Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit Burnout und Depression. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

170 Herzschläge: Robert

Als Robert in ein Burnout schlittert, spiegelt sich das in seinen Träumen wieder. Erst in einer Pause kommt er wieder zu gesundem Schlaf.

Text: Jana Reininger
Foto: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Datum: 12. Juni 2023
Verzerrtes Spiegelbild Illustration (c) Jana Reininger

Roberts Träume spiegeln seine Depressionen wieder. *
Collage: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva; Foto: Jana Reininger

170 Mal pro Minute schlägt Roberts Herz, wenn er aus einem seiner Albträume erwacht und noch den Schreck in seinen Gliedmaßen spürt. Dann schiebt er die Decke zur Seite, setzt die Füße auf den Boden und geht in die Küche. Erst einmal ein Glas Wasser trinken. Mit mehr Schlaf ist so schnell nun ohnehin nicht mehr zu rechnen.

Robert kennt die Kopfschmerzen, die aus Übermüdung resultieren. Seit vier oder fünf Jahren, so genau weiß der 35-Jährige das gar nicht mehr, schläft er schlecht. „Ich hatte damals viel Stress in der Arbeit”, erinnert er sich im Gespräch mit ZIMT zurück. „Alles war zu viel. Dann habe ich begonnen, nur noch zwei bis drei Stunden pro Nacht zu schlafen.”

Wenn Robert spricht, macht er Pausen zwischen den Sätzen. In den Momenten der Stille blickt er an einen Punkt in der Luft. Seine Worte wirken überlegt, aber tief, als würde der Mann mit dem dunklen Bart ein wenig in ihnen einsinken, wenn er sie spricht.

Gedankenkarussell

Robert arbeitet als Videojournalist in einem neu gegründeten Magazin, als seine Schlafprobleme beginnen. Er ist der erste Angestellte im Start-Up, hat kaum Erfahrung mit Videodreh und produziert von nun an doch jeden Tag neue Bewegtbilder. Das Medienunternehmen ist erfolgreich, die Nachfrage an Roberts Videos steigt stetig und die Redaktion wächst. Es ist immer viel zu tun, immer an viel zu denken. Nach einer Weile ist Robert für vier Mitarbeiter:innen verantwortlich. Wenn er abends nach Hause geht, drehen sich seine Gedanken um das, was ihn am nächsten Tag erwarten wird. Zur Ruhe zu kommen ist schwierig. Wenn der Journalist abends zu Bett geht, schläft er lange nicht ein. Seine Augen fühlen sich trocken an, wenn er an die dunkle Zimmerdecke starrt.

Zielscheibe, Bild: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Im Gefängnis werfen fremde Banden mit Pfeil und Bogen nach Robert.*
Bild: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Robert ist im Gefängnis, er weiß nicht warum. Das Sagen hat hier eine ‘White Power Brotherhood’. Sie möchte Robert für sich gewinnen, doch dieser möchte er nicht beitreten. Die Mitglieder heben Waffen in die Höhe, zielen mit Pfeil und Bogen auf Robert. Der Pfeil fliegt durch die Luft, die Spitze fliegt Robert entgegen. Er hat Angst, steht in der Zielscheibe, bewegt sich nicht, steht wie versteinert.

170 Herzschläge pro Minute. Die Uhr zeigt drei Uhr morgens an. „Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt und schon um drei Uhr den Laptop aufgeschlagen.” Wegen des fehlenden Schlafes schmerzen Roberts Augen untertags. Um trotz seiner Müdigkeit zu funktionieren, trinkt er Energydrinks. Weitermachen, lautet die Devise. Robert fehlt die Zeit, darüber nachzudenken, wie beunruhigend er sein Verhalten eigentlich findet. Er ist zu ausgelaugt, um ernste Gedanken zu fassen, zu beschäftigt, um Pläne für seine psychische Gesundheit zu schmieden.

Robert steht am Flughafen. Er möchte nach Amerika fliegen. Doch in seiner Tasche fehlt sein Reisepass. Roberts Finger gleiten rasch durch die Ecken und Fächer des Koffers. Sein Herz klopft, er wird panisch. Der Pass ist nicht hier. Er zückt sein Handy, ruft viele Menschen an, erreicht seine Tante. Sie will helfen, fährt mit dem Fahrrad zum Flughafen, um ihrem Neffen seinen Pass zu bringen. Doch das dauert zu lange. Robert versäumt seinen Flug. Er ärgert sich, über sich selbst, über seine Versäumnis, seinen Pass einzupacken.

