„Viele junge Männer fühlen sich verloren“

Žiga Jereb, Obmann der Männerberatung Wien, im Gespräch über Zugehörigkeit, Gewaltprävention und was das Ganze mit dem Rechtsruck junger Menschen zu tun hat.

Text: Ania Gleich
Collage: Jana Reininger da Rosa

Datum: 11. Januar 2025
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung
Wir sehen es in Gesprächen mit den Cousins auf der letzten Familienfeier, in Videos, die auf Social Media viral gehen und in aktuellen Wahlergebnissen: Viele junge Männer scheinen sich derzeit von rechten und radikalisierten Milieus angezogen zu fühlen. Warum ist das so? Was bieten solche Räume, was anderswo fehlt? 

 

Žiga Jereb: Junge Männer werden heute mit vielen neuen, widersprüchlichen Vorstellungen von Männlichkeit konfrontiert. Das Patriarchat vermittelt ihnen: „Wenn du so und so bist, bist du in Ordnung und alles ist gut.“ Doch dieses System existiert nicht mehr in dieser klaren Form. Das führt zu Orientierungslosigkeit, und rechte oder radikale Milieus greifen genau hier an. Sie bieten den jungen Männern Identität, Zugehörigkeit und eine vermeintliche Sicherheit.

Egal, wie gebildet oder aus welcher sozialen Schicht sie stammen – diese Tendenz findet sich überall. Auch in meinem persönlichen Umfeld bin ich dem schon begegnet. Diese Räume bieten einfache Antworten, klare Ansagen und ein Gefühl von Verbundenheit. Genau diese Verbundenheit fehlt vielen jungen Männern an anderen Orten. Sie fühlen sich sonst nirgendwo richtig verstanden oder willkommen.

Žiga Jereb ist Obmann der Männerberatung in Wien.

Žiga Jereb ist Obmann der Männerberatung in Wien.

Mich persönlich verwundert es besonders, weil ich selbst queer bin, wenn ich in Beratungen höre: „Die Schwuchteln haben jetzt alle Rechte und nehmen uns etwas weg.“ Dann frage ich immer: „Aber was nehmen sie dir denn weg?“ Meistens bleibt die Antwort aus, weil es um Emotionen geht – um männliche Integrität, die sich bedroht fühlt. Wenn ein junger Mann weder Geld hat, noch eine Perspektive sieht und vielleicht noch bei seinen Eltern wohnt, bleibt oft nur das „Mann-Sein“ als letzter Halt. Alles verändert sich, aber dieses Konzept von Männlichkeit scheint stabil zu bleiben.

Videos mit Titeln wie ‚So wirst du ein echter Alpha-Mann‘ oder ‚Wie du Frauen dominierst, um Respekt zu bekommen‘ sprechen viele junge Männer an. Die Algorithmen in sozialen Medien verstärken diese Ideen zusätzlich, oder? 

Ja, natürlich. Algorithmen sorgen dafür, dass solche Botschaften verstärkt werden und bieten vermeintliche Bestätigung. Ich sehe hier auch eine Verbindung zum Neoliberalismus, der auf Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung ausgerichtet ist. Junge Männer hören ständig: „Du musst nur genug leisten, dann wird es dir gut gehen.“ Aber was ist, wenn das nicht funktioniert? Dann wird Männlichkeit zu einem weiteren Konzept, das optimiert und in das „investiert“ werden muss.

Kapitalistische Systeme verstehen Männlichkeit, genauso wie Beziehungen oder Liebe, als Kapital. Sprüche wie „Ich habe so und so viel in die Beziehung investiert“ oder Begriffe wie „Beziehungsarbeit“ sind Ausdruck dieser Denkweise. Es geht oft darum, etwas zu erreichen und zu besitzen, statt wirklich verbunden zu sein. 

