Durch die Lichter der Stadt: Simone

Seit Simone neurologisch erkrankt ist, reagiert ihr Nervensystem sensibel auf äußere Reize. Das macht den Alltag zur Herausforderung.

Text: Simone*
Foto: privat
Collage: ZIMT Magazin

Datum: 17. April 2025
Simone_Portrait ZIMT Magazin

Ich fahre mit der Rolltreppe nach unten und es wird mir jetzt schon zu viel. Warum wird hier überall diese grelle, weiße Beleuchtung verwendet? Ich blicke auf den Boden und gehe routiniert in Richtung U-Bahn-Gleis. Als die U-Bahn einfährt, fängt ein kleines Kind neben mir zu weinen an. Die Lautstärke der Bahn und das Stimmengewirr in der Station werden von meinen Kopfhörern gedämpft, doch ich fühle mich trotzdem überreizt – vor allem durch die Beleuchtung.

Ich steige in die Bahn und finde zum Glück sofort einen Sitzplatz. Ich schließe die Augen und versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Mein Körper ist erschöpft und unruhig zugleich. Mein Kopf ist benebelt, ein klarer Gedanke scheint unerreichbar.

Ich habe Schwierigkeiten, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Oft fühle ich mich regelrecht reizüberflutet. Die Reizüberflutung versetzt mein Gehirn in Stress, und auch körperlich fühle ich mich dadurch angespannt und unwohl. Besonders belastend ist das Gefühl, benebelt und irgendwie nicht ganz da zu sein – ich trete gedanklich weg, sobald mir etwas zu viel wird.

Selbst nach sechs Jahren in Wien habe ich mich nicht an das städtische Meer der Sinneseindrücke gewöhnt. Sensibel auf viele Reize habe ich schon immer reagiert, doch erst seit meiner Erkrankung erlebe ich Situationen wie diese als extreme Belastung.

Mein sensibles Nervensystem

Ich habe vor fünf Jahren die Diagnose ME/CFS erhalten. Das steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungssyndrom. ME/CFS ist eine neurologische Erkrankung, bei der insbesondere das autonome Nervensystem gestört ist. Betroffene erleben hierbei eine schwere körperliche und/ oder mentale Erschöpfung. Zudem gibt es Beeinträchtigungen des Immunsystems und der Kreislauffunktion. Das Hauptmerkmal dieser Krankheit ist die Belastungsintoleranz: eine Verschlechterung aller Symptome nach Alltagsaktivitäten. Auch die erhöhte Reizsensibilität ist eines von vielen Symptomen dieser Erkrankung.

Die gute Nachricht ist: Mein Zustand hat sich in den letzten Jahren stark verbessert. Während ein kurzer Spaziergang vor drei Jahren noch eine große Herausforderung darstellte, bin ich heute körperlich kaum noch eingeschränkt. Auch erfahre ich kaum Zustandsverschlechterungen nach körperlicher Betätigung. Die schlechte Nachricht: Meine sensorischen Sensibilitäten sind geblieben. 

Ich frage mich daher schon lange, ob dahinter auch noch etwas anderes steckt. Einerseits ist diese Reizempfindlichkeit in dieser Intensität zeitgleich mit allen anderen Symptomen von ME/CFS aufgetreten, andererseits war sie aber in leichterer Form schon immer ein Teil meines Lebens. Deshalb vermute ich inzwischen, dass ich neurodivergent bin –  wahrscheinlich mindestens hochsensibel – muss aber noch auf die Diagnostik warten. Unabhängig von der Diagnose bleibt die sensorische Überforderung jedoch eine große psychische Belastung für mich.

Organisiertes und unorganisiertes Chaos

Wie sensibel ich auf Geräusche reagiere, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Mit manchen Geräuschen komme ich gut zurecht. Zum Beispiel gehe ich gerne auf Konzerte – dort stört mich die laute Geräuschkulisse kaum. Die Klänge sind harmonisch und passen zusammen, weshalb ich das als „organisiertes Chaos“ wahrnehme. Mein Gehirn kann sie ohne Mühe verarbeiten. 

