Die Maske ablegen: Sara

Saras ADHS schien lange unsichtbar. Heute zelebriert sie ihre Neurodivergenz offen.

Text: Lisa Spreitzhofer

Datum: 23. Oktober 2025
Sarah im Burnout

Es fing auf einer Reise an. Eine neue Freundin, die bereits eine ADHS-Diagnose erhalten hatte, sprach Sara darauf an, nachdem diese von ihren ständig rasenden Gedanken erzählt hatte. Zuerst schob die damals 27-Jährige das Thema beiseite – doch das Gespräch blieb ihr in Erinnerung. Also begann Sara zu recherchieren, las Blogartikel und wissenschaftliche Texte zum Thema: „Ich hab mich doch sehr stark mit vielen Symptomen identifizieren können, aber mit einigen auch gar nicht, und deshalb hab ich’s wieder liegen gelassen und mich davon abgewandt.“

Anfangs sah sie keinen Grund, sich in eine Schublade zu stecken. Sie dachte, ihr würde sowieso keine:r glauben, weil sie ihr Leben ja im Griff habe. Und: „Ich hatte auch Vorurteile gegen ADHS. Ich dachte, die Antwort wäre zu leicht und dass ich ja nicht zu hundert Prozent und nicht ständig ADHS habe.“ Denn mit Themen wie Unpünktlichkeit, die sie mit ADHS assoziierte, hatte Sara noch nie ein Problem. Wie unterschiedlich sich Symptome individuell ausprägen können, war ihr damals noch nicht bewusst. Und so blieb das Thema erst einmal liegen – zweieinhalb Jahre lang.

Dann begann Sara eine Psychotherapie. In einer Sitzung erwähnte sie beiläufig das Gespräch über ADHS – und die Augen ihrer Therapeutin wurden plötzlich groß. Für Sara fühlte sich dieser Moment an wie das fehlende Puzzlestück. Kurz darauf folgte eine Diagnostik bei einer Psychologin.

Nach dem Burnout bleibt Sarahs Schreibtisch auch mal leer.

Die Diagnostik war für Sara augenöffnend.

In ihrer Vergangenheit empfand Sara Scham und Schuldgefühle. In ihrem Kopf hatte sich der Gedanke eingenistet, dass mit ihr etwas nicht stimme – und dieser wuchs mit der Zeit zu Selbstzweifeln heran. Immer wieder fragte sie sich, warum andere schneller lernen oder sich leichter in Gruppen zurechtfinden. „Je länger ADHS undiagnostiziert bleibt, desto länger internalisiert man diese Glaubenssätze, dass irgendwas nicht mit einem stimmt. Wenn das von klein auf beginnt, hat das natürlich auch Langzeitfolgen.“

Aufgeweckt war Sara schon als Kind, doch ansonsten blieb ihr ADHS durch angepasstes Verhalten unentdeckt: „Ich bin brav hinter der Schulbank gesessen und hab das brave Mädchen-Image lange erfüllt.“ Wie viele andere Mädchen versteckte sie unbewusst ihre Hyperaktivität, um gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen.

Mit der Diagnose erhielt Sara schließlich eine Erklärung für vieles, was zuvor unerklärlich schien: ihre Schwierigkeit, einer monotonen Angestelltentätigkeit nachzugehen, ihr starkes Bedürfnis nach Bewegung, ihr teilweise verzerrtes Zeitgefühl. Die Diagnose war für sie eine große Erleichterung – sie brachte ihr Glaubwürdigkeit, sich selbst gegenüber und auch im Außen: „Ich glaube, dass mir in meinem Umfeld viele Leute nicht geglaubt hätten, hätte ich die Diagnose nicht erhalten. Doch was ich erlebe und wie mein Alltag durch ADHS beeinflusst ist, geht in die Tiefe.“

Ihre Herausforderungen nun benennen zu können, hilft Sara, ihr Leben und sich selbst durch eine neue Linse zu betrachten: „Ich weiß jetzt, dass mit mir nichts falsch ist, sondern dass ich durch die ADHS einfach anders denke, andere Dinge brauche, anders auf Dinge reagiere – und das ist sehr heilsam.“ Saras Masken beginnen nach und nach zu fallen. Heute sucht sie keine Fehler mehr an sich, sondern versteht sich als neurodivergent.

Nach dem Burnout bleibt Sarahs Schreibtisch auch mal leer.

Weiblich gelesene Personen verstecken ADHS-Symptome besonders häufig.

