Triggerwarnung

In diesem Text werden sexuelle Übergriffe beschrieben. Fühlst du dich heute gut genug dafür?

Wenn Sex zur Qual wird: Vaginismus

Weibliche Sexualität ist vielerorts nach wie vor ein großes Tabu. Betroffene von Vaginismus bleiben deshalb mit Einsamkeit, Schuld- und Schamgefühlen zurück.
Text: Patricia Kornfeld
Datum: 5. November 2025
Illustration: Männlich gelesene Figur umarmt weiblich gelesene Figur, sie drückt ihn mit der Hand weg
Triumphierend greift Beate* nach dem Kleiderbügel mit dem kirschroten Spitzennegligé. Das ist es – das perfekte Outfit für die erste Nacht mit Aaron*. Einige Tage später steht das Sackerl aus dem Dessous-Shop in seinem Badezimmer. Dorthin ist Beate nach dem gemeinsamen Essen schnell geflüchtet, um sich aufzubrezeln. Die 18-Jährige ist aufgeregt: Ihre Lieblingsfilme und -serien, alle Magazine und Bücher sind voll von Sex, auch in ihrem Freundeskreis ist „Vögeln“ gerade ein heißes Thema. Sie stellt es sich lebensverändernd vor und will auch endlich mitreden können. Trotz allem schwingt ein wenig Angst mit. Würde es beim ersten Mal wirklich so wehtun, wie alle erzählten? Ein letztes Mal prüft sie ihr Aussehen, zwinkert sich zu: „Wenn du morgen in diesen Spiegel schaust, bist du endlich keine Jungfrau mehr“, denkt sie.

Kurz darauf steht sie vor einem Scherbenhaufen. Aarons Penis konnte nicht eindringen, stechende und brennende Schmerzen verdrängten die Lust: „Es fühlte sich an, als wäre da eine Wand, eine unsichtbare Barriere. Sobald er eindringen wollte, tat es schrecklich weh, sodass wir abbrechen mussten.“ Beate versteht die Welt nicht mehr: „Zuerst dachten wir noch, wir hätten das falsche Loch erwischt“, schmunzelt sie. Doch es funktionierte nie – bis heute, sieben Jahre später.

Auch früher konnte sie keine Tampons verwenden, erinnert sich die 25-jährige Wienerin. Badeausflüge mit Freund:innen wurden dadurch kompliziert. „Ich dachte einfach, dass ich mich dumm anstelle und wollte niemanden um Hilfe bitten. Aber auf die Idee, dass Sex nicht funktionieren könnte, wäre ich niemals gekommen. Für mich war klar: Sex ist das Einfachste auf der Welt, das klappt bei jedem.“ Sie musste also selbst daran schuld sein: „Ich war davon überzeugt, dass entweder meine Vagina zu eng oder das Jungfernhäutchen zu dick ist. Damals hatte ich von der weiblichen Anatomie noch kein gutes Verständnis.“

Vaginis-WAS?

Aus Scham kann sie sich nicht überwinden, mit jemandem darüber zu sprechen. Irgendwann stößt Beate online auf ein Forum, in dem Schmerzen beim Geschlechtsverkehr diskutiert werden. Dass sie Vaginismus hat, erfährt sie allerdings erst viel später: Damit ist eine unwillkürliche Verspannung oder Verkrampfung der Vaginal- und Beckenbodenmuskulatur gemeint, die den Vaginaleingang scheinbar verschließt und das Einführen von Tampons, gynäkologischen Instrumenten, Fingern oder des Penis für Betroffene schmerzhaft oder unmöglich macht.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen
Was als Sinnbild für Lust gilt, kann für manche zur Schmerzquelle werden.
Wie viele Betroffene es gibt, ist nicht klar: „Die genauen Zahlen variieren, weil Vaginismus häufig nicht erkannt oder falsch eingeordnet wird“, sagt die klinische Sexologin und psychologische Beraterin Tamara Bailey. „Studien gehen davon aus, dass etwa fünf bis zehn Prozent aller Frauen im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Form betroffen sind. Die Dunkelziffer dürfte aber höher liegen“, erklärt die Wienerin. Vielen Frauen wird unterstellt, dass sie keine Lust auf Sexualität haben, oder sie suchen sich aus Scham oder Unwissenheit gar keine Hilfe, meint Tamara.

