Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit Depressionen, Burnout und körperlichen Beschwerden. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Zwei Wölfe in einer Brust: Kathi

Kathi ist Autistin und hat ADHS. Eine Diagnose erhält sie erst mit Anfang dreißig. Die Erkenntnis führt zu vielen Veränderungen in ihrem Leben.

Text: Sabrina Haas

Fotos: Privat

Datum: 1. Juni 2022

Weihnachten steht vor der Tür. Das Jahr 2018 nähert sich dem Ende. Kathi und ihr Mann wollen über die Feiertage ihre Familien besuchen, doch Kathi ist überfordert. Wenn sie nur daran denkt mit dem Auto oder Zug zu fahren wird ihr unwohl. In wenigen Sekunden denkt sie an alles, das schief gehen könnte. Ihre Gedanken rasen. Zu ihrem Mann sagt sie, sie habe keine Kraft sich „normal” und angepasst zu verhalten. Sie könne über die Feiertage unmöglich die Rolle als Ehefrau, Schwiegertochter und Tante erfüllen. Kathi fängt an zu weinen, zu hyperventilieren und kann sich fast nicht mehr bewegen. Einige Tage darauf entwickelt sie ein Magengeschwür. Das ist nun schon das zweite Mal innerhalb eines Jahres, dass sie ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommt. 

Heute ist Kathi 33 Jahre alt, psychologische Trainerin, Beraterin und systemische Coachin. Sie ist spezialisiert auf ADHS, Autismus und Hochsensibilität. Psychologie und Kommunikation faszinieren sie. „Ich habe mich schon immer gefragt, warum Menschen sich so verhalten, wie sie es tun. Weil ich es nicht verstanden habe und weil ich es einfach wissen wollte, auch in Bezug auf Mimik und Gestik“. Dieses Spezialinteresse, oder „Special Interest“, wie es in der autistischen Community genannt wird, hat Kathi auf Tiktok bekannt gemacht. Seit November 2020 klärt sie auf sozialen Medien über Neurodiversität auf. 88.000 Menschen folgen ihr auf der Videoapp und schauen ihre Inhalte, die Fachwissen vermitteln, meist in kürzester Zeit und oft mit viel Humor.

Für das Gespräch mit ZIMT blickt Kathi auf ihren Computerbildschirm und öffnet den Videochat. Über ihren lila Haaren trägt sie ein großes Headset. Kathi ist Gespräche via Videochat gewöhnt, denn sie tauscht sich regelmäßig online mit neurodivergenten Content Creators aus. Links neben ihr an der Wand hängt eines der Arbeitsblätter, das sie in ihrem Etsy-Shop anbietet. Die darauf aufgeführten Methoden sollen Menschen mit ADHS helfen, Struktur in ihren Tag zu bringen und überwältigende Aufgaben besser zu meistern. Die überwältigenden Gefühle kennt Kathi selbst gut.

 

Unentdeckte Neurodiversität

Vor fünf Jahren beginnt Kathi als Quereinsteigerin im Personalmanagement zu arbeiten. Zu ihren Tätigkeiten gehören Lohnabrechnungen, das Erstellen von Verträgen, das Organisieren und Koordinieren von Veranstaltungen und die Pflege von Firmendaten. Seit sie dort arbeitet geht es ihr immer schlechter. Die Firma, in der Kathi tätig ist, ist ein Start-Up und die Strukturen noch nicht festgesetzt. Es fällt ihr schwer, ihren Tag zu organisieren und den Überblick zu behalten. Kathi übernimmt viel Verantwortung. Mit aller Mühe versucht sie sich zu konzentrieren. Trotzdem unterlaufen ihr immer wieder Fehler. Das macht ihr zu schaffen. Letztendlich rutscht sie ins Burnout und hat Depressionen. „Ich habe zwar meine Arbeit gemacht, bin aber am Wochenende nur noch da gehangen und hatte vermehrt Nervenzusammenbrüche“. Dass Menschen mit ADHS schneller gestresst sind und ein höheres Risiko haben, an Burnout und Depressionen zu erkranken, weiß sie damals noch nicht. Auch, dass autistische Menschen stressbedingt öfter Magen-Darm-Probleme haben, erfährt sie erst mehrere Monate später. 