Wie lässt es sich verhindern, dass Jugendliche durch diese Inhalte in toxische Männlichkeitsideale oder sogar extremistische Denkweisen wie Frauenhass oder radikale Männerbewegungen abrutschen?

Ich denke, wir brauchen dringend Männer, die selbst neue Haltungen vorleben. Es braucht positive Vorbilder, die jungen Männern zeigen: „Es geht auch anders.“ Es geht darum zu vermitteln, dass ein Mann fürsorglich sein kann, arbeiten geht, mit seinen Kindern spielt und gleichzeitig seine Frau liebt – auch wenn sie selbstständig, selbstbestimmt ist und auch arbeitet. Wir müssen neue Bilder von Männlichkeit etablieren, die nicht auf Dominanz und Macht, sondern auf Verbindung, Respekt und Augenhöhe basieren.

Präventionsarbeit spielt hier eine zentrale Rolle. Wir brauchen mehr Väterarbeit und Programme, die früh ansetzen – etwa in Schulen, Kindergärten oder durch Streetwork. Diese Programme müssten flächendeckend und langfristig umgesetzt werden. Außerdem brauchen wir männliche Politiker, die klar sagen: „Geschlechtsreflektierte Männerarbeit ist wichtig.“ 

Ein wichtiger Teil unserer Arbeit im Dachverband für Männerarbeit Dachverband für Männer-, Burschen-, und Väterarbeit in Österreich (DMÖ) ist es, sicherzustellen, dass Vereine geschlechtsreflektiert arbeiten. Das heißt: Sie dürfen Männer nicht als Opfer stilisieren und Frauen nicht als das Problem darstellen. Geschlechtsreflektierte Männerarbeit bedeutet, dass wir für soziale Gerechtigkeit einstehen und mit Frauenorganisationen zusammenarbeiten. Es geht also darum, diese Form von Männerarbeit als selbstverständlichen Infrastrukturstandard der psychosozialen Grundversorgung und der Geschlechtergleichstellung zu etablieren. 

Du sagst, viele junge Männer fühlen sich verloren. Wie kann man dem entgegensteuern?

Oft höre ich Sätze wie: „Ich bin hier geboren, aber meine Familie kommt ursprünglich aus der Türkei.“ Das ist ein so vielsagender Satz. Er zeigt, dass sich die Männer nicht vollständig angekommen oder akzeptiert fühlen – weder hier noch dort. Es bleibt das Gefühl, dass etwas fehlt. Dabei wollen die meisten von ihnen nicht zurück in die Türkei oder nach Syrien. Wien oder andere Städte sind für sie eigentlich ein Wohlfühlort. Doch sie stehen zwischen zwei Welten und haben das Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören.

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben

Viele Männer fühlen sich orientierungslos.

Hinzu kommt häufig ein starkes Schwarz-Weiß-Denken, das durch ihre Sozialisation geprägt wurde: „Frauen sind so, Männer sind so.“ Aber im Gespräch merken wir oft gemeinsam, dass es hier bei uns andere Möglichkeiten gibt, darüber nachzudenken. Sie erkennen, dass sie in dieser Gesellschaft Freiräume haben, ihre Vorstellungen zu hinterfragen und neu zu gestalten. Doch genau das braucht Begleitung und Räume, in denen sie lernen, sich mit sich selbst und ihrer Umwelt zu verbinden.

Verbundenheit ist nichts Selbstverständliches, sondern etwas, das aktiv gefördert werden muss. Es geht darum, jungen Männern zu vermitteln: „Du bist Teil dieser Gesellschaft. Du gehörst dazu, und hier gibt es Platz für dich.“ Diese Zugehörigkeit und Verbundenheit zu einem Ort, zu Menschen und zu sich selbst kann ein wichtiger Schutzfaktor gegen Radikalisierung und Orientierungslosigkeit sein.