Vielen Frauen wird unterstellt, dass sie keine Lust auf Sex haben oder sie suchen sich aus Scham oder Unwissenheit keine Hilfe.

So war es auch bei Christina. Sie war über 15 Jahre von Vaginismus betroffen. Anvertraut hat sich die heute 40-Jährige lange Zeit niemandem – bloß ihr damaliger Partner wusste Bescheid. Der riet ihr jedoch, besser niemandem davon zu erzählen, um es später nicht zu bereuen. „Rückblickend denke ich, dass ein positiver Gedanke dahintersteckte. Dass er mich beschützen wollte und Sorge hatte, ich könnte mit negativen Reaktionen womöglich nicht umgehen.“ Im Endeffekt zog sie diese Aussage aber noch tiefer in die Einsamkeit: „Da war auch der Gedanke: Wenn ich damit einmal nach außen trete, kann ich es nie mehr zurücknehmen.“

Genau das hat sie 2019 trotzdem getan. Als Gründerin und Leiterin der Selbsthilfegruppe Invisible Wall organisierte sie regelmäßige Treffen und vernetzte Betroffene untereinander. Sie wollte mit ihren Erfahrungen Mut machen und Tipps geben: Christina hatte den Vaginismus bereits einige Jahre zuvor überwunden – unter anderem mit Sexualtherapie und Beckenbodentraining. Auch sogenannte Dilatoren kamen bei ihr zum Einsatz. Das sind spezielle Übungsstäbe, zum Beispiel aus Plastik oder Silikon, die Betroffene in entspannter Umgebung und im eigenen Tempo einführen. Sie sollen die Vagina daran gewöhnen, dass etwas eingeführt werden kann.

Einsames Leid

Früher hatte Christina nicht das Gefühl, dass es andere Menschen mit den gleichen Sorgen gibt. „Es war ein belastendes Thema, mit dem ich komplett auf mich gestellt war. Mir kam es wie ein isoliertes Gefängnis vor. Ich dachte, ich bin fehlerhaft, etwas stimmt mit mir nicht. Lichtblicke gab es keine.“ Für Christina war klar: Sex, bei dem etwas eingeführt wird, gehört für viele Paare dazu. Sie wusste nicht, dass sie beim Sex Stopp sagen darf, wenn es plötzlich unangenehm oder schmerzhaft wird. Von ihrem Unterleib fühlte sie sich abgeschnitten: „Ich hatte das Gefühl, dass mein Beckenboden nicht zu mir gehört oder mir nicht gehorcht.“ Dadurch empfand sie sich als blinde Passagierin, losgelöst vom eigenen Körper.

„Innerlich war ich zerrissen: Einerseits war ich froh, wenn mein Freund und ich es mit dem penetrativen Sex gar nicht probierten. Dann wusste ich, dass ich keine Schmerzen habe und nicht in Tränen ausbreche, weil ich nicht glaube, versagt zu haben. Andererseits war es für mich nicht vorstellbar, dass man so eine Beziehung führen kann.“ Obwohl ihr Partner nie derartiges äußerte und auch keinen Druck machte, belastete Christina die Angst, er könnte sie verlassen oder betrügen. Austausch mit Gleichgesinnten hätte ihr in dieser Zeit gutgetan, denkt die Wienerin heute. Deshalb ermöglicht sie diesen nun im Rahmen der Selbsthilfegruppe.

