Triggerwarnung
Der Ozean: Michelle
In Michelles Familie sind psychische Erkrankungen ein Tabu. Erst als Erwachsene bekommt sie die Behandlung, die sie braucht.
Psychische Belastungen beginnen schon früh
Als Michelle sechs Jahre alt ist, lebt sie immer noch in Sangju, einer Ortschaft etwa in der Mitte von Südkorea. Sie geht zur Schule und tut sich schwer. Michelle könne sich nicht konzentrieren, sich nichts merken. Sie fände keine Freund:innen und lebe in ihrer eigenen Welt, erzählt die Klassenlehrerin ihrem Vater. „Ich hätte schon damals eine Therapie gebraucht“, erinnert sich Michelle. Doch sie erhält keine.
Mit neun Jahren verabschiedet sich Michelle von ihren Großeltern. Papa heiratet eine neue Frau und Michelle zieht gemeinsam mit ihm zurück nach Österreich. Sie kennt das Land, in dem sie geboren ist, nicht, war zu jung, als sie Wien verlassen hat. Sie sieht anders aus und spricht die Sprache nicht. In der Schule wird Michelle gemobbt. Die Mädchen ohrfeigen sie, die Buben ziehen sie an ihrem Rock.
Zuhause ist Michelle viel alleine. Sie ist einsam und überfordert. Ihr Nachbar nutzt das aus. Er missbraucht sie. Michelle fühlt sich hoffnungslos. Nur das Schreiben schenkt ihr Trost. Michelle füllt einige Tagebücher und wirft sie dann weg, aus Angst, ihre Eltern könnten sie lesen.
Michelle vor Schilfhintergrund in der Wiener Lobau
Therapie als Tabu
Immer wieder versucht Michelle Suizid. Sie ist 17 Jahre alt, als sie sich auf der Schultoilette einsperrt und versucht, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Sie wird erwischt. Die Direktorin verständigt den Schulpsychologen. Der verständigt Michelles Vater. Michelle müsse eine Therapie machen, drängt er. Papa sieht das anders. „Mein Vater wollte nicht wahrhaben, dass ich Therapie brauche. Für ihn waren meine Probleme nicht existent. Sie waren ein Tabuthema.“ Papa verbietet die Therapie.
Michelle hat eine schwere Depression mit suizidalen Gedanken und eine posttraumatische Belastungsstörung. Wenn ihre Freund:innen ihr auf die Schulter greifen, zuckt sie zusammen. Als Michelle anfängt, im Kindergarten zu arbeiten, sucht sie sich heimlich einen Therapieplatz. Sie wohnt noch zuhause und lügt, wenn ihre Eltern fragen, wohin sie gehe: „Zu Freund:innen.”, ist ihre übliche Antwort. Vor ihrem ersten Termin ist Michelle nervös, hat Angst, dass ihre Familie dahinterkommt.
Die Angst zu überwinden, lohnt sich. Ihre Therapeutin schenkt Michelle ein offenes Ohr. Zum ersten Mal spricht Michelle über all die Gedanken, mit denen sie bislang alleine war. „Es hat geholfen, mit jemandem zu reden, der wusste, wie man mir helfen kann.“ Viele Stunden verbringt Michelle damit, über Vergangenes zu sprechen, gesunde Handlungen zu entwickeln und alte Schmerzen zu verabschieden.
Antidepressiva helfen
Trotzdem versucht Michelle mit 27 Jahren ein weiteres Mal Suizid. Eine Psychiaterin verschreibt ihr Medikamente. Erst zögert Michelle, dann probiert sie sie doch. Ein halbes Jahr lang testet sie in Absprache mit der Ärztin verschiedene Antidepressiva durch, wechselt Mischungen, erhöht oder senkt die Dosis. Nach einer Weile fängt es Michelle an besser zu gehen.
Michelle vor Schilfhintergrund in der Wiener Lobau
Für immer möchte Michelle die Antidepressiva trotzdem nicht nehmen. „Ich war nie ein Fan von Medikamenten“, erklärt sie. „Aber ich glaube, es ist gut, wenn man sich sein eigenes Bild von den Medikamenten macht. In beide Richtungen. Wenn es einem wirklich schlecht geht, kann man sie schon mal probieren. Aber vielleicht nicht, bevor man etwas anderes versucht hat.“
Seit letztem Jahr ist Michelle bei Gericht. Über eine Frauenberatungsstelle hat sie eine kostenlose Anwältin erhalten, mit der sie im rechtlichen Prozess ist gegen jenen Mann, der sie in Jugendjahren missbraucht hat. Sich zu wehren, befreit Michelle. Ihre Mutter hat Michelle bis heute nicht wieder gesehen. „Ich habe immer noch die Hoffnung, sie irgendwann zu finden”, erzählt sie.
Auch heute noch ordnet Michelle ihre Gedanken beim Schreiben. Das hilft. Vielleicht füllt sie noch heute ein neues Tagebuch.