Präventionsarbeit ist der Schlüssel. Wir brauchen mehr Programme in Schulen, Kindergärten und Jugendarbeit. Leider scheitert vieles am Kostenfaktor, um das ganze flächendeckend und langfristig zu gestalten. Auch die Personalsituation an Schulen ist problematisch: Es gibt zu wenige Schulpsycholog:innen oder Sozialarbeiter:innen. Lehrer:innen müssen oft alles gleichzeitig sein – das ist eine untragbare Belastung.

Was sind die häufigsten Themen, die Männer in die Beratung mitbringen? Gibt es bestimmte Altersgruppen oder Lebenssituationen, die besonders oft vertreten sind?

Wir begleiten Männer, Burschen und Buben von 13 bis über 80 Jahren. Unsere Organisation leistet viel Antigewalt-Arbeit, bietet Trainings, Psychotherapie und Familienberatung an. Männer kommen zu uns wegen Scheidungen, Trennungen, psychischer Belastung, Fragen zur Sexualität oder Identität. Manche Männer sind auch selbst von Gewalt betroffen – und erhalten bei uns eine Opferschutzbegleitung (Anm. d. Red.: Beratung und Prozessbegleitung für betroffene Männer und Burschen von verschiedenen Formen von Gewalt). Gleichzeitig begleiten wir auch Männer, die selbst Gewalt ausgeübt haben. Unser Ziel ist es, ein breites Angebot für unterschiedlichste Menschen zu bieten – für all jene, die sich mit dem männlichen Geschlecht identifizieren.

Warum entscheiden sich Männer für die Männerberatung Wien? Es gibt ja auch andere Hilfsangebote.

Die Männerberatung gibt es seit 40 Jahren. In den 80er-Jahren fehlte ein entsprechendes Angebot für Männer, obwohl Frauenorganisationen bereits stark aktiv waren. Frauenhäuser waren im Aufbau, und Frauen haben zurecht gefragt: „Was machen wir mit den Männern, die gewalttätig sind?“ Damals haben Psychologen die Männerberatung gegründet, damit es auch für Männer einen Ort gibt, an dem sie gesehen werden.

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben

Die Männerberatung Wien unterstützt Männer bei Problemen mit Gewalt.

Heute hat sich viel getan, besonders in den letzten zehn Jahren. Es gibt mehr Bewusstsein dafür, dass Männer selbst unter psychischen Belastungen leiden. Manche Männer kommen auch zu uns, weil sie Hilfe suchen, wie sie mit einem gewalttätigen Freund reden sollen. Häufig werden Männer aber durch Gerichte oder Kooperationspartner (Anm. d. Red.: z.B. Frauenhäuser Wien oder andere Opferschutzeinrichtungen) zu uns weitergeleitet. Trotzdem bleibt es schwierig, dass Männer sich Hilfe suchen oder zugeben, dass es ihnen schlecht geht. Viele kommen erst, wenn die Situation in der Beziehung oder der Beruf bereits eskaliert ist oder das Burnout unerträglich wird.

Warum fällt es Männern schwer, ihre eigene Schwäche einzugestehen? 

Das hängt stark mit dem patriarchalen System zusammen. Wir glauben oft zu wissen, was Männlichkeit bedeutet – doch das ist das eigentliche Problem. Männer wachsen mit dem Druck auf, stark sein zu müssen, keine Gefühle zu zeigen und bloß nicht schwach zu wirken. Verletzlichkeit wird schnell mit Schwäche gleichgesetzt. Deswegen ist es wichtig, behutsam die Auseinandersetzung mit Gefühlen anzuregen, insbesondere mit unmännlichen” Gefühlen wie Schwäche, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst, Bedürftigkeit, Trauer etc. 

Viele Männer haben in ihrer Kindheit Gewalt erlebt – sei es durch körperliche Auseinandersetzungen, die bagatellisiert wurden, oder durch toxische Erziehungsweisen: „Nächstes Mal lass dich nicht erwischen!“ Gewalt wird normalisiert. Gleichzeitig werden Männer, die selbst von Gewalt betroffen sind, abgewertet: „Dann bist du kein richtiger Mann.“ Dieses Problem ist spezifisch für Männer. Wir müssen lernen, Gewalt zu benennen und darüber zu sprechen. Sie ist keine Lösung – nicht für die Männer selbst, und nicht für ihre Beziehungen zu Frauen und Kindern.