„Eine der grundlegendsten menschlichen Erfahrungen ist mir völlig fremd.“

Eine der Teilnehmerinnen heißt Emma*. Nach ihrem Umzug von Deutschland nach Wien schloss sie sich Invisible Wall an. „Ich fand es spannend zu hören, wie andere mit dem Vaginismus umgehen. Die Geschichten der Teilnehmer:innen haben mich bestärkt und mir gezeigt, dass es viele betrifft.“ Ihr hat dieser geschützte Raum lange gefehlt. Aus Scham traute sich Emma oft nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Auch ihr Selbstbewusstsein leidet unter dem Vaginismus: „Oft fühle ich mich so kindlich. Themen, die in Coming-of-Age-Filmen oft behandelt werden – wie das erste Mal –, waren kein Teil meiner Pubertät. Ich bin von etwas ausgeschlossen, woran alle anderen Menschen der Gesellschaft teilhaben.“ Als sie einer Freundin einmal von ihren frustrierenden Erlebnissen berichtete, antwortete die bloß: „Das hatte ich auch mal.“ Ernst genommen fühlte sich Emma nicht: „Natürlich kennen es viele Frauen, ab und zu Schmerzen beim Sex zu haben. Aber bei mir ist das etwas anderes. Eine der grundlegendsten menschlichen Erfahrungen ist mir völlig fremd.“

Mehr als Schmerzen beim Sex

Schmerzen beim Sex – fachsprachlich Dyspareunie genannt – können unterschiedlichste Ursachen haben, erklärt die Sexologin Tamara Bailey. Mit Vaginismus verwechseln kann man das aus ihrer Sicht aber nicht: Während Dyspareunie zum Beispiel durch ein hormonelles Ungleichgewicht oder Entzündungen entsteht, ist Vaginismus eine unbewusste muskuläre Reaktion. „Der Körper reagiert, bevor überhaupt eine Penetration stattfindet. Oft reicht schon die Vorstellung oder Erwartung, dass etwas eingeführt wird, um die Beckenbodenmuskulatur reflexartig und unwillkürlich anspannen zu lassen.“

Berührungen fühlen sich wie Nadeln an
Berührungen fühlen sich für Vaginismus-Betroffene häufig bereits wie Nadelstiche an – an Penetration ist gar nicht zu denken.

Diese Erfahrung machte auch Emma. Mit Anfang 20 merkt sie zum ersten Mal, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie verliebt sich in einen Mann, dann wird es intimer. Doch Emma zuckt bereits bei bloßer Berührung zurück – an ein Eindringen ist nicht zu denken. Anschließend lernt sie Paul* kennen; er wird ihr erster fester Freund. Durch die Beziehung und das wachsende Bedürfnis nach Intimität will sie herausfinden, was mit ihr los ist. Das Wort Vaginismus fällt bei der gynäkologischen Behandlung in einem Nebensatz. „Die Frauenärztin erwähnte nur, dass es möglicherweise etwas Psychisches ist.“ Eine Enttäuschung für Emma: „Ich hatte gehofft, dass sie irgendetwas Körperliches feststellt, das mit Medikamenten oder einer Operation geheilt werden kann.“

In ihrer stark religiösen Familie galt Sex als Tabuthema. Es war klar, dass Geschlechtsverkehr ausschließlich der Fortpflanzung dient – und das natürlich nur in der Ehe. An ihrer Vulva hatte sie lange kein Interesse, vor Sex eher Angst.

„Will ich das jetzt nicht, weil es mir nicht gefällt oder ich die Person nicht mag? Oder hat es mit Vaginismus zu tun – möchte ich mich nicht wieder erklären müssen oder Schmerzen haben?“

