„Das Pferd von hinten aufzäumen” oder: Warum es so schwer ist, die richtige Therapie zu finden

Der Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner erzählt im Gespräch mit ZIMT, welche Rolle Klassismus bei psychischen Erkrankungen spielt, wie Armut und Sucht zusammenhängen und warum man so häufig an die falschen Therapeut:innen gerät.
Text: Karina Grünauer
Foto/Collage: Karina Grünauer
Datum: 3. Februar 2023
Collage Ewald Lochner, PSD Wien, Credits: Karina Grünauer
ZIMT: Herr Lochner, Sie sind Koordinator für Psychiatrie, Sucht und Drogenfragen. Wie hängen Armut, Sucht und psychische Erkrankungen zusammen?

Ewald Lochner: Armut erzeugt an sich schon Druck bei den Betroffenen. Das bedeutet, den Alltag zu bewältigen, ist für diese Menschen wesentlich schwieriger als für Besserverdienende. Das kann sich in Banalitäten wie beim Einkaufen zeigen: Wenn man bei jedem Einkauf genau rechnen muss, weil es sonst für die Monatsmiete nicht mehr reicht oder für die Kinder zu wenig Essen da ist. Allein das erzeugt einen massiven Druck bei den Menschen. Hinzu kommt, dass Armut nichts ist, was punktuell auftritt und nach ein oder zwei Monaten wieder vorbei ist, sondern dass es ein Dauerzustand ist. Das bedeutet, dass dieser permanente Druck eine psychische Belastung ist, und dass diese psychische Belastung irgendwann einmal auch zu einer Krankheit führen kann. Aber auch mit einer diagnostizierten Erkrankung hört die Armut nicht auf.

ZIMT: Sie haben einmal gesagt, der Zusammenhang zwischen finanzieller Armut und psychischer Gesundheit ist ein bisschen ein Henne-Ei-Problem ist…

Lochner: Gemeint ist damit, dass wir wissen, dass wenig Einkommen und eine damit einhergehende soziale Isolation psychische Erkrankungen massiv fördern. Für Menschen, die sich im unteren Einkommensdrittel bewegen, ist die soziale Teilhabe viel schwieriger, als es für andere Menschen ist. Jetzt wissen wir alle, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und dass wir sehr viele unserer Grundbedürfnisse darüber befriedigen, dass wir soziale Kontakte haben. Wenn uns das genommen wird, erzeugt das nicht nur Druck, sondern tatsächlich auch Erkrankung. Interessant ist, dass Armut und der Kontext somatischer Erkrankungen ein ganz klarer ist. Es wurde über Jahrzehnte hinweg erhoben, dass Menschen, die wenig Geld haben und arm sind, früher sterben, weitaus kränker sind, mehr chronische Erkrankungen haben. Der Zusammenhang zu psychischen Erkrankungen ist also kein Aha-Moment, aber es ist mit Sicherheit noch nicht in aller Munde. Wir wissen aber auch, dass selbst Menschen in einer Lebensphase, in der sie gut verdienen und sozial abgesichert sind, ab dem Moment, wo eine länger andauernde psychische Erkrankung auftritt, einen sozialen Abstieg erleben und in die Armut abrutschen. Das heißt, das kann in beide Richtungen gehen.

ZIMT: Eine psychische Erkrankung kann also für jede:n zum finanziellen Problem werden?

Lochner: Wenn man sich beispielsweise Arbeitslosenstatistiken anschaut und von Langzeitbeschäftigungslosen oder Langzeitarbeitslosen spricht, sollte man in jedem Fall bedenken, wie viele chronisch kranke und chronisch psychisch kranke Menschen darunter vorkommen. Das hat schon sehr viel damit zu tun, dass bei einer schweren Depression oder einer anderen schweren psychischen Erkrankung das Aus-dem-Haus-gehen ein Ding der Unmöglichkeit darstellt. Wenn ich es nicht schaffe, aus dem Haus zu gehen, dann werde ich auch nicht arbeiten gehen können. In der Folge löst das natürlich irgendwann eine finanzielle Problematik aus, auch wenn ich vor der psychischen Erkrankung gut situiert und sozial gut gestellt war.

ZIMT: Was hat das eigentlich mit Klassismus zu tun?

Lochner: Na ja, wenn ich aus einer Familie komme, wo nach Bezahlen der Monatsmiete schon wenig zu essen da war und möglicherweise auch der Bildungszugang eingeschränkt war, dann wird wahrscheinlich Armut vererbt. Mit der nächsten Generation wird dann voraussichtlich auch die Krankheit weitervererbt, weil das Kranksein auch durch Beobachten und soziales Lernen weitergegeben wird. Auch Kinder von Menschen, die somatisch krank sind, sind meistens kränker als Kinder von Menschen, die das nicht sind. Bei einer psychischen Erkrankung ist das sehr ähnlich. Das bedeutet also für die nächste Generation, dass es wieder schwer ist, ein höheres Einkommen zu erzielen und damit aus dieser Armutsspirale rauszukommen, wodurch das Risiko wieder steigt, entweder somatisch, psychisch oder an beidem zu erkranken, und so weiter. Von Armut Betroffene müssen nicht nur gegen die Armut selbst kämpfen, die Gesellschaft tut oftmals so, als sei die Situation selbst verschuldet.