Warum wird Gewalt oft tabuisiert, gerade wenn Männer betroffen sind?

Jeder hat schon Sätze über „die g’sunde Watschen“ gehört. Gewalt wird bagatellisiert. Wenn wir darüber sprechen, dass Männer auch Opfer sind, entsteht oft das Missverständnis, es gäbe einen „Konkurrenzkampf“ zwischen den Geschlechtern. Doch das stimmt nicht. Geschlechtsreflektierte Männerarbeit ist profeministisch und für soziale Gerechtigkeit.

Ein Beispiel: Wir haben einmal bei einer Universität unsere Arbeit vorgestellt und erwähnt, dass Männer von Gewalt betroffen sein können. Zwei Frauen im Publikum haben gelacht. Solche Reaktionen zeigen, wie tief das Schwarz-Weiß-Denken verankert ist. Die Wahrheit ist: Männer leiden unter Gewalt, und darüber müssen wir reden. Es schadet allen, wenn wir das ignorieren.

Wie beeinflusst das Täter-Opfer-Denken eure Arbeit?

Unsere Arbeit ist nachhaltige, opferschutzorientierte Täterarbeit. Ein Beispiel: Wenn ein Mann gewalttätig wird und ein Betretungsverbot erhält, hat er zunächst verpflichtende Beratungsstunden bei einer Einrichtung wie Neustart. Danach kommt er zu uns und nimmt an einem Programm teil. Parallel dazu nehmen die Frauenhäuser mit unserer Absprache Kontakt zur betroffenen Frau auf und bieten ihr ebenfalls Unterstützung an. Dieses Vorgehen ist besonders wichtig, wenn die beiden die Beziehung fortsetzen möchten.

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben

Männer müssen Verbundenheit finden, sagt Jereb.

Durch die enge Zusammenarbeit mit den Frauenhäusern können wir sicherstellen, dass die Frau nicht allein gelassen wird. Falls die Gewalt trotz Therapie und Training weitergeht und der Mann es verschweigt, bietet das Frauenhaus ein „Backup“, um die Frau zu schützen. Diese Transparenz ist zentral: Beide Parteien wissen von Anfang an, dass die Informationen zwischen den Stellen geteilt werden.

Unser Ziel ist es, Gewalttätigkeit nachhaltig zu stoppen. Wir arbeiten mit den Männern daran, neue Handlungsstrategien zu entwickeln und zu verstehen, dass sie nicht nur anderen, sondern auch sich selbst schaden. Gleichzeitig schaffen wir Sicherheit für die betroffene Seite.

Wie siehst du die Zukunft der Männerberatung Wien? Wo wollt ihr mehr Schwerpunkte setzen?

Definitiv in der präventiven Jugendarbeit. Wir möchten außerdem unsere Anti-Gewalt-Trainings weiter ausbauen und mehr Betroffenenarbeit leisten, um sichtbar zu machen, dass auch Männer von Gewalt betroffen sind. Es ist wichtig, dass wir in diesen Bereichen ernst genommen werden und nachhaltig Veränderungen schaffen.

Seit über 40 Jahren bietet die Männerberatung Wien Unterstützung in vielfältigen Lebensbereichen an. Die Arbeit umfasst Beratung, Psychotherapie, Opferschutz, Täterarbeit, Bildungsprojekte, Integration in den Arbeitsmarkt sowie gesellschaftspolitisches Engagement und Forschung. Ziel ist es, geschlechterreflektierte Männerarbeit nachhaltig zu etablieren und deren gesellschaftliche Relevanz sichtbar zu machen.