Mit gemischten Gefühlen blickt sie heute auf die Zeit, in der sie mit ihrem damaligen Partner Paul eine offene Beziehung führte. Beide hegten den Wunsch, auch mit anderen Menschen sexuelle Erfahrungen zu machen. Das war gleichzeitig ein Ansporn für Emma, sich verstärkt mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen: „Ich dachte, es sei etwas Erstrebenswertes, sexuell verfügbar zu sein – vielleicht auch gerade deshalb, weil ich es auf diese Art nicht kann und es dann besonders gerne wollte.“ Ihren Sexpartnern vom Vaginismus zu erzählen, war für sie eine Überwindung; die Reaktionen fielen aber verständnisvoll aus. Manchmal ging sie dabei über ihre persönlichen Grenzen, denkt sie: „Durch die fehlende Erfahrung in meiner Pubertät habe ich nicht richtig gelernt zu unterscheiden, was ich will und was ich denke, was von mir erwartet wird. In sexuellen Situationen weiß ich manchmal nicht: Will ich das jetzt nicht, weil es mir nicht gefällt oder ich die Person nicht mag? Oder hat es mit Vaginismus zu tun – möchte ich mich nicht wieder erklären müssen oder Schmerzen haben? Damals dachte ich, der Grund ist der Vaginismus, und davon wollte ich mich nicht einschränken lassen.“

Zusammenspiel aus Körper, Psyche und Nervensystem

Bei vielen Betroffenen, die Tamara in ihrer Praxis Sinnen-Raum in Wien-Alsergrund im Rahmen einer Sexualtherapie behandelt, entsteht Vaginismus durch ein Zusammenspiel aus körperlichen, psychologischen und emotionalen Ursachen. Auslöser sind zum Beispiel die Angst vor Schmerz, ein großes Kontrollbedürfnis, Unwissenheit über den eigenen Körper oder ein schambehafteter Umgang mit Sexualität in der Erziehung. Auch traumatische Erlebnisse können Vaginismus verursachen – alles, was das Nervensystem in einen dauerhaften Alarmzustand versetzt.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen
Andrea Kottmel (l.) und Tamara Bailey (r.) klären in ihrer Arbeit über den oftmals unbekannten Vaginismus auf.

In ihrer Praxis sieht sie besonders oft, dass Frauen gelernt haben, sich im eigenen Körper „abzuschalten“, wie sie sagt – um unangenehme Gefühle nicht zu spüren: „Stellvertretend reagiert dann der Körper, zum Beispiel mit Rückzug und Schmerz.“ Oder mit Anspannung: „Wenn man sich seit der Kindheit immer wieder auf die gleiche Weise selbst befriedigt – also zum Beispiel mit viel Druck, gepresster Atmung und geschlossenen Beinen –, dann führt das zu einer hohen Anspannung in der Beckenbodenmuskulatur.“

Laut Tamara ist Vaginismus eine Schutzreaktion, die den Körper vor Schmerz oder Verletzung bewahren soll. „Ich spreche in meiner Arbeit über Vaginismus weniger als über eine sexuelle Funktionsstörung, sondern eher als über einen körpereigenen Schutzmechanismus, der sich verselbstständigt hat.“ Auch der häufig verwendete Begriff Scheidenkrampf greift ihrer Meinung nach zu kurz, weil er nur das körperliche Symptom – also die Muskelanspannung – beschreibt: „Vaginismus ist immer ein Zusammenspiel aus Körper, Psyche und Nervensystem.“

Was ist ‚richtiger Sex‘?

Laura* stand früher auf Kriegsfuß mit ihrem Körper: „Ich hatte durch den Vaginismus ein extrem schlechtes Selbstwertgefühl und empfand mir gegenüber so viel Hass.“ Beim Sex mit ihrem damaligen Freund Gustav* brach sie in Tränen aus: „Ich hatte im Kopf, dass ich gerne ‚richtigen‘ Sex hätte und ihm das nicht bieten kann.“ An diesen Selbstzweifeln ist die Beziehung mitunter zerbrochen. Laura war damals überzeugt: Sex ist Penis in Vagina.