 

(Spät-)Diagnose dank Eigenrecherche 

Kathi liegt mit ihrem Magengeschwür zuhause und kann sich kaum bewegen. Sie lässt sich krank schreiben. Nach einigen Wochen des Ausruhens geht es ihr endlich besser. Sie holt sich ihren Laptop ins Bett und fängt an zu recherchieren, was sie machen kann, um besser organisiert und weniger vergesslich zu sein. „Da habe ich das allererste Mal in einem Buch gelesen, dass Menschen mit ADHS ein höheres Risiko haben, an Burnout und Depression zu erkranken, weil die halt einfach schneller gestresst sind“, schildert Kathi und merkt an: „Oder wenn die bestimmten beruflichen Anforderungen nicht ordentlich angepasst sind.” Kathi recherchiert weiter und stößt mitunter auf den Youtube-Kanal ‘How to ADHD’. Da kommen Themen wie ADHS bei Mädchen und Frauen vor und wie es ist, erst spät diagnostiziert zu werden. „Das hat sich für mich alles total richtig angefühlt. Das waren die ganzen Herausforderungen, mit denen ich schon mein ganzes Leben lang zu kämpfen hatte, die Sachen, die ich unterdrückt hatte.” Kathi holt sich eine Überweisung von ihrem Hausarzt, sie unterzieht sich ein paar Tests und erhält eine offizielle ADHS-Diagnose. Sie spricht offen mit ihrem Vorgesetzten darüber, der von nun an ein Auge auf sie hat und sie zu unterstützen versucht. Es geht ihr besser. Die Probleme mit der Konzentration verschwinden aber nicht.

Auch weiterhin gibt es in Kathis Leben immer wieder Situationen, die sich nicht mit ihrer ADHS-Diagnose erklären lassen. So geht sie eines morgens ins Bad um sich für die Arbeit fertig zu machen. Eigentlich geht es ihr gut, doch als ihr Mann auf einmal vor ihr steht, sie küssen und umarmen möchte, sackt sie zusammen. Das Gefühl, berührt zu werden stresst sie. Sie hat einen Meltdown. Meltdowns hat Kathi wenn sie durch Umwelteinflüsse oder Emotionen überreizt ist. Dann weint sie stark und hyperventiliert. Manchmal wirft sie auch mit Dingen um sich. Solche Anfälle hat sie schon ihr ganzes Leben lang. In der Schule ist sie oft überreizt und überfordert und wird dafür kritisiert und gemobbt. „Ich habe die anderen Kinder nicht so gut verstanden und sie haben mich nicht verstanden.“

Wieder findet Kathi online Menschen, die die Welt ähnlich wahrnehmen wie sie. Mehrere Monate lang beschäftigt sie sich mit dem Thema Autismus, bis sie vor einem Jahr schließlich eine professionelle Diagnose machen lässt. Endlich hat sie eine Erklärung für ihre Meltdowns und weiß, warum sie sich ihr Leben lang wie ein Alien gefühlt hat.

Kathi vor Hintergrund mit gelb-weißem Muster, Kathi vor einem Blumenstrauch

Zwei Wölfe in einer Brust

Für Kathi sind die beiden Diagnosen, als ob sie zwei Wölfe in ihrer Brust hätte und jedes Tier etwas anderes will – eine beliebte Metapher unter Menschen mit dieser Doppeldiagnose, denn ADHS und Autismus arbeiten oft gegeneinander. „ADHS möchte gern Action erleben, möchte neue Erfahrungen machen, aber der Autismusanteil möchte halt lieber, dass wir auf bekanntem Terrain bleiben und, dass alles bis ins kleinste Detail geplant ist, dass sich alles sicher anfühlt“, erklärt Kathi. „Dann gibt es bei ADHS zum Beispiel die Probleme mit dem Zeitmanagement. Sehr viele Menschen mit ADHS haben einfach gar kein Gefühl dafür wieviel Zeit vergeht. Dagegen läuft dann sozusagen die Vorliebe von Autismus, Zeitpläne exakt einzuhalten.“

