Ein Igel zum ersten Schultag

Als Ediths leibliche Mutter stirbt, sieht sie sich mit einer Menge Verantwortung konfrontiert. Sie macht sich auf die Suche nach Antworten auf eine große Frage: Was sind wir unseren Eltern schuldig?

Text: Edith Ginz
Bilder:Edith Ginz,  ZIMT Magazin/Canva AI

Datum: 17. Juni 2024
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

„Ihre Mutter ist unerwartet verstorben.“ Diese E-Mail erreicht mich an einem Dienstag. Ich fühle mich wie im falschen Film. Sofort rufe ich den gesetzlichen Betreuer meiner leiblichen Mutter – den Absender der Nachricht – an und frage, was passiert sei. Man wisse es nicht genau. Ich weiß auch nicht, wie ich mich fühlen soll.

Einen Tag später werde ich wieder angerufen. Niemand von der Verwandtschaft sei bereit, Kosten und Organisation für die Beerdigung zu übernehmen. Diese Aufgabe steht nun mir zu. Dass ich seit sieben Jahren keinen Kontakt zu meiner leiblichen Mutter Sanna* hatte, spielt keine Rolle.

Wenn Kinder geboren werden, ist es die Aufgabe ihrer Eltern, sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Was aber passiert, wenn Eltern selbst bedürftig sind? Inwiefern ist es die Aufgabe von Kindern, sich um sie zu sorgen oder ihren Erwartungen gerecht zu werden? Vor allem, wenn Eltern den Erwartungen ihrer Kinder auch nicht gerecht werden? Diese Fragen beschäftigen mich seit den Anforderungen, die mit dem Tod meiner leiblichen Mutter unerwartet an mich gestellt werden. Ich beschließe, ihnen mit einer Recherche auf den Grund zu gehen.

In Österreich hat laut dem Verein Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE) jedes sechste Kind ein psychisch krankes Elternteil – 275.000 Kinder und Jugendliche sind demnach hierzulande betroffen. Zusätzlich pflegen laut Diakonie rund 42.700 Kinder in Österreich kranke Angehörige. Mit meinen Fragen rund um die Verantwortungsübernahme für Eltern stehe ich also nicht alleine da.

Person im Flugzeug am Fenster, schaut ängstlich

Als Edith die E-Mail von dem gesetzlichen Betreuer von Sanna erreicht, stellt sich ihre Welt auf den Kopf.

Als ich fünf Wochen alt war, wurde ich in einer Pflegefamilie untergebracht. Da meine leibliche Großmutter ihre Tochter nicht imstande sah, sich gut um mich zu kümmern, hatte sie aus Angst um mein Wohlergehen die Polizei eingeschaltet. Diese wiederum kontaktierte das Jugendamt und meine leibliche Mutter kam in die Psychiatrie. Ich sollte zu Sanna zurückkehren, sobald es ihr besser gehen würde, sagte das Jugendamt meiner Pflegefamilie. Es ging ihr nur nie besser. Von psychisch krank war die Rede. Was das genau bedeutete, wurde mir nicht erklärt. Heute lese ich, dass laut dem österreichischen Institut für Familienforschung Kinder psychisch kranker Eltern ein höheres Risiko besitzen, selbst psychisch zu erkranken.

Anfangs fuhr mich meine Pflegemama noch jede Woche in die Psychiatrie zu Sanna. Ein paar Monate später kam letztere in eine therapeutische Wohngruppe und die Treffen fanden bei meiner leiblichen Großmutter statt – bis Sanna einmal einen lautstarken Streit mit ihr hatte und sich meine Pflegemama nicht mehr wohl fühlte, sich mit ihr ohne Anwesenheit einer dritten Person vom Jugendamt zu treffen. Als meine leibliche Mutter dann auch noch eine Sozialarbeiterin schubste, weil sie mich auf ihren Arm genommen hatte, traf ich sie mit jedem Jahr immer seltener. Das war für mich in Ordnung, denn ich hatte als Kind große Angst vor ihr.

Trotzdem stand Sanna immer wieder unangemeldet vor meinem neuen Zuhause, brachte Geschenke, schrie gelegentlich herum und verfluchte meine Pflegefamilie einmal mit einem Kreuz. Daraufhin wurde gerichtlich ein Betretungs- und Annäherungsverbot für sie verhängt.

Person im Flugzeug am Fenster, schaut ängstlich

Es war nicht klar, ob Edith zurück zu ihrer leiblichen Mutter kommen würde.

An meinem ersten Schultag tauchte sie in meiner Schule auf, um mir einen Babyigel zu schenken. Sie hatte ihn in ein Plastiksackerl gepackt. Ich musste mit  meiner Pflegemama über die Pferdekoppeln hinter dem Pausenhof zum Auto fliehen, weil sie mich vor einer Auseinandersetzung mit ihr schützen wollte.