In lauten Umgebungen hingegen wird jede Unterhaltung zur Herausforderung. Stimmen aus dem Lärm herauszufiltern, kostet mich viel Energie. Mal fällt es mir leichter, mal schwerer. Aber immer ist es anstrengend. Interessanterweise gelingt mir die Geräuschverarbeitung besser, wenn es dunkel ist. In der Dunkelheit muss ich weniger visuelle Reize verarbeiten. Das entlastet mein Nervensystem sehr.

Bildausschnitt Simone UBahn_Portrait ZIMT Magazin

Die U-Bahn bezeichnet Simone als ihren Endgegner: zu laut, zu viele Menschen, zu starkes Licht.

Straßenkreuzungen empfinde ich als „unorganisiertes Chaos“. Die Geräusche sind nicht harmonisch und mein Gehirn muss alles mühsam filtern. Besonders schwierig wird es, wenn ich dabei grellem Licht ausgesetzt bin – mein größter Reizkiller:  Neonröhrenlicht.

Neonröhren und „Watte im Kopf“

Vor Kurzem wollte ich wieder beginnen, regelmäßig zu tanzen. Also besuchte ich eine Klasse für zeitgenössischen Tanz. Die Lehrerin war sympathisch und ich fühlte mich in der Gruppe wohl. Umso mehr enttäuschte es mich, dass die Bedingungen im Tanzraum für mich kaum aushaltbar waren:  Kaum Tageslicht und stattdessen grelles, weißes Neonlicht von der Decke.

Lichtempfindliche Personen reagieren auf Neonröhrenlicht oft mit Unwohlsein, Kopfschmerzen oder Stress. Der Grund ist das schnelle Flackern, das vom Auge oft unbewusst wahrgenommen wird. Dieses Flackern kann das Nervensystem überreizen, da es ständig versucht, die wechselnden Lichtimpulse zu verarbeiten.

Ich bekomme dadurch nach wenigen Minuten Kopfschmerzen und Schwindel. In meinem Gehirn löst das großen Stress aus. Es fühlt sich an, als hätte ich Watte im Kopf. Meine Gedanken werden unklar, ich fühle mich kognitiv nicht anwesend und bin nicht aufnahmefähig. Das macht es unmöglich, Choreografien zu lernen. Doch damit endet das Problem nicht. Das hellweiße Deckenlicht begegnet mir überall: an der Uni, in Läden, Einkaufszentren, Arztpraxen und auf Veranstaltungen. Das erschwert meinen Alltag.

Die U-Bahn – mein End-Game

Wenn mehrere Sinneseindrücke zusammenkommen, ist das für mich besonders stressig – wie beispielsweise an lauten belebten Straßen. Am schwierigsten ist jedoch die U-Bahn. Kaltes, grelles Licht, viele Menschen, laute Geräusche – eine Reizüberflutung pur. Besonders zu Stoßzeiten fühle ich mich dort schnell gestresst. Ich schaue deshalb oft auf den Boden oder aus dem Fenster, um die Reizüberflutung zu reduzieren.  

Meine liebsten U-Bahn-Strecken in Wien sind – wenig überraschend – jene, die oberirdisch verlaufen. Dort kann ich dem grellen Kunstlicht der unterirdischen Züge entkommen. Ich wähle oft längere Routen, um die U-Bahn zu umgehen oder kombiniere Radfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich plane meine Wege auch immer sorgfältig, sodass ich keine unnötigen Strecken zurücklege. So kann ich U-Bahn-Strecken minimieren. Was für andere vielleicht skurril klingt, ist für mich Selbstfürsorge. 

So erfreulich meine allgemeine Zustandsverbesserung auch ist, sie bringt neue Herausforderungen mit sich. Je aktiver ich werde, desto mehr Barrieren begegnen mir. Je mehr ich in der Stadt unterwegs bin, desto stärker wird meine Reizverarbeitung gefordert. Aber ich begrüße die Aufwärtskurven mit offenen Armen und bin mir sicher: Mit einer Portion Resilienz und Anpassungsvermögen finde ich meinen Weg – Schritt für Schritt.

 

*Die Autorin möchte ihren Nachnamen in der Publikation des Textes nicht nennen. Der Redaktion ist ihre Identität bekannt.

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