Mit dem Geschlecht ins Reine kommen: Claire
Claire ist eine Frau und wird dennoch lange als Bub gelesen. Das wirkt sich auf ihre Psyche aus. Mit der Transition wird sie glücklicher.
Text: Jana Reininger
Fotos: Jana Reininger
Psychotherapeut:innen kennt Claire gut. Seit dem frühen Volksschulalter wird sie immer wieder zur Therapie geschickt. Mal wegen psychischer Unruhe, mal wegen Unzufriedenheit. Claire ist neun Jahre alt und heißt noch überhaupt nicht Claire, als sie vor einer weiteren Psychotherapeutin sitzt. Sie holt tief Luft, sammelt all ihren Mut, erzählt der Therapeutin, sich nicht wie ein Bub zu fühlen, obwohl sie von ihrer Familie, ihren Freund:innen und von Fremden als Bub gelesen wird. Von klein hat Claire gerne Glitzer, Kleider und pink getragen, hat lieber mit den Mädchen ihrer Klasse gespielt als mit den Burschen. Verhalten und Aussehen, das als typisch männlich gilt, fand sie immer schon abstoßend – an anderen und auch an sich selbst. „Spiel ein bisschen Fußball, dann wird das schon vergehen“, antwortet die Therapeutin. Claire hasst Fußball. Sie fühlt sich nicht verstanden. Dass sie gerade diskriminiert wird, merkt sie in diesem Alter noch nicht. Über die Existenz von Transidentität lernt Claire erst viel später. In ihrem Umfeld spricht niemand darüber.
Heute ist Claire Kardas 19 Jahre alt. Sie ist stellvertretende Obfrau des Frauenvolksbergehrens und Aktivistin für LGBTQIA+-Forderungen, für Trans-Themen und für das Klima. Für das Gespräch mit ZIMT sitzt Claire auf einer stoffüberzogenen Holzbank in einem Wiener Kaffeehaus. Neben ihr sind einige Tische leer und dennoch ist es laut. Stimmengewirr vermischt sich mit dem Klappern von Geschirr. Der Kellner im Frack stellt Kaffee vor Claire ab.
Claire ist heute stellvertretende Obfrau des Frauenvolksbergehrens und Aktivistin für LGBTQIA+-Forderungen, für Trans-Themen und für das Klima, Foto: Jana Reininger
Durch die Transition zu sich selbst finden
Claire ist groß. Blonde Haare fallen auf ihre Schultern. Sie spricht langsam, ihre Worte wirken überlegt. Sie lehnt sich zurück, scheint ruhig und gelassen. Immer wieder unterbricht sie ihren Redefluss, um geduldig Begriffe zu erklären, die mit ihrer Identität zusammenhängen. Claire hat Übung mit Interviews. Sie erzählt regelmäßig persönliche Geschichten, um darauf aufmerksam zu machen, was Trans-Personen wie sie tagtäglich erleben. Für Claire ist das Gewohnheit. Müde macht sie das Erklären nur selten. Ihr ist es wichtig, ein Vorbild für andere zu sein, denn eine Person, zu der Claire selbst aufsehen kann, hätte sie sich schon viel früher gewünscht.
Drei Jahre zuvor erlebt Claire das, was häufig Coming Out genannt wird: Sie lädt ihre Familie, ihre Freund:innen und die Welt in ihre Gefühlswelt ein. Sie erklärt, dass sie mit ihrem offiziellen Geschlecht nicht im Reinen ist (‚Geschlechtsdysphorie‘), dass sie unglücklich damit ist, als Mann gelesen zu werden und in Wahrheit eine Frau ist. Sie wechselt ihren Namen, beginnt ihr Äußeres ihrem Inneren anzupassen und wird offiziell zu jener Frau, die sie schon immer war.
Ungleichbehandlung als Frau
Als sie das erste Mal mit ihrem neuen Namen zum Arbeitsamt geht, sieht ihre Betreuerin sie vielsagend an: „Sie wissen aber schon, dass sie jetzt als Frau schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt haben werden.“ Für Claire ist das der Beginn ihrer neuen Lebensrealität.
Claire bleibt die gleiche Person, die sie immer war. Aber sie beginnt sich anders zu präsentieren. Sie zeigt sich nun offen als Frau. Durch die Transition verändert sich Claires Körper. Sie bekommt Kurven und fühlt sich in ihrer Kleidungswahl freier. Sie genießt es, sich so zu kleiden, wie es Frauen zugeschrieben wird.
Claire wird nun als Frau gelesen. Damit wird sie anders behandelt als zuvor. „Als ich mich als Mann präsentiert hab, sind mir andere Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben worden. Ich wurde als stark und innovativ gesehen. Als ich begonnen habe, mich als Frau zu präsentieren, wurde ich in ähnlichen Situationen als übermütig gesehen.“ Claire werden nun nicht mehr die gleichen Fähigkeiten zugeschrieben wie zuvor. Sie hat den Eindruck, sich umso mehr beweisen zu müssen, um dasselbe Ausmaß an Anerkennung zu bekommen. Sie merkt, dass sie mehr Druck empfindet, stets freundlich zu sein, zu lächeln, es dem Gegenüber leicht zu machen, an sie heranzutreten. Plötzlich spielt Claires Körper eine größere Rolle als zuvor. Sie wird in ihrer Schönheit beurteilt, es scheint wichtiger, wie sie aussieht.
Immer wieder wird Claire auf offener Straße belästigt. Die Blicke, die Männer plötzlich auf ihrem Körper hinterlassen, sind ihr unangenehm. Sie wird angestarrt, angesprochen und auch körperlich angegriffen. Claire bleibt alleine mit ihren Gefühlen zurück. Sie empfindet Ekel, Unwohlsein und Unsicherheit. Bei körperlichen Angriffen, aber auch bei verbalen.
Psychisches Wohlbefinden durch geänderte Geschlechterrolle
Trotzdem bereut Claire die körperliche Veränderung nicht. „Ich habe mich dazu entschieden, das zu machen, weil es das Richtige ist.“ Eine Frau zu sein, bedeutet für Claire nichts Biologisches – und auch nicht, traditionelle Rollenbilder zu erfüllen. „Ich glaube, eine Frau zu sein bedeutet einfach nur sehr viele gesellschaftliche Normen, die einfach schon ur lang existieren und die heutzutage in unserer jetzigen Gesellschaft gar nicht mehr so viel Sinn ergeben, weil wir uns verändern“, erklärt Claire. „Fuck gender norms“, sagt sie auf Englisch und fügt noch hinzu: „but still let trans people be who they are”.
Wenn Claire heute ihr Make-Up hervor kramt, es auf ihr Gesicht malt und neue Farben und Formen ausprobiert, fühlt sie sich glücklich. „Das ist Gender Euphorie“, erklärt sie. „Es beschreibt, dass man sich in einem Geschlecht so wohl fühlt, sich so anerkannt fühlt, dass man glücklich damit ist. Das kommt in Situationen auf, in denen ich mich zuvor unwohl gefühlt hab und dann merke, dass ich doch okay bin, wie ich bin. Dass ich akzeptiert werde, genau so wie ich bin.“