Doch Sanna erschien immer wieder vor dem Schulgelände. In jedem Lehrer:innenzimmer meiner Schullaufbahn hing von nun an ein Zettel mit der Bitte die Polizei zu rufen, sollte sie plötzlich auftauchen. Fuhr meine Pflegefamilie mit mir durch ihre Stadt, sollte ich mich unter die Autofenster legen, damit sie mich auf gar keinen Fall sehen könne. Ich hatte jahrelang den gleichen Alptraum: Ein schwarzer Van fährt auf den Pausenhof meiner Schule. Männer in schwarzen Uniformen zerren mich zu dem Wagen. Im Auto wartet meine leibliche Mutter und entführt mich.

Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, änderte sich die Lage. Sanna bekam so starke Medikamente, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Ich war gesetzlich verpflichtet, meine leibliche Mutter zu sehen. Wie oft, entscheidet das Jugendamt in solchen Fällen individuell. Zwei mal im Jahr spielten wir Memory oder gingen Minigolf spielen – immer in Begleitung meiner Pflegemama und einer Sozialarbeiterin. Ich hatte keine Angst mehr vor Sanna. Ich hatte Mitleid. Mir tat ihre Situation leid und gleichzeitig meine. Ich hasste es, mit ihr über all das nicht sprechen zu können, weil es kaum möglich war, mit ihr ein richtiges Gespräch zu führen und stattdessen passiv-aggressiv Spiele zu spielen. Ich merkte zunehmend, dass mir der Kontakt zu ihr psychisch nicht guttat. Vor und nach jedem Besuch weinte ich stets tagelang.

„Ich wusste, wollte ich mir selbst und meinem Leben die kleine Chance geben, glücklich zu sein, durfte sie kein Teil mehr davon sein.“

Mit 17 erlaubte mir das Jugendamt, den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter abzubrechen. Ich wusste, wollte ich mir selbst und meinem Leben die kleine Chance geben, glücklich zu sein, durfte sie kein Teil mehr davon sein. Das letzte Treffen lief wie immer sehr kühl. Memory spielen und Händeschütteln. Danach hatte ich mit großen Schuldgefühlen zu kämpfen und weinte viel im Schulunterricht.

„Es fällt niemandem leicht, Kontakt zu den Eltern abzubrechen“, sagt Psychotherapeut und Manager der Wiener Couch, einem Zentrum für Psychotherapie und Persönlichkeitsentwicklung, Christian Beer. Ich hatte das Gefühl egoistisch  und eine schlechte Tochter zu sein, weil ich nicht die Verantwortung übernehmen wollte, wie eine gute Tochter meiner Ansicht nach sollte. Gerade aus Selbstschutz, so Beer, sei es aber immer legitim, diese Verantwortung abzulehnen – beispielsweise wenn psychische Gewalt im Spiel ist. Aber auch aufgrund von unerfüllten Erwartungen an die Eltern würden Kinder die Beziehung beenden.

Wie entstehen Werte?

„Verantwortung sollte nichts mit Schuldgefühlen zu tun haben”, sagt Beer. Seiner Erklärung nach entwickle sich der Wunsch nach Verantwortung aus den eigenen Werten. Ungefähr im fünften bis sechsten Lebensjahr entstehe bei Kindern eine Hierarchie darüber, welche Werte ihnen wichtiger und welche weniger wichtig sind. Laut dem Werte- und Orientierungsleitfaden unter anderem vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, nach dem Elementarpädagog:innen die Werteerziehung in Kindergärten planen, seien Werte Vorstellungen, die man als erstrebenswert erachtet.  An ihnen orientiert sich unser Verhalten. Sie entstehen vor allem durch das, was nahestehende Erwachsene  vorleben. In meiner Pflegefamilie wurde Empathie gelebt. Je älter ich wurde, desto mehr Mitgefühl verspürte ich für Sanna statt meiner Angst.

Unter psychischen Belastungen gelinge der Perspektivenwechsel von Kindern, sich an Werten und nicht nur eigenen Gefühlen zu orientieren, erst ungefähr mit elf oder zwölf Jahren, so Beer. „Wenn man selbst mit eigenen Problemen beschäftigt ist, fällt es einem auch schwerer, sich in andere hineinzuversetzen.” Ich hingegen hatte das Gefühl, dass mich meine Erfahrungen schon früh für die psychische Gesundheit anderer sensibilisierten.

Bei schweren Entscheidungen, wie der meinen zum Kontaktabbruch zu Sanna, rät Christian Beer, die Abwägung  durch einen sogenannten Identitätsfilter laufen zu lassen: Man solle sich fragen, was man vom anderen erwartet und was man deshalb auch selbst von sich erwarten möchte. In meiner eigenen Situation erkläre ich mir das so: Da Sanna sich wegen ihrer Krankheit nicht um mich kümmern konnte, und meine kindlichen Bedürfnisse bei ihr auf der Strecke blieben, fühlte auch ich mich weniger dazu verpflichtet, für sie da zu sein. Ebenso habe ich in meiner Psychotherapie gelernt, Grenzen zu setzen und dass man Menschen verlassen darf, wenn sie einem nicht gut tun – Autonomie entwickelte sich zu einem meiner wichtigsten Werte.