 

Meditation, Freund:innen und Ausbildung helfen

In Behandlung war Kathi nie. Sie war zwar bei diversen Therapeut:innen auf der Warteliste, doch als sie nach Monaten endlich eine Rückmeldung erhielt, empfand sie es nicht mehr als notwendig hinzugehen. Durch ihre Eigenrecherche, durch Ausbildung und den Austausch mit anderen Menschen findet Kathi, genug Wissen und Ressourcen gesammelt zu haben, um ohne professionelle Hilfe gut zurecht zu kommen. Sie schaut genau darauf, wie es ihr geht, und setzt schneller Grenzen, als früher. Sie ist ehrlich zu sich und ihren Mitmenschen, sagt Termine lieber ab bevor es zu viel wird. Zu viele Eindrücke an einem stressigen Tag können zu einem Meltdown führen. Dann muss sie sich manchmal zwei bis drei Tage erholen. Zweimal täglich meditiert Kathi. Dafür bietet ein gemütlicher Sessel in ihrem Zuhause einen festen Platz. Überzeugt haben sie davon Fachartikel, die berichtet haben, dass Meditation die Gehirnstruktur positiv verändere. Kathi hat in ihrem Umfeld viele Menschen, auf die sie sich verlassen kann.

Ihre beste Freundin hat für sie immer etwas Süßes in der Tasche. Das war schon vor Kathis Diagnose so. Die Fähigkeit ihren Körper wahrzunehmen ist durch ADHS und Autismus weniger ausgeprägt. Kathi merkt oft erst spät, dass sie noch nichts oder zu wenig gegessen hat. Hunger und Unterzuckerung können großen Frust auslösen und sogar zu einem Meltdown führen. Ein Müsliriegel kann in solchen Momenten schnelle Abhilfe leisten. 

Mit ihrem Mann hat sie ein Codewort ausgemacht, dass sie aus ihren Emotionen rausholt wenn sie gerade am Hoch- oder Runterfahren ist, das aber selbst nicht bemerkt. Wenn sie überreizt ist, kann das zu Frustrationen führen. Sie redet dann viel schneller und aufgeregter und hat Schwierigkeiten logisch zu denken. Das Codewort erinnert sie an eine lustige und absurde Szene aus einer Serie. Wenn ihr Mann das Codewort erwähnt, lacht sie, kann wieder logisch denken und ist in der Lage ihre Frustration runterzufahren. „Ich bin draufgekommen, dass das Gehirn keine Angst oder Wut empfinden kann, wenn es Freude empfindet.”

Auch in ihrer Ausbildung zur systemischen Coachin, die sie letztes Jahr abgeschlossen hat, erfährt Kathi viel Positives. Dort hat sie sich zum ersten Mal außerhalb von ihrem engsten Vertrautenkreis damit geoutet, die Kombination ADHS-Autismus zu haben. „Wenn ich zum Beispiel in der Früh mitten im Meltdown zur Ausbildung kam, wurde sich um mich gekümmert“, schmunzelt sie. „Die Menschen dort waren sehr heilsam und therapeutisch für mich.“ Im Rahmen der Ausbildung hat Kathi sich selbst coachen lassen und sich so der Angst vor den Herausforderungen ihrer Diagnose widmen müssen. Dadurch hat sie Zuversicht, Selbstbewusstsein und Mut gesammelt. Depressionen hat Kathi heute keine mehr.

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Auf Social Media Kanälen veröffentlicht Kathi regelmäßig Inhalte zu Themen rund um Neurodiversität. Unter @guardianofmind kannst du ihr auf Instagram, Tiktok und Facebook folgen. Kathis Etsy-Shop findest du hier: https://www.etsy.com/shop/guardianofmind

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