„Die Möglichkeit, meine Maske abzulegen und bewusster durch den Alltag zu gehen, ist ein echter Gamechanger für mich.“ Besonders im Berufsleben spürt Sara den Unterschied: „Für mich wäre es das absolute Horrorszenario, nach meinem Job als Projektmanagerin wieder in einem Nine-to-five-Job zu arbeiten, in dem ich ständig auf demselben Energielevel sein muss. Das funktioniert für mich einfach nicht.“

Sie merkte das früh – durch inneren Widerstand, körperliche Erschöpfung und psychische Symptome. Also schuf sie sich Lebensbedingungen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Für sie bedeutete das, sich als Hochzeitssängerin und Freelancerin im Coaching-Bereich selbstständig zu machen. „Es gibt bei mir keinen typischen Tag – was sehr klassisch bei ADHS ist.“

Ein Fixpunkt in ihrem Alltag sind die Vormittage im Café. Dort nutzt sie bewusst ihren bei ADHS typischen Hyperfokus – eine besonders tiefe Konzentration bei bestimmten Tätigkeiten. Die Öffnungszeiten und die Routine vor Ort motivieren sie zusätzlich, in der begrenzten Zeit fokussiert zu bleiben und ihre Arbeit effizient zu erledigen. Wenn sie in wenigen Stunden Aufgaben für ihr Hochzeitssängerinnen-Business schafft, für die andere einen ganzen Tag brauchen würden, hilft ihr die bloße Anwesenheit anderer Menschen. Dieses Prinzip wird Body Doubling genannt.

Entgegen gängiger Vorurteile ist Sara trotz ADHS sehr gut strukturiert und organisiert. Doch auch ihr ADHS hat Schattenseiten: „Es ist für mich super schwierig, abzuschalten. Mein ganzes Nervensystem ist durch die Hyperaktivität ständig am Laufen.“

Sara beschreibt ihr ADHS gern als Hamster im Rad oder als kleines Männchen, das unermüdlich läuft und scheinbar hunderte Beine hat, weil es so schnell rennt. „Dann springt das kleine Mäxchen total herum und ich fange fünf verschiedene Projekte an einem Nachmittag an.“ So sortiert sie schnell einmal sämtliche Küchenschubladen neu, wäscht gleichzeitig Wäsche – und vergisst sie dann in der Maschine.

Besonders im Haushalt wird ihre Neurodivergenz immer wieder zur Herausforderung: „Weil ich es sehr gern ordentlich hab – und wenn’s mal ordentlich ist, ist es zwei Stunden später wieder unordentlich, weil ich wieder was Neues angefangen hab. Das ist sehr mühsam.“

Nach dem Burnout bleibt Sarahs Schreibtisch auch mal leer.

Sara macht viele Dinge gleichzeitig. Deshalb vergisst sie häufiger auch die Wäsche in der Maschine.

Doch es gibt Wege, wie sich Sara den Alltag erleichtert – etwa, indem sie unterstützende Tools integriert: Stimming-Spielzeuge, die ihre Hände beschäftigen und damit den Fokus fördern, oder Uhren mit verschiedenen Zeitintervallen, die ihr helfen, den Arbeitsfluss zu strukturieren, ohne zu lange an einer Aufgabe zu bleiben. „Ich webe verschiedene Tätigkeiten ineinander und versuche, mir dabei viel Freiraum zu lassen. So wenig Zwang wie möglich – und meiner Aufmerksamkeit da, wo sie gerade hinwill, nicht komplett freien Lauf lassen, aber die Zügel ein bisschen lockern.“

Zur Ruhe kommt sie in der Natur und bei Klangbädern, die sie auch selbst organisiert: „Dabei hab ich keine andere Wahl, als still dazuliegen und die wunderschönen Klänge zu empfangen. Das hilft mir, mein Nervensystem wieder daran zu erinnern, dass es auch einen Ruhemodus gibt.“ Zusätzlich hilft ihr Psychotherapie. Gegen Medikamente hat sich Sara bewusst entschieden: „Sie sind für viele Menschen lebensrettend und lebensnotwendig – aber ich wünsche mir, dass sie nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Therapie gesehen werden und dabei stärker auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird. Denn alle Betroffenen sind anders und bewegen sich auf einem weiten Spektrum.“

„Ich wünsche mir, dass ADHS mit mehr Neugier begegnet wird und dass sich Menschen einfach informieren.“ Vor allem ADHS bei Frauen ist für Sara, die einen Master in Gender Studies hat, ein Herzensthema: „Es bleibt so stark übersehen. Es würde viel verändern, wenn vor allem Frauen mehr bestärkt und ihre Andersartigkeit gefeiert und positiv bewertet würde.“

Sara löste einen Dominoeffekt aus – so wie die Diagnose ihr Klarheit geschenkt hat, geht es nun auch einigen Freund:innen. „Wir finden einander. Es braucht nur eine Person, wie den ersten Dominostein, der fällt. Wenn mehr Frauen Scham und Schuld loslassen können, ist das eine Befreiung für uns alle.“

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