Triggerwarnung

Dieser Artikel befasst sich mit Suizid. Fühlst du dich heute psychisch stabil genug, um diesen Text zu lesen?

Nimm einen Finger runter, wenn…

Auf Social Media ist psychische Gesundheit längst kein Randthema mehr. Doch wo liegen die Chancen und Gefahren dieser Entwicklung?

Text: Edith Ginz
Illustration: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Datum: 24. Mai 2024
Verzerrtes Spiegelbild Illustration (c) Jana Reininger

Er sei dabei, sich vom Leben zu verabschieden. Ein junger Mann schreibt der Content Creatorin Ally (@allyslostlife) auf Instagram und fragt sie, was sie noch am Leben hält. Er würde bald „gehen“. Ally ist schockiert. Die 21-Jährige weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll und möchte nicht in die Verantwortung für sein Leben gezogen werden. Schließlich ist sie doch selbst von psychischen Erkrankungen betroffen.

Das Internet ist der Ort, an dem sich viele Betroffene mit psychischen Belastungen Hilfe suchen. Sehr oft sind Influencer:innen und Content Creator:innen auf Social Media jedoch nicht ausgebildet, um professionelle Hilfe anbieten zu können. Das kann zu Überforderung und Enttäuschung führen. Überforderung auf der Seite der Content Creator:innen, da sie nicht das bieten können, was ihre Follower:innen von ihnen erwarten, und Enttäuschung aufseiten der Follower:innen, die sich einen Quick-fix für ihre psychischen Probleme erhofft haben. Stattdessen gibt es jede Menge Alltagspsychologie, wie zum Beispiel Selbstdiagnose-Videos.

Erfahrungsexpert:innen statt professionelle Hilfe?

Ich sitze an einem Dienstagnachmittag in der Blumenfabrik im 7. Bezirk zusammen mit einer Reihe von Influencer:innen und Content Creator:innen. Es gibt ein Buffet mit winzigen Häppchen und einen Tisch voller Goodies. Von #darüberredenwir Stickern, Sackerln, Brillenputztüchern, Kugelschreibern bis Anstecknadeln ist alles dabei. Klingt nach einer Marketingveranstaltung, ist aber nicht so. Denn der Psychosoziale Dienst lädt ein, um über psychische Gesundheit zu sprechen. Die eigene und die der Follower:innen.

Wer Social Media nutzt, kommt höchstwahrscheinlich nicht daran vorbei: Selbstdiagnose-Videos. Darunter fallen Finger-Runter-Challenges, bei denen die Zusehenden ihre Hände mit abgespreizten Fingern hochhalten und bei jedem Symptom, das auf sie zutrifft, einen Finger herunternehmen sollen. Je mehr Finger unten sind, desto wahrscheinlicher sei die Diagnose. Dabei werden oft Alltagssituationen beschrieben, mit denen sich viele identifizieren können, wie: Wenn du auch ständig dein Handy verlierst, dann könnte das ein Symptom für ADHS sein. Ebenso gibt es optische Illusionen oder Muster, die dir deine Diagnose verraten sollen. Diese Art von Videos können gefährlich sein, denn beispielsweise auf TikTok sind 83,7 Prozent der Videos über mentale Gesundheit irreführend.

Auch die Leiterin der Kommunikation des PSD, der Sucht- und Drogenkoordination und der Suchthilfe Wien Tatjana Gabrielli warnt vor Selbstdiagnosen: „Fake Tools und verkürzte Checklisten für Symptome können zu falschen Selbstdiagnosen führen.“ Sie dürfen laut der 31-Jährigen kein Ersatz für Beratung und Behandlung sein.

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

ADHS und Autismus haben sich zu Trenddiagnosen auf Social Media entwickelt.

Trenddiagnose ADHS

Auf Social Media etablierten sich bestimmte Trenddiagnosen, beispielsweise ADHS oder Autismus. Durch Symptome, mit denen sich viele identifizieren können und die oftmals beschönigt dargestellt werden, wird Follower:innen das Bild vermittelt, dass eine psychische Erkrankung oder Neurodivergenz nur ein bestimmter Charakterzug, wie etwa Vergesslichkeit bei ADHS, wäre. Dass Neurodivergenz oder auch psychische Erkrankungen durchaus als belastend empfunden werden können, wird meist ausgespart.

ADHS schneidet in puncto Beliebtheit im Vergleich zu anderen Diagnosen, wie etwa Schizophrenie oder Borderline, deutlich besser ab. Letztere psychische Erkrankungen sind nach wie vor negativer behaftet. Dennoch ist der Fokus auf ADHS auf Social Media, nicht nur als schlecht zu bewerten. Denn mehr Diagnosen bedeuten auch mehr Zugang zu Ressourcen wie Therapie oder Medikation. So werden 50-75 Prozent aller Frauen mit ADHS entweder gar nicht oder mit durchschnittlich 12 Jahren deutlich später als Burschen mit durchschnittlich 7 Jahren diagnostiziert.

Abschiedsbriefe per Insta DM

Bei dem Barcamp des PSD berichten viele Content Creator:innen von der Flut an Nachrichten, die sie zu dem Thema psychische Gesundheit bekommen. Diese reichen von dem Wunsch nach Lebensratschlägen oder Beziehungstipps bis hin zu Abschiedsbriefen, wie die Content Creatorin Ally erzählt.

Tatjana Gabrielli hält fest, wie wichtig Content Creator:innen, die öffentlich über ihre psychischen Erkrankungen sprechen, für die Entstigmatisierung derer sind. Dennoch sprechen sie dabei als Erfahrungsexpert:innen und nicht als Professionist:innen. „Es ist okay, wenn man dann auch mal sagt: Es ist zu viel. Die Bubble rund um Personen auf Social Media muss auch verstehen, dass wenn sie Hilfe brauchen, diese bei offiziellen Stellen ansuchen müssen.“

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

Auch für Content Creator:innen gilt die Devise: Selbstschutz vor Fremdschutz

Ally entscheidet sich dazu, eine Story auf Instagram mit der Bitte zu posten, dass sich ihre Follower:innen bei Bedarf professionelle Hilfe suchen sollen, da sie diese nicht leisten kann. Außerdem bittet sie ihre Community, ihr keine Abschiedsbriefe oder Suizidgedanken zu schicken, da sie das Thema selbst triggert. „Es ist auch nicht meine Aufgabe, so hart das auch klingt. Ich bin selbst eine Betroffene von psychischen Krankheiten und ich kann und will mit so etwas überhaupt nicht umgehen.“

Der Follower von Ally hat sich nach der Story bei ihr gemeldet und sich für seine Nachricht entschuldigt und beteuert, dass er sie auf keinen Fall triggern wollte. Darauf hat Ally ebenfalls nicht mehr geantwortet. „Ich fühle mich bis heute ein bisschen schlecht deswegen, aber ich muss auch auf mich schauen.“