„Sex ist nicht unbedingt Penetration.“

Diese Vorstellung ist weit verbreitet, weiß die Sexologin Tamara Bailey: „Unsere Kultur zeigt Sexualität meist als etwas, das Penetration-zentriert ist. Filme, Werbung und die Pornoindustrie vermitteln, dass ‚richtiger Sex‘ nur dann stattfindet, wenn etwas eingeführt wird. Das beeinflusst unbewusst das Selbstbild vieler Menschen.“ Weil Sexualität in der Gesellschaft oft mit Leistung, Attraktivität und Normalität in Verbindung gebracht wird, machen sich Betroffene aus Tamaras Sicht häufig Selbstvorwürfe, wenn das nicht gelingt. Sie hätten die Vorstellung verinnerlicht, ihrem Partner penetrativen Sex bieten zu müssen – auch wenn er das gar nicht einfordert. Das könne die Entstehung psychischer Erkrankungen wie Angstzuständen oder Depressionen begünstigen.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen
Die Vorstellung von „richtigem Sex“ greift zu kurz: Intimität und andere Formen von Sexualität können erfüllender sein als eine Penetration.

In ihrer Arbeit möchte sie Frauen und Paare dazu ermutigen, ihr Verständnis von Sexualität zu erweitern: „Ein erfülltes Sexualleben hängt nicht von Penetration ab. Sex ist keine Technik, sondern eine Begegnung zwischen zwei Menschen. Viele Frauen entdecken während des Heilungswegs neue Formen von Intimität, die oft sogar intensiver und verbindender sind als zuvor.“

Fehlende Lust ist nicht das Problem

Darstellungen in den Medien beeinflussten auch Laura: „Ich habe mich nicht als richtige Frau gefühlt. Ich wusste nicht, wie ich jemals Kinder bekommen soll. Was es noch viel schlimmer machte, war dieser innere Widerspruch: Ich hatte solche Lust auf penetrativen Sex, aber mein Körper hat einfach zugemacht. Das war irritierend.“

Oft log sie – auch wenn ihr das total gegen den Strich ging. „Ich wurde häufig gefragt, wie mein Partner und ich verhüten. Aber das mussten wir ja nicht. Ich sagte immer: ‚Mit Kondom‘, und hoffte, die Sache ist damit erledigt. Das war für mich eine wichtige Notlüge.“ Als ihr nächster Partner Henrik* mit seinen Freunden über sein Sexleben sprach und ihnen – ohne Lauras Wissen – erzählte, dass Penetration bisher nicht geklappt hatte, war das für sie ein Weltuntergang: „Ich bekam richtige Ohnmachtsgefühle, mir wurde heiß und schlecht. Das war so ein Kontrollverlust. Im Nachhinein finde ich es heftig, wie schlimm es für mich war, dass irgendjemand davon wissen könnte.“

Sie besuchte einen Workshop, bei dem sie ihre Vulva fotografieren und anschließend zeichnen sollte. Dadurch änderte sich ihr Blick auf Sexualität.

Die Lage änderte sich, als sie zum ersten Mal alleine verreiste und darauf angewiesen war, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Endlich kreisten die quälenden Gedanken an den Vaginismus nicht mehr ständig in ihrem Kopf. Laura fühlte sich so befreit wie schon lange nicht. Nach ihrer Rückkehr besuchte sie einen Workshop, bei dem sie ihre Vulva fotografieren und anschließend zeichnen sollte. Zum ersten Mal sah sie ihre Vulva aus einer ganz anderen Perspektive – und gewann einen liebevollen Blick auf ihren Körper. Dadurch änderte sich schließlich auch ihr Blick auf Sexualität: „Sex ist nicht unbedingt Penetration.“

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen
Der heutige Blick auf Sexualität ist seit jeher von männlichen Vorstellungen geprägt.

Weibliche vs. männliche Sexualität

Blättert man in Österreichs Geschichte ein paar Seiten zurück, entdeckt man, dass die sogenannte eheliche Pflicht bis 1975 im österreichischen Gesetz stand. Die Verweigerung des Geschlechtsverkehrs war ein potenzieller Scheidungsgrund. Erst seit 1989 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Historisch gesehen ist das noch nicht lange her, meint Tamara: „Davor war das in der Gesellschaft normal. Viele Menschen haben das in sich abgespeichert oder wurden so erzogen.“

Bis 1975 stand Sex als eheliche Pflicht im österreichischen Gesetz.

