Gemeinsam nicht mehr allein: Sarai
Im Alter von 31 Jahren erhält Sarai eine Autismus-Diagnose. Heute macht sie sich für die Sichtbarkeit von neurodivergenten Menschen stark.
Text: Sabrina Haas
Foto: Sarai Pahla
Collage: Sabrina Haas
Sarai schreitet durch die Gänge eines Krankenhauses in Rustenburg, Südafrika. Die junge Ärztin fühlt sich heute besonders müde, denn sie hat wenig geschlafen. Sie öffnet die Tür zum Büro der Personalabteilung und setzt sich auf eine freie Sitzbank. Eine Mitarbeiterin der Abteilung hat schlechte Nachrichten zu überbringen. Das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, könne Sarai diesen Monat nicht bezahlen. Im Raum wird es auf einmal unangenehm warm. Die Geräusche rundherum sind viel zu laut. Sarai bricht zusammen und weint. Sie schreit die Frau an und schlägt mit der Faust auf die Bank. Sarai hat einen Meltdown.
Heute lebt Sarai in Deutschland und arbeitet selbstständig als medizinische Fachübersetzerin. Meistens übersetzt sie große klinische Studien und Texte für Arzneimittelhersteller:innen aus dem Japanischen, Niederländischen und Deutschen ins Englische. In diesem Beruf kann sie ihre Leidenschaft für Medizin weiterhin ausleben und einen wichtigen Beitrag für die Wissenschaft leisten. Dass sie autistisch ist, weiß sie erst seit neun Jahren. Für eine offizielle Diagnose musste sie damals in ein anderes Land ziehen.
Für eine Diagnose die Koffer packen
Eine Arbeitskollegin im Krankenhaus vermutet, eine Psychose sei Schuld an Sarais Zusammenbruch. Sarai verbringt eine Woche lang als Patientin im Krankenhaus und wird beobachtet. Die Psychiater:innen meinen, Sarai sei einfach gestresst und habe deswegen eine Überreaktion gehabt. „Auf Autismus sind die nicht gekommen, weil ich eine Frau bin und viele Leute glauben, dass Frauen nicht im Autismus-Spektrum sein können”, sagt Sarai . “Und ich bin eine Person of Color, da denken die Leute schon gar nicht an Autismus.”
Sarai wollte schon immer Ärztin werden. Im Studium fällt es ihr leicht, das theoretische Wissen zu erlangen, aber der Umgang mit anderen Menschen fällt ihr schwer. Immer wieder kommt es zu Missverständnissen mit Arbeitskolleg:innen. Sarai hat Schwierigkeiten unausgesprochene soziale Regeln zu erkennen und bestimmte Verhaltensweisen richtig zu deuten. Ihre Arbeitskolleg:innen schließen untereinander Freundschaften, nur Sarai findet keinen Anschluss. “Es gab ständig Geschichten darüber, was die Leute gemeinsam nach der Arbeit gemacht haben, aber ich wurde nie eingeladen und wusste nicht, wie ich über die gemeinsamen Unternehmungen meiner Kolleg:innen informiert bleiben soll.” Außerdem ist Sarai manchmal durch Umwelteinflüsse wie Lichter oder Geräusche überreizt. Doch weil sie noch keine Diagnose hat, weiß Sarai nicht, warum sie im Krankenhausumfeld nicht so gut zurechtkommt wie viele ihrer Kolleg:innen. Schweren Herzens verlässt sie ihren Traumberuf.
Als sich Sarai mit dem Übersetzen medizinischer Fachtexte selbstständig macht, fallen die gewohnten Strukturen, also Zeitpläne, Routinen und Arbeitskolleg:innen, weg. Sarai überkommt ein Gefühl der Einsamkeit. Eine ihrer Freund:innen, mit der sie über die Schwierigkeiten in ihrem letzten und jetzigen Job spricht, meint, dass Autismus dafür verantwortlich sein könnte. Sarai empfindet den Kommentar als beleidigend und ist wütend auf die Freundin.
Als ihre Wut abnimmt, beginnt Sarai, sich über Autismus zu informieren. Sie stößt auf Studien und Artikel darüber, dass sich Autismus bei Frauen anders äußert als bei Männern. Im Online-Forum “Wrong Planet” tauscht sie sich mit anderen Autist:innen aus und findet viele Gemeinsamkeiten. In Südafrika, wo sie zu jenem Zeitpunkt noch lebt, gibt es damals noch keine Diagnosestellen für Autismus. Sarai nimmt Kontakt mit Spezialist:innen in Deutschland auf, da sie sowieso schon länger mit dem Gedanken spielt, dorthin zu ziehen. Die Aussicht auf eine Diagnose motiviert sie, diesen Gedanken in die Realität umzusetzen.
