturellen Bereich oder schreibt an deren Dissertation oder Buchbeiträgen. Auch ein Theater und ein künstlerisches Kollektiv hat Tessa gegründet. “Strukturierte Abwechslung”, nennt Tessa deren berufliches Leben, in dem jeder Tag ein wenig anders aussieht. „Ich habe für mich geschaffen, was für mich funktioniert. Mit Tessas Öffentlichkeitsarbeit möchte dey Stereotypen entgegenwirken und am eigenen Beispiel auch die Vielfalt, Selbstverständlichkeit und Potenziale von autistischen Menschen sichtbar machen. Heute fühlt sich Tessa sehr wohl mit sich selbst und kann sich nicht vorstellen, anders zu sein. „Trotz Hürden und schlechter Erfahrungen, glaube ich inzwischen alles positiv daran zu finden, autistisch zu sein, weil es die Grundsubstanz dafür ist, wie ich als Mensch aufgebaut bin, wie ich denke und wie ich lebe.”
Tessa hat vor anderthalb Jahren einen Artikel über deren Erfahrungen geschrieben, der im RosaMag erschienen ist. Diesen kannst du hier lesen.
Die aktuellen Veranstaltungen von Black Spectrum findest du hier.
Derzeit entwickelt Tessa erstmals auch eine Performancearbeit zum Thema Autismus und Neurodiversität, mehr dazu findest du hier.
Weitere Infos zu Tessas Arbeit insgesamt findest du hier.
Tessa ist queer und nutzt alle Pronomen oder keine, besondere gerne auch Neopronomen. Für diesen Artikel hat Tessa sich entschieden, mit dey/demm/deren beschrieben zu werden.