Dass Vaginismus immer noch ein so großes Tabu in der Gesellschaft ist, hängt Tamaras Meinung nach damit zusammen, dass weibliche Sexualität in der Medizingeschichte lange Zeit wenig erforscht wurde – und noch immer oft auf Reproduktion reduziert wird. „Männliche Sexualprobleme wie Erektionsstörungen hingegen werden offener thematisiert, weil sie in einer patriarchal geprägten Gesellschaft den männlichen Leistungsdruck betreffen – etwas, das als gesellschaftlich relevant gilt.“ Weibliche Sexualität dagegen werde häufig noch als etwas Privates oder Mysteriöses angesehen.

Dieses Unwissen zieht weite Kreise. Mit 18 Jahren suchte Laura aufgrund ihrer Beschwerden eine Gynäkologin auf. „Ich sagte ihr, dass Eindringen bei mir nicht möglich ist. Daraufhin hat sie einfach die Behandlung durchgeführt. Das war eine der schmerzhaftesten Erfahrungen in meinem ganzen Leben. Ich habe danach wochenlang geweint.“ Sie erinnert sich noch ganz genau daran, wie die Ärztin einen Abstrich machte – und selbst dann nicht stoppte, als Laura schrie wie am Spieß. Im Gegenteil: Die Gynäkologin brüllte zurück. „‚Ich mach doch gar nichts!‘, rief sie immer wieder“, erklärt Laura. Während des Ultraschalls war sie bereits vor Schmerzen wie betäubt. Die heute 27-Jährige ist sich sicher: „Durch diese Behandlung wurde mein Körper noch einmal darin bestätigt: Eindringen bedeutet Schmerzen.“ Die Folgen der gynäkologischen Untersuchung beeinflussten sie auch in ihrem Alltag stark. Wenn sie lange, schmale Gegenstände sah, die sie an die Untersuchungsinstrumente erinnerten, löste das noch lange später Ekel in ihr aus.

„Das war eine der schmerzhaftesten Erfahrungen in meinem ganzen Leben. Ich habe danach wochenlang geweint.“

Auch Thelma* musste in einer Praxis eine ähnliche Erfahrung machen. Bei ihr wurden HPV-Viren festgestellt, weshalb sie 2013 eine Wahlärztin aufsuchte. Diese führte eine sogenannte Konisation durch – eine Behandlungsmethode, bei der verändertes Gewebe am Gebärmutterhals entfernt wird. Bei Thelma erfolgte das mit einer erhitzten Drahtschlinge. Die örtliche Betäubung wirkte allerdings nicht: „Ich hatte während des Eingriffs so starke Schmerzen, dass ich mich selbst von außen gesehen habe.“ Anschließend hatte sie sechs Wochen lang mit Beschwerden und Infektionen zu kämpfen, musste Antibiotika einnehmen und konnte weder sitzen noch duschen. Auch nach dem Abheilen der inneren Wunden tat Berührung im Intimbereich weh. „Hinzu kam, dass ich glaubte, nie wieder Sex haben zu können. Ich war damals 23 Jahre alt, und das war sehr schlimm für mich.“

Grafik: zwei Schlüssel verbunden durch einen Ring
Behandlungen, die vaginal durchgeführt werden müssen, können für Betroffene äußerst schmerzhafte und traumatisierende Erfahrungen werden.

Anders als Laura hatte Thelma vor diesem Eingriff keinerlei Probleme mit Penetration. Wenn Vaginismus sich erst im Laufe des Lebens entwickelt und nicht von Anfang an – also primär – besteht, spricht man von sekundärem Vaginismus. Acht Jahre lang litt Thelma an den Folgen der Behandlung, blieb länger als gewollt in einer freud- und leidenschaftslosen Beziehung: „Ich dachte, kein anderer würde mich wollen.“ In der schlimmsten Phase konnte sie selbst Kuss- oder Sexszenen in Filmen nicht ertragen, weil sie ihre eigenen Sorgen mit dem Thema so sehr belasteten.

