Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit dem Thema Depressionen. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Vor der Klippe Kurve kratzen: Ryan

Mit 25 Jahren bekommt Ryan eine Diagnose: Depressionen. Aber erst nach dem Fall kommt die Besserung.

Text und Fotos: Jana Reininger

Datum: 31. Januar 2022

Ganz oben auf dem Ziegeldach des vierstöckigen Hauses sitzt Ryan. Ganz sicher, denkt er, die Silhouette ist eindeutig. Aber Ryan steht doch eigentlich unten, starrt in die Luft und sieht auf dem Ziegeldach des vierstöckigen Hauses: sich selbst. „Kann doch nicht sein“, sein Herz rast.

Als Ryan seine erste und einzige Halluzination erlebt, ist er 25 Jahre alt. Heute ist er 29. Er hat ein Burnout und einige Jahre Depressionen hinter sich. Heute sieht er klar. Er sitzt in seinem Stammcafé und rührt durch den Kaffeeschaum, während er erzählt. Seine Haare sind kurz geschnitten, in seiner Brille spiegelt sich das Licht der Lampen über dem Tisch wider. Die Musik, die über Ryans Kopf aus den Boxen strömt, ist laut. Ryan spricht leise, aber deutlich.

 

Schlechte Arbeitsbedingungen als Auslöser

Als Ryan 25 ist, arbeitet er seit eineinhalb Jahren in einer Werbeagentur. „Das war der erste Job in der Branche, in der ich immer sein wollte“, erzählt er. „Ich war super ehrgeizig und mir wurde schnell Vertrauen gegeben. Aber gleichzeitig war ich komplett grün hinter den Ohren.“ Zuvor arbeitete Ryan im Verkauf. Die Gelegenheit, plötzlich im kreativen Bereich zeigen zu dürfen, was er noch alles kann, ist ihm viel wert. Er möchte sich beweisen, alles richtig machen. Erst kümmert er sich um den Social-Media-Auftritt der Kund:innen, dann entwirft er schnell schon selbst Konzepte, leitet Produktionen. Er fotografiert und dreht Videos, schneidet und bearbeitet, kümmert sich um die Vermarktung und plant Deals mit Influencer:innen. Offiziell ist Ryan als Texter eingestellt. Inoffiziell erledigt er Arbeit, die eigentlich vier Personen machen sollten. Immer wieder verspricht sein Chef verspricht Entlastung, eine Gehaltserhöhung oder weitere Mitarbeiter:innen. Aber er hält seine Versprechen nie. Ryan ist gut in dem, was er tut, will seine Chance auf keinen Fall vermasseln. Manchmal passieren dennoch Fehler. „Manche Dinge hab ich einfach nicht wissen können“, sagt er. Trotzdem bekommt er Ärger. Wird zum Schuldigen gemacht in Tätigkeiten, die er nie gelernt hat. Das nimmt Ryan sich zu Herzen. „Ich hab mich dort ziemlich ins Burnout gearbeitet. Das ist ziemlich schnell gegangen. Dieses Burnout hat dann in eine Depression gemündet. Ich hab Halluzinationen geschoben, mich selber auf Dächern gesehen und Suizidgedanken gehabt“, erzählt Ryan heute, vier Jahre später.

Als Ryan eines Tages auf dem Weg zur Arbeit ist, traut er seinen Augen nicht. Er sieht sich selbst auf dem Dach eines Hauses sitzen. Dabei steht er doch unten, auf dem Gehsteig. Ryan bleibt abrupt stehen, zögert und fasst einen Entschluss: Es reicht. Er fährt zum Sozialpsychiatrischen Notdienst und erhält Beruhigungstabletten. Nach zwei Tagen geht Ryan wieder zur Arbeit. Ein paar weitere Monate lang reißt er sich zusammen. Dann kündigt er.

 

Diagnose Depression

Die nächsten Monate verbringt Ryan zuhause. Er ist müde und freut sich über die kleinen Dinge des Lebens nicht mehr. Fühlt sich wertlos und niedergeschlagen. Hat kein Interesse, das Haus zu verlassen, beschallt sich mit Netflix. Suizidgedanken rasen immer wieder durch seinen Kopf. Selbst im Hochsommer, in dem er eigentlich immer gerne unterwegs war, kommt er nicht aus dem Bett.

