Triggerwarnung
Der Wunsch, sich in Luft aufzulösen: Eline
Nach einer schwierigen Kindheit kämpft Eline mit Magersucht und einer Traumafolgestörung mit Dissoziation.
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Als Eline wieder zuhause ist, funktioniert sie nicht mehr. Sie schafft es nicht, zur Arbeit zu gehen oder sich eine warme Mahlzeit zu kochen. Ihre Beine tragen sie nicht nach draußen und auch die Dusche erscheint unendlich weit weg. Stattdessen sitzt Eline ruhig auf der Couch, raucht eine Zigarette nach der anderen, starrt ins weite Nichts und presst ihre Fäuste zusammen, bis sie ihre Nägel in ihre Handflächen schneiden spürt. „Die Tage sind vergangen wie nichts”, erinnert sich Eline an die lange Zeit ihrer Dissoziation, „ohne, dass ich wusste, was um mich und in mir drin passiert.”
Für das Gespräch mit ZIMT sitzt Eline viele Monate später auf einer grünen Parkbank in Wien. Auf ihrem Schoß liegt ein Notizbuch, in das sie mit einem Kugelschreiber eingetragen hat, was sie erzählen möchte. Manchmal blättert sie nach, um zu sehen, ob sie etwas davon vergessen hat.
Als Eline ein altes Haus besucht, platzen verdrängte Kindheitserinnerungen aus ihr heraus.
Hilflos durch die Kindheit
Als Eline vier, vielleicht fünf Jahre alt ist, sind ihre Eltern bereits geschieden. Die Mutter der beiden Kinder setzt diese bei ihrem Ex-Mann ab, dem Erzeuger, wo Eline sexueller Gewalt ausgesetzt ist. Eline erinnert sich, ihre Mutter herbeizusehnen, und tatsächlich kommt sie eines Tages. Sie bringt ihre Kinder nach Wien, gemeinsam wohnen sie nun in einem Frauenhaus, wo sie geschützt sind vor gewalttätigen Männern.
Als die Familie wieder in einer eigenen Wohnung wohnt, fängt Mama wieder an zu trinken. Manchmal sagt sie, sie würde Zigaretten holen und bleibt dann die ganze Nacht weg, obwohl Eline kaum älter als sieben, vielleicht acht Jahre ist, ihr Bruder noch ein Jahr jünger. Wenn Mama manisch ist, holt sie ihre Tochter früher aus der Schule ab, damit sie mit ihr Kleider kaufen geht. In ihren depressiven Phasen wird sie hingegen ruhig, möchte alleine sein, droht den Kindern auch mal mit Suizid. Doch dann heiratet die Mutter erneut. Mit dem Stiefvater an Elines Seite wird das Leben einfacher. Er steht wie ein Fels in der Brandung zwischen Mama und den Kindern, wendet ihre Wut von Eline und ihrem Bruder ab. Doch als das Mädchen 17 Jahre alt ist, lassen sich die beiden scheiden. “Da habe ich meine Mutter dann wieder mit voller Wucht erlebt.” Eline streicht sich auf der Parkbank die dunklen Haare aus dem Gesicht.
Wenn Mama nun betrunken nachhause kommt, lässt sie ihre Wut wieder an den Kindern aus, bis die erwachsene Frau irgendwann kraftlos einsinkt. Dann tragen Eline und ihr Bruder sie in ihr Bett, legen sie in stabile Seitenlage und holen ihr Essensreste aus dem Mund, damit sie nicht erstickt, während sie schläft.
How to disappear completely
„Mein Stiefvater hat uns nicht mehr schützen können. Da ist alles eingebrochen.” Eline hört auf zu essen, versucht nicht mehr zu spüren und stattdessen das Gefühl von Kontrolle zu haben. Eines Tages ist sie so dünn, dass sie ins Krankenhaus kommt. Sie wird stabilisiert und kommt wieder nachhause, „zurück in die Höhle des Löwens”, wie sie sagt, und wird wieder rückfällig.
Nahezu bewusstlos sitzt Eline auf der Couch und starrt ins Nichts und merkt erst beim Abspann des Filmes, dass sie kein Wort davon mitbekommen hat.
Erst zu Beginn dieses Jahres erfährt Eline, dass ihr Erzeuger verstorben ist, dass sie sich um seinen Nachlass kümmern und zurück nach Linz reisen müsse. Erst da realisiert sie, dass all die Erinnerungen, die sie verdrängt hatte, wirklich passiert sind und nicht bloß hässliche Träume waren. Erst da presst Eline die Nägel in ihre Handflächen und plötzlich funktioniert überhaupt nichts mehr. Erst da erscheint alles so schwierig, dass Eline sich endlich Hilfe sucht.
Jetzt wird alles besser
Vor nicht einmal zwei Stunden noch hat Eline beim Kriseninterventionszentrum angerufen, um sich über ihre Möglichkeiten zu informieren, nun sitzt sie bereits hier im Raum und weint vor der fremden Frau, die ihr gegenübersitzt. Was Eline zu der Therapeutin an jenem Tag sagt, weiß sie heute nicht mehr, nur, dass sie lange nicht mehr zu weinen aufhören kann. Doch das fühlt sich nicht schlecht an. Irgendetwas in Eline fängt endlich an, sich aufzulösen.
Nach mehreren Besuchen im Kriseninterventionszentrum bittet die Therapeutin Eline, sich im Krankenhaus anzumelden. Hier im Zentrum werde nur akut unterstützt, erklärt sie, doch Elines Vergangenheit dränge auf eine tiefgründigere Aufarbeitung. Und tatsächlich: Die 29-Jährige erhält einen Platz. „Das war so wichtig für mich, dass ich da hingehe, um Hilfe bitte und mich die Fachleute dort auch wirklich ernst nehmen. Die haben das so viel ernster genommen als ich selbst. Da habe ich gemerkt: Okay, das ist wirklich nicht ohne. Da muss ich wirklich arbeiten und dran bleiben.” Und das tut sie.
Während ihres Aufenthaltes in der Tagesklinik fährt Eline jeden Abend nachhause und füttert ihre Katze.
„Vielleicht war es sogar wichtig, dass ich Anfang des Jahres mit der Konfrontation in Linz retraumatisiert wurde, damit mein Konstrukt, meine Fassade einstürzt”, sagt Eline heute. „Dass ich mir endlich Hilfe hole, sie auch annehme, mich damit endlich anfange, selbst kennenzulernen.”
Nächstes Jahr wird Eline wieder für eine Weile ins Krankenhaus gehen, momentan ist sie auch auf Reha. Auch wenn sie in den letzten Monaten einige Strategien gegen ihre Sorgen gelernt hat, da ist sie sich sicher, werden sie sie noch lange begleiten. Aber das hindert sie nicht daran, ihr Leben weiter zu gestalten. „Ich will unbedingt etwas Arbeiten, das mir Sinn gibt”, erklärt sie. „Vielleicht werde ich jetzt, mit bald 30 Jahren, sogar endlich anfangen zu studieren. Das habe ich damals voll verpasst.”
Bist du über einen englischsprachigen Zwischentitel gestolpert? „How to disappear completely” bezieht sich auf einen Songtitel von Radiohead und auf einen Einfall von Eline: „Hab gerade ‚How to Disappear Completely’ von Radiohead gehört, und fühl mich, schon seitdem ich den Song vor zig Jahren zum ersten Mal gehört hab, sehr damit verbunden, selbst damals, als mir Dissoziation gar kein Begriff war. Heute ist mir klar, weshalb.”