Angst vor dem Drang: Christoph
Christophs täglicher Begleiter ist die Angst. Er leidet an einer generalisierten Angststörung. Sein großes Problem: nicht rechtzeitig eine Toilette aufsuchen zu können.
Text: Tara Giahi
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Alles begann bei einer Zugfahrt. Christoph verspürt plötzlich starken Stuhldrang, im Wagon gibt es jedoch kein WC. Sein Herz klopft schneller, er beginnt zu schwitzen – Panik. An einem Bahnhof ohne Toilette stürzt er aus dem Zug und erleichtert sich in der Natur. Er fragt sich: „Was ist, wenn ich irgendwann wieder in diese Situation gerate?“ Diese Not empfindet er als so traumatisch, dass er in ein tiefes Loch fällt. Christoph verlässt das Haus nicht mehr, vernachlässigt den Kontakt mit Freund:innen und bricht sein Jura-Studium ab. Über Monate weiß er nicht, wie es weitergehen soll.
„Ich sitze gefühlt nur zu Hause“
Christophs erste Panikattacke ist mittlerweile 10 Jahre her. Heute ist Christoph 32, arbeitet in Vollzeit als Beamter und lebt mit seiner Frau, seiner zweijährigen Tochter und der Angst zusammen. Etwas, das für die meisten selbstverständlich ist, lässt ihn kein ganz normales Leben führen – er sitzt praktisch nur im Haus. Verabredungen mit Freund:innen sind schwierig, er kann nicht mit seiner Tochter zu Arztbesuchen und nicht mit anderen Personen im Auto fahren. An schlechten Tagen ist es ihm unmöglich, die Wohnung zu verlassen. Die Angst vor einer Panikattacke ist immer da. Christoph vermutet: „Wäre ich damals in Therapie gegangen, wäre vieles vielleicht anders verlaufen.“
Während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 wird die Angst für Christoph omnipräsent. Seine Frau ist schwanger, sie bauen ein Haus und er bekleidet eine Führungsposition in der Arbeit, während er nebenberuflich noch studiert. Christoph steht unter Dauerstress. Bei der Geburt seiner Tochter fühlt er sich von der Verantwortung erschlagen: „Ich habe mich auf dieses Kind gefreut. Aber im Kreißsaal kippte ich fast um und dachte mir nur: Jetzt trage ich nicht mehr allein die Verantwortung für mich, sondern zusätzlich für dieses Kind.“ Drei Tage nach der Geburt folgt für ihn der Zusammenbruch: Bei einem Friseurbesuch spürt er den Drang auf die Toilette gehen zu müssen und gleichzeitig die Unsicherheit, ob er jene dort verwenden kann: Ist die Toilette beim Friseur begehbar? Gibt es Alternativen? Taubheit breitet sich in seinem Körper aus, er hat das Gefühl, sich nicht mehr bewegen zu können – eine Panikattacke mit langwierigen Folgen. „Ich konnte nicht mehr arbeiten, mich nicht ums Baby kümmern, nicht einmal mehr das Haus verlassen“, erinnert sich Christoph. Im Anschluss daran begibt er sich in Therapie und verbringt sechs Wochen in einer Tagesklinik.
Christoph fällt es wegen seiner Panikattacken immer schwerer das Haus zu verlassen.
„Bei uns funktionierte Erziehung noch mit Gewalt“
Christoph denkt, dass ein Auslöser seiner Angststörung in seiner Kindheit liegt. Mit drei Jahren musste er am Spielplatz dringend aufs Klo. Er läutete bei sich zu Hause, doch seine Mutter öffnete zu spät die Tür. Er machte sich in die Hose. Seine Mutter war verärgert, erzählt Christoph. „Bei uns funktionierte Erziehung noch mit Gewalt: Wir wurden mit Schlägen erzogen. In meine Psyche hat sich eingebrannt, dass sich in die Hose zu machen etwas ganz Schlimmes ist.“ Heute trägt Christoph seinen Eltern aber nichts nach, sie würden es nicht anders von ihrem Elternhaus kennen. Er erkennt an, dass sie sich seiner Tochter gegenüber liebevoll verhalten, das zählt.