ZIMT: Häufig scheitert der Erfolg von Therapie daran, dass Therapeut:innen und Klient:innen nicht zusammenpassen. Was ist entscheidend, damit Therapie gelingt?

Lochner: Da muss man meiner Meinung nach einen Schritt vorher ansetzen. Bei jeder anderen Erkrankung stellt am Anfang ein Arzt oder eine Ärztin bei einer Erkrankung eine Diagnose. Aus der Diagnose empfiehlt sich dann eine Therapie. Das ist das kleine Einmaleins der Medizin. So wäre das auch bei psychischen Erkrankungen. Nur bei der psychischen Erkrankung geht man gerade den umgekehrten Weg. Man fängt von hinten an. Man sagt, Betroffene können sich selbst gleich die Therapie aussuchen und somit auch gleich die Person, die diese Therapie durchführt.

ZIMT: Das ist natürlich schwierig, wenn man sich nicht auskennt…

Lochner: Es würde niemandem einfallen, bei Bluthochdruck als erstes eine:n Diät-Assistent:in aufzusuchen oder wenn ich mich am Bein verletzt habe, als erstes zum Physiotherapeuten oder der Physiotherapeutin zu gehen. Man will immer als erstes zu einem Arzt oder Ärztin gehen. Das ist das Prinzip von Diagnose-Therapie. Wenn die Ärztin dann zu mir sagt: Der Bluthochdruck ist aufgrund einer schlechten Ernährungssouveränität oder die Schmerzen im Bein kommen von einer schlechten Haltung, dann braucht es eben eine Beratung oder eine Physiotherapie.

ZIMT: So kennt man es jedenfalls bei physischen Erkrankungen.

Lochner: Genauso sollte es bei psychischen auch ablaufen: Ich gehe zu einer Ärztin, einer Fachärztin, einer Psychiaterin, dort wird eine Diagnose gestellt und dann gibt es Therapie oder Empfehlungen. Kann sein, dass ich auch Medikamente verschrieben bekomme. Die sind oft ein wichtiger Teil der Behandlung. Das ist kein Teufelszeug, wie es von manchen behauptet wird, sondern ebenso wichtig wie jedes andere Medikament gegen Bluthochdruck oder Diabetes.

ZIMT: Viele scheuen sich davor aufgrund der Nebenwirkungen.

Lochner: Natürlich gibt es Wirkung und Nebenwirkungen. Da muss man abwägen, ob die Wirkung höher ist als die Nebenwirkungen, wie bei jedem anderen Medikament auch. Den meisten Menschen helfen sie, deswegen werden sie eingesetzt. Aber es gibt natürlich die Möglichkeit, Psychotherapie mit oder ohne medikamentöse Begleitung zu empfehlen.

ZIMT: Wo wir wieder bei der Psychotherapie sind. Was macht die Wahl der richtigen Therapie so schwierig?

Lochner: Es gibt in Österreich rund 25 Therapieschulen, die zugelassen sind und von der Kasse bezahlt werden. In Deutschland sind es vier und das hat einen Sinn, weil diese vier wissenschaftlich erprobt sind und man weiß, bei welchen Patient:innen und welchen Krankheitsbildern welche Therapieform indiziert ist und welche Wirkung eintreten kann. Das ist bei uns in Österreich Kraut und Rüben und das Pferd von hinten aufgezäumt.

ZIMT: Was könnte man tun, um die Situation zu verbessern?

Lochner: Hier aufzuräumen wäre ein ganz wichtiger Schritt in der Gesundheitsversorgung. Das Überangebot hat für niemanden einen Mehrwert. Woher soll die:der Betroffene wissen, welche Therapieform die richtige für sie:ihn ist. Das ist dasselbe, wie wenn man Diabetiker:innen fragt: Welche Form von Insulin wäre das Richtige? Das können Patient:innen nicht wissen und das ist auch nicht Aufgabe der Patient:innen. Da ist es dann kein Wunder, dass es oft zum Mismatch kommt, Frustration aufkommt, Therapien abgebrochen werden. Da wird unheimlich viel Geld verbrannt für Dinge, die wesentlich besser eingesetzt werden könnten.

Die Psychosozialen Dienste Wien bieten Informationen und Hilfestellung in akuten psychischen Notsituationen.

Falls du als Betroffene:r oder Angehörige:r Informationen zu einer psychischen Erkrankung brauchst, erreichst du die PsychoSozialen Informationen (PSI) 24 Stunden telefonisch unter 01 4000 53060.

Solltest du dich in einer Notlage befinden, kannst du dich 24/7 an den Sozialpsychiatrischen Notdienst wenden: 01 31330.

 

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