Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit Depressionen, Selbstverletzung und suizidalen Gedanken. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Identitätsfragen: Ness

Seit 15 Jahren hat Ness Depressionen. Einige Jahre lang nimmt sie Antidepressiva. Dann entscheidet sie sich dagegen.

Text und Fotos: Jana Reininger
Datum: 13. Juli 2022

Als Vanessa, die oft nur Ness genannt wird, 15 Jahre alt ist, ist Myspace in seiner Hochblüte. Überall in der Stadt verteilt sitzen Jugendliche mit hochtoupierten, schwarzgefärbten Mähnen und hineingefärbten Leopardenmustern vor ihren Computern. Sie designen ihre ersten Social Media Auftritte und damit Myspaceprofile als Visitenkarten der Emo-Subkultur. Einer Subkultur, die Trauer und Verzweiflung feiert. Triggerwarnungen gibt es keine und das Netz spuckt unermüdlich selbstverletzenden Content aus. In Wien bilden sich Hotspots für Teenies mit Pandaaugen und Skinny Jeans und auch Ness ist, wie so viele, fasziniert von der rebellischen Subkultur und der Gruppenzugehörigkeit, mit der sie lockt.

Vom Tod der Oma ins psychiatrische Krankenhaus

Als Ness 15 Jahre alt ist, stirbt ihre Oma und Ness geht es schlecht. Pubertäre Hormone kochen in ihrem Kopf, dunkle Gedanken machen sich breit. Ness weint viel und Content auf Social Media ist Inspiration. Sie verletzt sich selbst. An ihrer Situation ändert sich nichts. Was für viele ein Trend ist und rasch wieder verschwindet, bleibt bei Ness über Jahre bestehen. Mit 20 versucht sie einen Suizid. Sie scheitert und geht anschließend selbst in ein psychiatrisches Krankenhaus, wo sie um Aufnahme bittet.

Ness und ihr Hund im WG-Zimmer

Sieben Tage verbringt Ness im Wiener Otto-Wagner-Spital. Sie wird mit einer mittelgradigen Depression und einer Borderline Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Sie macht Bewegung im Turnsaal, spielt Memory und führt Gespräche mit anderen. Viel zu tun gibt es nicht. Ness langweilt sich. Abends erhält sie Medikamente, wenige Minuten darauf wird sie müde und schläft ein. Um drei Uhr morgens wird gewöhnlich die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen, mit einer Taschenlampe hineingeleuchtet, dann wird es wieder dunkel. Ness dreht sich um und versucht wieder einzuschlafen. Nach einer Woche verlässt Ness das Spital. Die Medikamente nimmt sie mit. Bedenken gegenüber den Tabletten hat Ness keine. Sie vertraut den Ärzt:innen, die sie ihr verschrieben haben.

Medikamente wirken, aber mit Nebenwirkung

Die Medikamente zeigen Wirkung. „Meine emotionalen Ausbrüche waren nicht mehr so stark. Die Trauer wurde aufgehalten“, erzählt Ness. Ihre Stimmungen schwanken nicht mehr so extrem wie zuvor. Aber die Medikamente haben auch eine Kehrseite. „Es ist nicht nur das Negative abgestumpft, sondern auch das Positive hat sehr schnell abgenommen“, sagt Ness. „Es waren überhaupt keine Emotionen mehr da. Ich war einfach nur eine Hülle.“ Ness merkt, dass sie nicht mehr unbeschwert glücklich sein kann und auch nicht mehr herzhaft lacht. Suizidale Gedanken kommen wieder und Lust auf Sex hat Ness überhaupt nicht mehr.

Trotzdem nimmt Ness bis 2014 die Tabletten, hält sie für besser als die unbehandelten Stimmungsschwankungen und die Trauer, die sie zuvor gefühlt hat. Dann probiert Ness in Absprache mit ihrer Ärztin andere Medikamente aus. Auch die führen dazu, dass Ness sich leer fühlt. Sie probiert andere aus und ihr ganzer Körper juckt. Ness ist müde. „Ich hab innerhalb von acht oder neun Jahren locker fünf verschiedene Antidepressiva genommen“, erzählt sie heute. „Nach einiger Zeit wusste ich schon gar nicht mehr, wer ich bin und was meine Emotionen sind. Wie würde mich eigentlich fühlen und wie auf Sachen reagieren, wären die Medikamente nicht dabei?“

Ness und ihr Hund im WG-Zimmer

Dann reicht es ihr. Mit Anfang 20 setzt sie Medikamente ab. Der Entzug ist hart. Ness fühlt sich traurig und weint viel. Sie greift doch wieder zu den Tabletten. „Es ist fatal, wenn man sich zu 100 Prozent auf Medikamente verlässt und nicht versucht, sein Umfeld zu bearbeiten“, erklärt Ness. „Du kannst nicht davon ausgehen, dass das Leben zu 100 Prozent besser wird, nur weil du Medikamente nimmst, wenn du nicht beginnst, auch sonst was zu ändern.“ Sei es früher aufzustehen, Rhythmus in seinen Alltag zu bringen, Therapie oder Bewegung zu machen. „Das ist mir mit Anfang 20 aber nicht so ganz bewusst gewesen, wie es mir vielleicht heute bewusst wäre.“

Änderung des Lebensstils hilft

Heute ist Ness die Wichtigkeit ihres Lebensstils bewusst, erzählt die junge Deutschlehrerin und stützt sich auf dem Holztisch vor ihr ab. Durch die angelehnte Balkontüre weht ein frischer Wind in Ness‘ WG-Zimmer hinein. Seit vier Jahren nimmt sie keine Medikamente mehr. „Natürlich gibt es immer Phasen, in denen ich weinerlich bin und die Welt scheiße ist, in denen man das alles nicht will und überhaupt und sowieso. Aber es ist alles nicht mehr in dem Ausmaß, in dem es von 2010 bis 2016 war“, erzählt Ness. Was sich geändert hat? Ness bemüht sich um Routinen. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommt, lässt sie sich nicht mehr schlittern, wie sie sagt. Dann kocht sie, räumt ihr Zimmer auf oder geht mit ihrem Hund in den Wald. Das hilft ganz besonders. „Ich war zum Beispiel gerade jetzt zwei Stunden mit dem Hund draußen, bin in der Sonne gelegen. Da hab ich gemerkt: Okay, jetzt ist’s wieder gut, jetzt passt’s wieder. Das ist eine Erinnerung daran, dass kleine Sachen eigentlich sehr ausschlaggebend sein können für eine bessere Laune.“

In Zeiten, in denen es Ness besonders schlecht geht, denkt sie immer wieder darüber nach, wieder Antidepressiva zu nehmen, entscheidet sich letztendlich aber doch meistens dagegen. Ein Mal hat sie im ersten Jahr von Corona wieder für ein paar Wochen Gebrauch von Medikamenten gemacht, sonst lässt sie lieber die Finger davon und ist froh, sich selbst voll und ganz spüren zu können. Abraten würde sie anderen deshalb von Psychopharmaka aber auf keinen Fall. „Es kann sein, dass es dir von Medikamenten schlecht geht, aber es kann auch sehr gut sein.“ Am besten zu Ärzt:innen gehen, sich beraten lassen, Information einholen und gut darauf achten, wie es einer:m in der ersten Zeit mit den Tabletten geht.

Fühlst du dich depressiv, ängstlich oder suizidal? Hier findest du Unterstützung.

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