Christine Tretter, Fachärztin für Psychiatrie und Ernährungsmedizin, betont, dass es nie nur einen Auslöser gibt. Genetische und neurobiologische Prädispositionen können mit bestimmten Belastungen wie Stress, Depression und Gewalt zusammenspielen. Beispielsweise kann eine inkonsistente und ambivalente Erziehung, in welcher die Kinder nicht nachvollziehen können, wann und warum sie bestraft werden, eine Angststörung begünstigen.
„Teilweise reden wir auch über Trennung“
Im vergangenen Sommer versucht Christoph mit seiner Frau und Tochter in Urlaub zu fahren, mit dem Auto circa eineinhalb Stunden von ihrem Haus entfernt. Christoph stellt dies vor große Herausforderungen: „Ich musste alle zwanzig Minuten anhalten, weil mein Körper taub wurde vor Angst.“ Die Familie fährt mit zwei Fahrzeugen. Denn Christoph wird von der Angst dominiert, dass eine andere Person im Auto nicht ihr Ziel erreichen kann, falls er zurück nach Hause auf die Toilette muss.
Je länger Christophs Angststörung andauert, desto schwieriger wird es für seine Frau und ihre Beziehung. Er war schon immer eine vorsichtige Person, wählte bei Entscheidungen die sicherere Variante und hatte einen Plan von seinem Leben – einer der Gründe, warum sich seine Frau in ihn verliebte: „Ich habe ihr die Sicherheit gegeben, die sie gebraucht hat. Aber jetzt kann ich ihr diese Sicherheit nicht mehr geben.“ Geplante Ausflüge und Wochenenden fallen öfter aus. An schlechten Tagen kann Christoph nicht mit dem Kind allein sein oder den Einkauf erledigen. „Sie will sich nicht trennen, aber ich merke, dass es ihr schlecht geht.“
Als Christoph mit seiner Familie in den Urlaub fahren möchte, gestaltet sich die Autofahrt als Herausforderung.
„Ich fühle mich wie nach einem Schlaganfall“
Christoph vergleicht seine Erkrankung mit einem Schlaganfall. Nach jeder Panikattacke müsse die Situation neu erlernt werden. Jedes Mal müsse er sich von Neuem der Angst stellen. „Selbst, wenn man auf dem Papier geheilt ist, brennt sich eine Angststörung tief in deine Seele. Alles, was jetzt einfach ist, kann morgen wieder schwer sein. Es wird nie den Punkt geben, wo man morgens aufwacht und alles vergessen hat“, erzählt er. Deswegen ist es ihm auch wichtig, offen darüber zu reden. Psychische Erkrankungen sind nicht wie Erkältungen oder Grippen, die mit Medikamenten geheilt werden können. Trotzdem nehmen sie viele noch immer nicht ernst: „Meine Familie versteht mich und meine Erkrankung bis heute nicht.“
Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2015 geht davon aus, dass bis zu 33 Prozent der Menschen einmal im Leben von einer Angststörung betroffen sind, unabhängig von Region und Kultur. „Ich persönlich denke, dass wir einen Lebensstil haben, der Angst sehr stark fördert“, sagt Tretter. „Es ist ein gesellschaftliches Problem – das subjektive Gefühl von innerer Sicherheit hat stark abgenommen.“ Schuld daran seien unter anderem Isolation und eine fehlende Solidarität in der Gesellschaft, instabile Familienverhältnisse und Orientierungslosigkeit. Bei einer möglichst frühen Behandlung seien die Heilungschancen aber gut. Bei schweren Fällen plädiert die Ärztin für begleitende Medikamente.
Christoph selbst war bei vielen Therapeut:innen, bis er den Richtigen für sich gefunden hat. „Verständnis und Akzeptanz sind wichtig, aber vor allem habe ich einen ‚Tritt in den Arsch‘ gebraucht. Es hilft einem nicht, in der eigenen Blase gelassen zu werden“. Ängste können nur überwunden werden, wenn man sich ihnen schrittweise immer wieder stellt.