Würde man nach den eigenen Werten handeln, steigere das den eigenen Selbstwert, also das Bild, das wir von uns selbst haben, sagt Beer. Würde man jedoch entgegen der eigenen Werte handeln, mindere das oft den Selbstwert und Gefühle von Schuld und Scham könnten sich einstellen. Für die Entwicklung des Selbstwerts ist laut dem Dorsch Lexikon für Psychologie neben solchen Erfahrungen auch die Genetik einer Person verantwortlich.

Neustart

Sanna war die erste Person in meinem Leben, von der ich mich verabschiedete. Danach hatte sich ein Schalter umgelegt. Stieß ich künftig auf Beziehungen, in denen ich mich nicht gut fühlte, schien es mir zunehmend leichter zu fallen, sie zu verlassen. Ich schien mir selbst mehr wert zu sein.

Ein paar Monate nach dem Kontaktabbruch zog ich nach Wien, einerseits um zu studieren, andererseits um in einem neuen Umfeld von vorne anzufangen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich sicher – sicher vor ihr. Abgesehen von den Gesprächen in meiner Therapie war meine leibliche Mutter die letzten Jahre kaum noch ein Thema für mich. Ein schlechtes Gewissen wegen dem Kontaktabbruch hatte ich nicht mehr.

Person im Flugzeug am Fenster, schaut ängstlich

Die Organisation der Beerdigung half Edith dabei, sich von ihrer Mutter zu verabschieden.

Mit der E-Mail über den Tod meiner leiblichen Mutter kam der Schock und die Trauer. Die Möglichkeit, irgendwann wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen, gibt es nun nicht mehr. Diese Tür ist für immer zu. Dann war ich wütend, dass ich von einer Sekunde auf die andere wieder mit meiner Vergangenheit konfrontiert wurde. Hatte ich nicht schon genug unter Sanna gelitten? Als wäre das noch nicht genug, war ich nun auch noch alleine für ihre Beerdigung und für die ganze Bürokratie zuständig, die mit dem Tod einer Person einhergeht.

Meine Therapeutin meinte zu mir, dass so schwierig die Situation auch ist, immerhin mein Gefühl der Wut durch die alleinige Organisation der Bestattung Raum bekommt. Ich glaube, dass Wut nämlich auch ein konstruktives Gefühl sein kann, solange man sie nicht an anderen Leuten auslässt – in meinem Fall schien sie mir Kraft zu geben. Irgendwo zwischen Telefonaten mit der Friedhofsverwaltung, meiner Pflegefamilie und der Bank halfen mir diese Tätigkeiten, mich von Sanna zu verabschieden. Damit verabschiedete ich mich auch von dem Gefühl, Sanna etwas schuldig zu sein.

Ich stehe vor Sannas  Grab. Auch wenn ich immer ein „leibliche“ vor den Begriff der Mutter geschoben habe, haben mir die letzten Wochen klar gemacht, dass ich trotz allem ihre Tochter bin. Ich habe ihre Augen und ihre Nase und hoffentlich etwas von ihrer Musikalität. Ich verzeihe uns. Wir haben beide unser Bestes gegeben. Und ich bin dankbar, dass sie mich auf ihre eigene Weise geliebt hat – auch wenn das bedeutete, einen Igel zum ersten Schultag geschenkt zu bekommen.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

 

Quellen

  • Europäische Union, Bundesverfassung, Bildungsrahmenplan & Schubarth. (2016). Werte leben, Werte bilden: Wertebildung im Kindergarten – Impulse für das pädagogische Handeln [Book]. https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/dokumente/11684094_74838063/8dc27056/Werte-%20und%20Orientierungsleitfaden.pdf
  • Home. (o. D.). #Visible. https://www.visible.co.at/
  • Österreichisches Institut für Familienforschung. (2022). Vertriebene Frauen aus der Ukraine in Österreich: Lebenszufriedenheit, Erwerbsbereitschaft und Unterstützungsbedarf. https://www.oif.ac.at/fileadmin/user_upload/p_oif/beziehungsweise/2022/_bzw_Okt_2022.pdf
  • Schütz, A. & Röhner, J. (2023). Selbstwert im Dorsch Lexikon der Psychologie. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/selbstwert
  • Unterstützung für pflegende Kinder & Jugendliche. (o. D.). Diakonie. https://www.diakonie.at/unsere-themen/alter-und-pflege/unterstuetzung-fuer-pflegende-kinder-jugendliche