Triggerwarnung
Der Artikel befasst sich mit dem Thema Borderline. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.
Vom Stigma zur Ressource: Leonie
Leonie hat Borderline und spürt ihre Probleme vor allem in Beziehungen. Erst als sie ihr toxisches Umfeld gehen lässt, findet sie den Weg zur Besserung.
Eigentlich war es ein schöner Abend zwischen Leonie und ihrem Freund. Sie haben getrunken und getanzt, mit Freund:innen gefeiert, gelacht und geschmust. Leonie hat das Glück in ihrem Bauch gespürt, die Mundwinkel nach oben gezogen. Sie sind händchenhaltend nachhause gelaufen. Zu Fuß quer durch die Stadt, nachhause zu Leonie.
Dann ist irgendetwas passiert, das das Glück gedreht hat. Leonie weiß gar nicht mehr so genau was. Sie haben begonnen zu streiten, zu schreien, Türen zu knallen. Seitdem ist es still. Ihr Freund hat fluchend seine Sachen gepackt und Leonie sitzt weinend auf ihrer Couch. Voller Scham, Reue und Trauer, allein.
Zu jenem Zeitpunkt ist Leonie 27 Jahre alt. Seit sie sich als Teenager selbst verletzt hat und von ihrer Mutter zur Therapie gebracht wurde, hat Leonie Verdacht auf eine Diagnose: Borderline. Sobald Leonie erwachsen ist und somit diagnostiziert werden darf, bestätigt sich die Diagnose. Ihre Stimmungen wechseln rasch. Von heiß auf kalt, von kalt auf heiß. Das Stigma um die Erkrankung ist groß. Aber Leonie hat ihr Stigma zur Ressource gemacht. Heute ist Leonie 32 Jahre alt und fühlt sich gesund. „Ich glaube, wenn ich heute nochmal eine Diagnose machen lassen würde, würde nicht mehr Borderline rauskommen“, sagt sie.
Leonie in ihrem Wohnzimmer
Borderline macht sich in Leonies Beziehungen bemerkbar
„Es gab in meinem Leben immer zwei Phasen. Eine innere Leere, die sich anfühlt, als wäre man tot. Man ist mitten in einem Raum voller Leute, aber fühlt sich einsam. Und dann, auf der anderen Seite, hat man diese tausend Gefühle, diese Stimmungsschwankungen“, erzählt Leonie, als sie sich an die letzten Jahre zurückerinnert. „Wenn ich in einer schlechten Phase bin, wechselt meine Stimmung innerhalb von Minuten. Ich bin glücklich, dann bin ich traurig, dann bin ich wütend.“
Besonders die Leere macht Leonie zu schaffen, bevor sie es zur richtigen Behandlung schafft. „Das ist ein ganz schreckliches Gefühl. Man fühlt einfach nichts und gleichzeitig fühlt man dieses extreme, leere Gefühl. Ich hab versucht, das mit allen möglichen Dingen in meinem Leben zu füllen.“ Leonie verletzt sich selbst. Dann hört sie damit auf, findet Ersatz in toxischen Beziehungen. Sie sehnt sich nach Leidenschaft und die bekommt sie – gekoppelt mit extremen Konflikten, mit enormen Glücksgefühlen und enormem Schmerz. „Ich habe aufgehört mich körperlich selbst zu verletzen und mir stattdessen Menschen gesucht, die das für mich erledigen.“
Leonie findet sich in freundschaftlichen und romantischen Beziehungen wieder, in denen ihre Freund:innen genauso ungesunde Verhaltensmuster haben, wie sie selbst. Die Konflikte mit ihrem Freund schaukeln sich hoch. Es fallen Schimpfworte, Leonie droht mit Suizid. Sie versucht ihren Freund zu einem schlechten Gewissen zu manipulieren, doch der ignoriert sie nur. Leonie ist erschöpft. Sie ist 28 Jahre alt und merkt, dass sie eines Tages Kinder haben und dafür gesund sein möchte. Sie merkt auch, dass sie ihre Probleme viel zu lange einfach ausgehalten hat. Ihr Instagram Account hat damals 25.000 Follower:innen. Von ihrer Reichweite finanziert Leonie ihr Leben. Leonie trifft eine Entscheidung: Sie postet öffentlich über ihre Erkrankung und beginnt Psychotherapie. Auf Medikamente verzichtet Leonie.
Leonie in ihrer Nachbarschaft
Öffentlich über die Erkrankung sprechen hilft
Durch die Bekenntnis zu ihrer Erkrankung verliert Leonie mehrere Kund:innen aus dem Lifestyle Bereich. Aber sie gewinnt auch einige neue – und sie wird zu Veranstaltungen eingeladen: Mal zu Podiumsdiskussionen, mal zu Kampagnen mit Politiker:innen. Das öffentliche Sprechen über ihre Erfahrungen befreit sie und auch das Sprechen hinter verschlossenen Türen, auf den Sofas der Psychotherapeut:innen, hilft ihr.
Leonie probiert Therapie bei verschiedenen Therapeut:innen aus. Sie erwischt sich dabei, mit einem Therapeuten zu kokettieren. Bei Frauen* passiert Leonie das nicht. In vielen Dingen fühlt sie sich von der gleichgeschlechtlichen Therapeutin besser verstanden. Sie spricht offener über Sexualität und auch über den Beruf, hat das Gefühl mit ihrer Sichtweise mehr übereinzustimmen.
Leonie schreibt viel, reflektiert ihr Erleben. Dann lässt sie ihren Freundeskreis gehen. Der Verlust der Menschen, die ihr wichtig waren, schmerzt. Leonie bleibt mit zwei engen Freundinnen zurück, den Rest baut sie sich neu auf. Der Anfang ist hart, aber Leonie weiß, dass es ihr so besser geht.
Sie entdeckt Yoga für sich und ist begeistert von den Auswirkungen, die die körperliche Bewegung auf ihre Psyche hat. „Ich hatte immer ein starkes Problem mit Impulskontrolle“, erzählt Leonie. „Yoga hat mir extrem viel Ruhe gegeben. Ich habe gelernt, in einer triggernden Situation einfach mal durchzuatmen und aus der Situation zu gehen.“
Heute macht Leonie selbst eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. „Am Ende ist es okay“, sagt sie und um ihre dunklen Augen bilden sich kleine, feine Lachfältchen.