170 Herzschläge pro Minute. Robert schiebt die Decke zur Seite, setzt die Füße auf den Boden und geht in die Küche. Er greift zu seinem Handy, dann zu seinem Laptop. Der Energydrink zischt beim Öffnen der Dose. Die Augen brennen den ganzen Tag, der Kopf schmerzt, sein Nacken ist steif.

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

Robert ist am Flughafen.*
Bild: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

„Wenn ich einen Tag für sinnlos hielt”, erklärt Robert, „wollte ich ihn nicht beenden, weil er noch nicht genug gebracht hat.” Revenge Bedtime Procrastination wird dieses Phänomen genannt, das dafür verantwortlich ist, dass die Qualität des Schlafes bei so vielen Menschen heute beeinträchtigt ist, und das bereits Gegenstand einiger Studien ist.

Was harmlos klingt, hat für Robert schwerwiegende Folgen. Er schiebt Schlaf beiseite, um mehr Dinge für die Arbeit zu erledigen, doch die Zeit reicht nie aus. „Ich habe viele Warnsignale ignoriert”, sagt der Journalist heute. „Unter der Woche habe ich gearbeitet. Am Wochenende waren meine Freunde mit meiner Freundin unterwegs. Ich war währenddessen zuhause und habe gearbeitet oder geweint.” Seine Vertrauten sind besorgt. Familie und Freund:innen bitten ihn, den Job zu kündigen. Seine Therapeutin warnt ihn, dass er kurz vor einem Burnout stehe.

Pause dringend notwendig

Dennoch vergehen einige Monate, ehe Robert sich eingesteht, dass er eine Pause braucht. Er steht an einem Montagmorgen im September vor seinem Chef und erklärt ihm, dass er sich krankschreiben lassen muss. Sein Vorgesetzter wirkt ungläubig, möchte ihn erst überreden, zu bleiben und dann dazu, auf den Krankenstand zu verzichten, stattdessen zu kündigen. Doch Robert verneint. An diesem Montagmorgen ist ihm seine Gesundheit erstmals wichtiger als sein Job.

Als Robert im Krankenstand ist und er endlich Zeit für seine Gedanken hat, kommen all jene Sorgen zum Vorschein, die er jahrelang verdrängt hatte. Vier, vielleicht fünf Monate lang geht es von nun an bergab. „Das war eine lange Talfahrt”, erinnert sich Robert zurück. Auch seine Beziehung geht in dieser Zeit in die Brüche. Seine Psychiaterin erkennt Depressionen und ein Burnout.

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

Seit vier oder fünf Jahren schläft Robert schlecht.*
Bild: Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Robert bittet Freund:innen und Familie, ihn zu unterstützen, fährt erstmals auf eine stationäre Reha, testet reihenweise Medikamente aus: „Stimmungsaufheller gegen die Depression und am Abend etwas zum Runterfahren. Etwas gegen Gedankenkreisen, etwas, das beim Schlafen helfen soll. Etwas gegen Angst und nervöse Panikattacken.” Ideal ist bislang nichts. Entweder stoppen die Medikamente Roberts Gedankenkreisen nicht oder sie machen ihn so müde, dass er alle paar Stunden schlafen muss. „Es ist ein Auf und Ab”, sagt Robert. „Ich habe meinen Akku in den letzten Jahren so sehr aufgebraucht. Auch jetzt, eineinhalb Jahre, nachdem ich aufgehört habe, zu arbeiten, ist er noch nicht wieder voll geladen.” Doch Robert lässt sich nicht unterkriegen. Er probiert weiter.

Was sind eigentlich 170 Herzschläge pro Minute? Bei Erwachsenen liegt der Puls in Ruhe üblicherweise bei etwa 60 bis 80 Schlägen pro Minute. Je nach Wetter und Tageszeit kann dieser schwanken. In der Tiefschlafphase nimmt der Herzschlag ab und liegt folglich bei 45 bis 55 Schlägen pro Minute. In der REM-Phase, in der man träumt, hingegen steigt er wieder auf 60-130 Schläge pro Minute an.

* Dieses Bild wurde mithilfe künstlicher Intelligenz hergestellt. Der surreale Stil und die unklaren Silhoutten des künstlichen Bildes symbolisiert die Eindrücke, die Träume oft hinterlassen.