Geschichten wie diese hörte auch Christina bei den Treffen der Selbsthilfegruppe regelmäßig. „Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Gerade Gynäkolog:innen sollten doch ein sicheres Umfeld bieten – das ist für Betroffene die erste Anlaufstelle. Wenn sie dort nicht richtig aufgefangen werden, ist das ein riesiges Problem.“ Sie wünscht sich in erster Linie mehr Empathie und dass Betroffene ernst genommen werden. Immer noch kursieren „Tipps“, man müsse sich bloß entspannen, Alkohol trinken oder mehr Gleitgel verwenden.

Auch in der medizinischen Ausbildung soll dem Thema ihrer Meinung nach mehr Platz eingeräumt werden. Auf Nachfrage bei der Medizinischen Universität Wien wird Vaginismus im Humanmedizin-Studium aktuell in vier Vorlesungen des Pflichtcurriculums behandelt. Zumindest seit dem Studienjahr 2009/10 ist Vaginismus Teil des Lehrplans.

„Sobald Betroffene verstehen, dass sie nichts erzwingen müssen und ihr Körper in Wahrheit versucht, sie zu schützen, entsteht oft zum ersten Mal Mitgefühl statt Scham – und genau dort beginnt Heilung.“

Der Wiener Gynäkologin Andrea Kottmel fiel auf einem medizinischen Kongress 2006 auf, dass die männliche Sexualmedizin wesentlich präsenter war als jene Themen, die Frauen betreffen. In ihrer Praxis in Wien-Simmering betreut sie Frauen und Paare rund um Sexualmedizin und Vulvaerkrankungen. „Es ist so viel Leid mit diesem Thema verbunden. Patientinnen schämen sich oft so sehr, weil sie denken, sie sind die Einzigen mit diesem Problem. Da braucht es in erster Linie einfach dieses Darüberreden.“

Andrea Kottmel möchte, dass sich ihre Patientinnen wohlfühlen, und nimmt sich ausreichend Zeit für die Behandlung. „Ich glaube, es spielt eine große Rolle, dass Patientinnen zu jedem einzelnen Schritt Nein sagen dürfen – auch wenn sie vorher zugestimmt haben. Außerdem ist die Zeit, die man in den Beziehungsaufbau investiert, vielleicht sogar wichtiger als die Zeit für die Untersuchung selbst.“ Ihr ist es wichtig, Betroffene nicht unter Druck zu setzen. Die Verringerung von Leistungsdruck hält auch Tamara Bailey für hilfreich: „Sobald Betroffene verstehen, dass sie nichts erzwingen müssen und ihr Körper in Wahrheit versucht, sie zu schützen, entsteht oft zum ersten Mal Mitgefühl statt Scham – und genau dort beginnt Heilung.“

Die Freiheit, zu entscheiden

Wie lange es dauert, den Vaginismus zu überwinden, ist Andrea Kottmels Erfahrung nach „wahnsinnig unterschiedlich“. Manche machen binnen weniger Termine große Fortschritte, bei anderen erstreckt sich die Heilung über Jahre. „Wenn das Hauptproblem wenig Erfahrung mit dem eigenen Körper ist, dann geht das oft sehr problemlos – das kann man nachlernen.“ Sind tief verankerte Ängste, etwa vor einer Schwangerschaft, die Ursache, sei die Behandlung meist langwieriger.

Höchst individuell ist auch, welche Methode am besten hilft. Bei Emma blieb eine Sexualtherapie erfolglos. Dank Physiotherapie und dem Training mit den Übungsstäben funktionieren aber mittlerweile gynäkologische Untersuchungen und das Einführen von Tampons schmerzlos – dieses Stückchen Normalität hat sich Emma bereits erkämpft.