Der Diagnoseprozess dauert lange und die Auseinandersetzung mit sich selbst ist nicht immer einfach. Eine Zeit lang zweifelt Sarai an der Diagnose. Nach ein paar Monaten ist sie endlich mit sich selbst im Reinen. “Es war eine große Erleichterung, bestätigt zu bekommen, dass ich nicht nur in meiner Vorstellung anders bin”, erinnert sich Sarai.
Sarai spricht Menschen auf unterschiedlichen Plattformen an, sowohl auf sozialen Netzwerken, wie Tiktok und Youtube, als auch als Sprecherin bei Veranstaltungen.
Eine frühere Diagnose wäre hilfreich gewesen
Autist:innen machen nur 1% der Bevölkerung aus, erklärt Sarai. Es sei eine einsame Existenz: “Schon als Kleinkind weiß man, ich bin anders als die anderen Kinder, und die anderen Kinder merken auch, dass du anders bist”, schildert sie.
“Als Kind war das aber noch nicht so schlimm.Vor allem als Frau bekam ich oft gesagt: ‘Du redest zu viel, du denkst zu viel, zieh dich nicht so an, mach dies und jenes nicht.”
Auch Sarais Mutter setzt sich nach der Diagnose ihrer Tochter mehr mit dem Thema auseinander und tauscht sich mit den Eltern autistischer Kinder aus. “Wir haben beide realisiert, dass die Zeichen schon in der Kindheit da waren und übersehen wurden, auch weil ich schon früh und gut sprechen konnte”, erzählt Sarai.
Seitdem Sarai weiß, dass sie autistisch ist, kann sie besser auf ihre eigenen Bedürfnisse achten. Wenn sie überreizt ist, ruht sie sich bis zu einer halben Stunde lang aus, fern von Umweltreizen wie Lichtern oder Geräuschen. Das hilft, um Meltdowns zu verhindern. Auch schaut sie darauf, dass sie die Arbeit nicht zu sehr überfordert. Manchmal nimmt sie sich auch einen ganzen Monat frei, um sich mit digitaler Technik auseinanderzusetzen, die ihren Alltag erleichtern und Stress reduzieren soll. Mit Computerprogrammen, die Sarai bei der Übersetzungsarbeit unterstützen, hält sie sich stets auf dem neuesten Stand. Einige Hilfsmaßnahmen programmiert sie sogar selbst. Digitale Applikationen erinnern sie daran, nicht auf Aktivitäten zu vergessen, die gut für ihre Gesundheit sind. Sie fordern Sarai dazu auf, genügend Wasser zu trinken, laufen zu gehen und während der Arbeit öfter aufzustehen.
Durch das Teilen von Erfahrungen will Sarai Anderen Mut machen
Im englischsprachigen Raum habe sich schon einiges getan, um die Diversität des Spektrums sichtbar zu machen. Im deutschsprachigen Raum gäbe es noch mehr Vorurteile und Stereotypen, erklärt Sarai. Heute macht sie sich deswegen in beiden Sprachen für die Sichtbarkeit von neurodivergenten Menschen stark. 2017 hält sie für die internationale Medienplattform TED einen Vortrag zum Thema Frauen und Autismus. Anschließend wird sie von den Vereinten Nationen (U.N.) eingeladen, beim World Autism Day (Welt-Autismus-Tag) zu sprechen. Sarai findet es wichtig, dass sich neurodivergente Menschen über solche Plattformen zeigen. “Wir sind auch gut qualifizierte Menschen. Wir sind auch Menschen mit Ideen”, betont Sarai. Außerdem macht sie Videos, die sie in den sozialen Netzwerken Tiktok und Youtube teilt. “Für meine Diagnose musste ich auswandern. Das können die meisten Menschen nicht machen.” Sie hofft, dass sich Andere in ihr wiedererkennen und merken, dass sie nicht alleine sind.
Die Themen Frauen und Autismus sind für Sarai noch stark unterrepräsentiert. Im Video hält sie einen Vortrag dazu beim TED-Event in Münster.