Seitenwechsel: Aurelia
Lange denkt Aurelia, alles an ihr sei falsch. Dann lernt sie, dass sie trans ist.
Text: Karina Grünauer
Foto: Privat/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Es ist ein heißer Nachmittag im Sommercamp. Bevor sich unter den Jugendlichen Langeweile breitmacht, haben die Betreuer:innen eine Idee: Sie wollen ein Gender-Crossing machen. Dabei tauschen männlich gelesene mit weiblich gelesenen Personen Rollen und spielen auf übertriebene Weise das nach, was als Aussehen und Charaktereigenschaften des jeweils anderen Geschlechtes empfunden wird.
Auch Aurelia möchte das ausprobieren. Die damals 18-Jährige lässt sich von Freundinnen schminken, sie leiht sich von ihnen einen BH und ein kurzes gelbes Kleid aus. In ihrem Outfit geht sie im Sommercamp umher, kokettiert mit ihrer schlanken Figur. Zu diesem Zeitpunkt ist es auch für Aurelia ein Gender-Crossing, denn da trägt sie noch ihren männlichen Geburtsnamen.
Das hat sich so gut angefühlt. Erst als ich mich abgeschminkt habe, habe ich bemerkt, wie falsch es sich anfühlt, wieder in meinen Alltag zurückzugehen
Aurelia wächst als Einzelkind in einem Dorf im Burgenland auf. Die Verhältnisse sind gutbürgerlich, konservativ. Die Familie ist sehr darauf bedacht, was die Nachbarschaft denkt und dass ihr Kind den Erwartungen des sozialen Umfelds an einen kleinen Jungen, als der sie gelesen wird, entspricht. „Als ich klein war, da hatte ich meine Puppen, die ich baden und ankleiden, und meine Kuscheltiere, mit denen ich Rollenspiele machen konnte. Ich hatte sie überall dabei. Niemand fand das verwerflich“, erzählt Aurelia. Mit fortschreitendem Alter hätte ihr Vater jedoch von seinem Sohn ein „männlicheres Verhalten“ erwartet, erinnert sie sich.
Doch die heute 26-Jährige spürt schon früh, dass sie eigentlich kein Junge ist. Als die Corona-Pandemie die Burgenländerin an den Computer fesselt, beginnt sie ihre Suche im Internet. Anfangs weiß sie noch nicht, wonach sie genau sucht, kennt keine Worte für das, was sie fühlt. Transgender, nichtbinär, queer – das sind Begriffe, die sie sich erst mit der Zeit nach langen Nächten am PC aneignet. Bald merkt sie, dass es im Internet noch eine andere Welt gibt, als die Menschen am Dorf sie bisher haben glauben lassen: „Es gibt Menschen, die sind wie ich.“
Für Aurelia ist das Gender Crossing ein Moment des Erwachens.
Auf dem Dorf fühlt Aurelia sich unwohl, ständig fühlt sie sich beobachtet, muss penibel darauf achten, mit „Jungshobbys und -kleidung“ nicht aufzufallen. Dennoch weiß sie, wie hinter ihrem Rücken über sie gesprochen wird. Nach der Schule zieht Aurelia für ein Studium nach Innsbruck, ist aber mangels festem Einkommen weiterhin finanziell von ihren Eltern abhängig. Sie geben ihr Geld für Miete, Kleidung, Essen. Was sie damit nicht finanzieren wollen, sind jegliche Dinge, die darüber hinausgehen, Dinge, die in ihren Augen als verwerflich oder anrüchig gelten, zum Beispiel allein schon, wenn Aurelia sich Kleider, Schminke oder Haarspangen kaufen möchte.
„Sobald ich meine Eltern getroffen habe, kamen wir andauernd zu dem Punkt, an dem mein Vater mich anschaute und schrie: „Jetzt ist aber Schluss mit den Spompanadeln“, erinnert sie sich. Bis heute versteht sie nicht, wieso ihr Vater immer geglaubt hat, dass sie sich ihre Gefühle nur eingebildet hätte und dass sie ihn damit nur provozieren und vor anderen Leuten bloßstellen wollte. Im Gegenteil:
Eigentlich ging es mir damals nur um die Frage: Kann ich daheim einen Rock anziehen, wenn eh niemand reinschaut und niemand uns besuchen kommt?
Als die Niederösterreicherin schließlich ihr Studium abbricht und ins Elternhaus zurückziehen muss, bietet ihr Vater seine Unterstützung an. Er packt blaue Jeans und schwarze T-Shirts in braune Kisten. Er räumt Möbel zur Seite und stellt Bettzeug zur Eingangstür. Aurelia packt derweil Dinge, die er nicht sehen soll, in einen Rucksack und eine weitere Box. Als sich auf dem Weg zum Auto deren Deckel öffnet und den Blick auf bunte Sextoys und Damenwäsche frei macht, hält der Vater Aurelia perplex die Kiste hin und blafft: „Wieso gibst du mein Geld für so einen Blödsinn aus?”
Als Aurelia nach dem Abbruch ihres Studiums wieder bei ihren Eltern einzieht, nehmen die Streits mit ihrem Vater weiter zu.
Nach diesem Vorfall beginnt Aurelia sich von ihrer Familie zu distanzieren, sie streitet noch öfter mit ihrem Vater. Immer wieder überlegt sie, den Kontakt abzubrechen. Zu groß sind die emotionalen Kränkungen, das Unverständnis der Familie ihr gegenüber. Aber sie braucht dringend das Geld, das ihre Eltern ihr monatlich Geld zustecken. Bei jedem Treffen fallen verletzende Worte, selbst Aurelias Mutter zeigt wenig Verständnis. Jeder Versuch, sich zu erklären, endet mit der Frage: „Was denken nur die Leute?” und „Deine Großeltern würden sterben, wenn sie das wüssten!“
Praktisch von einem Tag auf den anderen beschließt Aurelia, der Meinung ihrer Familie keinen Raum mehr zu geben, sich zu outen und in Therapie zu gehen. Sie weiß: „Ich bin eine Frau und ich will das jetzt ausleben.“ Vor zwei Jahren lässt Aurelia den von ihr selbst gewählten weiblichen Vornamen in ihren Ausweis eintragen, vor einem Jahr beginnt sie eine Hormontherapie. Als Künstlerin und Eventmanagerin hat sie sich im Frühjahr selbstständig gemacht und damit die letzten Weichen für einen Neuanfang gestellt. Rückblickend ist sich Aurelia sicher: „Es hat doch eh jeder gewusst.“