Ryan erhält eine Diagnose. Dass er Depressionen haben soll, kann er schwer annehmen. „Ich bin doch kein Weichei“, denkt er sich. Trotzdem geht er zur Psychotherapie und schluckt die Tabletten, die ihm verschrieben werden. Erstmal geht es ihm damit komisch. „Gedämpft, als wäre ich ein Wattebäuschchen“, beschreibt er. „Ich hab mich sehr emotionslos gefühlt. Nicht schlecht, ich hab einfach existiert, aber gefühlt habe ich nichts.“ Als das komische Gefühl endet und Ryan anfängt, sich unbeschwerter zu fühlen, bekommt er auch wieder Lust das Haus zu verlassen. Er meldet sich bei seinen Freund:innen zurück, fängt an wie früher fortzugehen, in Clubs aufzulegen, Konzerte zu spielen. Ryan ist wieder wie früher, wie vor dem Burnout. Dann wird er übermütig. Nach einem halben Jahr Antidepressiva setzt er die Medikamente ab – und beendet auch die Psychotherapie.

Die Sorgen vergessen: Ryan im Basketballkäfig

How to… Routinen in den Tag bringen, um gegen Depressionen anzukämpfen? Wenn du morgens aufstehst und auf die Toilette gehst, gleich mal Gesicht waschen und Kaffee kochen gehen, statt sich noch für weitere fünf Minuten zurück ins Bett zu legen, sagt Ryan. Sonst versumperst du vielleicht erst recht wieder zwischen den Daunen.

Kurz vor der Klippe die Kurve gekratzt

Als Ryan kurz darauf mit seinen Freunden auf Konzerttournee geht und dafür quer durch Deutschland reist, fängt er an zu bereuen. Auf der Bühne fühlt er sich berauscht und unschlagbar. Die gute Laune versetzt ihn in einen Höhenflug. Aber wenn sie endet, wenn Ryan die Bühne verlässt, wenn Ruhe einkehrt, kommt die Schwere zurück. Ryan fühlt sich leer. „Ich hab zwei Tage in der Woche funktioniert und dann gar nicht mehr“, erinnert er sich. „Ich war jedes Wochenende woanders, hab gefeiert, aber im Endeffekt war ich nicht glücklich. Das hat mir einen Denkanstoß gegeben.“ Ryan realisiert, dass er seine Behandlung zu früh abgebrochen hat. „Kurz vor der Klippe hab ich angefangen, das alles ernst zu nehmen.“

Ryan nimmt wieder Antidepressiva und geht auch wieder zur Therapie. Dort spricht er viel über Vergangenes – die Kindheit, die Jugend – und merkt, dass er schon seit vielen Jahren krank ist. „Ich bin mit 25 Jahren in der Therapie draufgekommen, dass meine Depression schon mit 15, 16 begonnen hat. Dass ich laufend weggelaufen bin und mich self-medicated hab, durch das Trinken, das Feiern gehen und Gras rauchen. Ich war halt auch 10 Jahre durchgehend high und hab mich nie wirklich damit auseinandergesetzt. Als ich in der Agentur angefangen hab, hab ich cold turkey aufgehört mit dem Grasrauchen. Das hat sich angefühlt, als würd ich nicht mehr weglaufen, sondern stehenbleiben und mich von den Dämonen einholen lassen.“

Doch erst als Ryan den Dämonen auch ins Auge schaut, besiegt er sie auch. „Ich hab in der Therapie gelernt, dass ich erst mal durch die ganze Scheiße durch muss, damit es mir besser geht. Bis ich wirklich am Boden ankomm’. Dann geht’s erst wieder bergauf. Man muss sich halt darauf einlassen, in die tiefsten Abgründe von sich selbst hineinzuschauen.“ Und das tut Ryan heute.

 

Antidepressiva schenken Kraft

„Seitdem ich wieder Medikamente nehme, hat sich alles zum Guten gewandt. Ich bin frei von depressiven Episoden. Ich hab angefangen, mich mehr zu bewegen. Ich bin jeden Tag mindestens eine halbe Stunde draußen, Basketball spielen oder Skaten. Das war ein großer Teil der Rehabilitierung.“ Ohne Antidepressiva hätte Ryan weder die Motivation noch die Kraft gehabt, sein Leben umzukrempeln. „Hätte ich nicht wieder mit der Behandlung angefangen, wär das nie passiert, dass ich jetzt vollkommen frei von bösen Gedanken bin und mit Schicksalsschlägen besser zurechtkomm.” Ryan hört auf durch den Schaum zu rühren und nimmt einen Schluck Kaffee. „Ich weiß jetzt, wie ich damit umgeh.“

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