„Vielleicht will ich Penetration gar nicht, wenn es erst einmal klappt. Ich würde es einfach gerne können, um mich frei zu fühlen.“

Ob Emma Penetration wirklich für erfüllten Sex braucht, weiß sie nicht. Für sie ist es bloß ein Aspekt im Spektrum der Sexualität – außerdem komme lesbischer Sex beispielsweise auch ohne Penetration aus. Die Entscheidungsfreiheit ist ihr wichtig: „Mein Ziel ist es nicht, möglichst schnell penetrativen Sex haben zu können, sondern einfach ein entspanntes Sexleben zu führen. Vielleicht will ich es gar nicht, wenn es erst einmal klappt. Ich würde es einfach gerne können, um mich frei zu fühlen.“

Loslassen üben

Laura hat sich nach ihren eigenen Erfahrungen der Aufklärung verschrieben. Als Sexualpädagogin erzählt sie an Schulen über all die Dinge, die aus ihrer Sicht im Sexualkundeunterricht verabsäumt werden. Außerdem entkräftet sie jene Mythen, die auch sie damals verunsicherten. „Ich hatte einfach diese massive Angst, weil immer erzählt wird, dass das erste Mal wehtut und das Jungfernhäutchen reißt. Mittlerweile weiß ich, dass das alles kompletter Bullshit ist – das erste Mal soll nicht wehtun, und das Jungfernhäutchen existiert gar nicht.“

Sie überwand den Vaginismus mit ihrem aktuellen Partner Julian*. Während sie miteinander schliefen, führte er Dilatoren bei ihr ein. „Ich hatte riesige Angst vor diesem Schmerz, den ich damals erlebt habe. Ich wusste: Wenn er nicht sensibel genug ist, dann tut es weh.“ Doch Laura überwand ihre Angst und übte sich darin, Kontrolle abzugeben – das machte sich bezahlt.

Grafik: zwei Schlüssel verbunden durch einen Ring
In einer verständnisvollen Partnerschaft können auch Alternativen zum Sex zu einer erfüllten Sexualität führen.

Bei Christina waren es neben der Therapie besonders die Gespräche mit Freund:innen, die ihr bei der Bewältigung halfen. Dass sie von ihnen so viel Zuspruch bekam, empfand sie als befreiend: „Es war, als hätte mir jemand einen schweren Rucksack von den Schultern genommen, den ich so viele Jahre allein mit mir herumgetragen habe.“ Sie machte ihren einstigen größten Feind zum Freund – und arbeitet nun mit jener Methode, die ihr damals selbst geholfen hatte: als Beckenbodentrainerin. Die Leitung der Selbsthilfegruppe hat inzwischen eine andere Person übernommen. Christina hat mit ihrem neuen Job alle Hände voll zu tun.

Beate hingegen steht noch ganz am Anfang ihrer Reise: „Ich weiß, dass es mir helfen würde, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber ich will nicht, dass Vaginismus zu meiner Identität wird. Ich sehe mich selbst als lustvolle und lebensfrohe Person – ich möchte mich nicht tagtäglich mit so einem zermürbenden Problem befassen. Noch dazu, wenn überhaupt nicht klar ist, wann ich es lösen kann.“ Sie macht sich vor allem Vorwürfe, dass sie den Vaginismus nicht schon längst in den Griff bekommen hat. „Seit sieben Jahren habe ich dieses Problem immer im Hinterkopf. Ich will es endlich los sein, aber bin wie blockiert.“

Mit Aaron hat sie einen sehr verständnisvollen und geduldigen Partner an ihrer Seite, der sie zu nichts drängt. Beate will penetrativen Sex aber unbedingt erleben – für sich selbst, aber auch, weil sie denkt, dass diese Erfahrung sie als Paar noch näher zusammenbringen würde. „Wir haben es seit Jahren nicht mehr versucht.“ Doch sie ist zuversichtlich: Beate möchte so bald wie möglich eine Therapie machen und dem Grund für ihre innere Blockade auf die Spur kommen. „Die Dilatoren sind schon bestellt.“

* Namen von der Redaktion geändert

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