Zu große Schuhe: Kaja

Kaja übersetzt von klein auf für ihre Familie. Bis heute übernimmt sie gerne Behördengänge und Arztbesuche für ihre Mutter und hat trotzdem gelernt, Grenzen zu setzen.
Text: Edith Ginz Foto: ZIMT Magazin/Canva AI
Datum: 8. Juli 2024
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Kaja sitzt mit zwölf Jahren vor einer Anwältin. Sie übersetzt für ihre Mutter, die ungerechtfertigt von ihrer Arbeit gekündigt wurde. Fast zehn Jahre arbeitet Kajas Mutter schon als Reinigungskraft und versorgt finanziell ihre fünfköpfige Familie die meiste Zeit allein. Kajas Vater ist außer sich, seit der Kündigungsbrief nach Hause kam. Er sagt Kaja, was sie der Anwältin und ihrem Diktiergerät mitteilen soll. Das Mädchen ist nervös und will alles richtig machen. Sie hat Angst vor der Wut ihres Vaters genauso wie ihre Mutter. Die Anwältin spricht von irgendwelchen Paragraphen. Wie soll Kaja bloß juristische Fachbegriffe übersetzen? Sie beherrscht ihre Muttersprache doch nur in Alltagssprache. 

Schon früh begleitete Kaja ihre Eltern zu allerlei Terminen, auch bei der Gynäkologin war sie von klein auf dabei, erinnert sich die heute 34-jährige. Ihre Eltern kamen vor ungefähr 40 Jahren nach Wien, von wo, das möchte Kaja im Gespräch mit ZIMT nicht verraten  ebenso ihren Beruf oder ihre Muttersprache, aus Angst erkannt zu werden. Mit 17 Jahren wurde ihre Mutter im Zuge einer arrangierten Ehe mit ihrem Vater verlobt und zog dafür nach Österreich. Kaja hat einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Dennoch ist es als älteste Tochter des Hauses allein ihre Aufgabe, sich um ihre Mutter zu kümmern. 

,,Wir hatten immer alles”, sagt Kaja heute. Ihre Mutter sei sehr fürsorglich und liebevoll gewesen. Kochen, putzen, waschen dabei sollten ihre Kinder nie helfen. Jeden Abend frisierte sie ihre drei Kinder und flechtete ihnen Zöpfe, da sie am nächsten Morgen immer schon um 5 Uhr das Haus verlassen musste. Die Bedürfnisse ihrer Kinder waren immer wichtiger als ihre eigenen. 

Kaja übernimmt nach dem Tod ihres Vaters noch mehr Aufgaben für ihre Familie.

Als Kaja 16 Jahre alt ist, verstirbt ihr Vater und es gibt noch mehr zu tun. Witwenpension, Waisenpension, Kontoauflösung, Erbe und Pensionsversicherung. „Ich war beim Notar und habe eigentlich alles geregelt“, erzählt Kaja. Das Begräbnis selbst organisiert zumindest ein Onkel von ihr. Wirkliche Trauer empfindet Kaja nicht. Ihr Vater habe der Familie viel Leid angetan. Stattdessen empfindet sie den Tod ihres Vaters als Erleichterung. „Ich habe funktioniert und gewusst, dass es kein Leid mehr geben wird. Das war eine Erlösung.“ 

Bloß keine Belastung sein

Kaja muss immer wieder stark sein für ihre Familie: „Es heißt einfach machen und erledigen. Ein Nein gibt es nicht.“ Darüber geredet, wie es sich für Kaja anfühlt, so viel Verantwortung zu übernehmen, haben sie nie. Die Wienerin möchte ihre Mutter nicht noch mehr belasten. Außerdem könne ihre Mutter sich nicht gut genug um sich selbst kümmern und spreche auch Deutsch zu schlecht, um ohne ihre Hilfe auszukommen. Manchmal schickt Kaja ihre Schwester statt ihr mit zum Übersetzen. Doch damit ist ihre Mutter unzufrieden. Kajas Schwester würde nicht genug fragen und nur übersetzen, statt sich wirklich zu kümmern. Ihre Mutter, so ist sich die ältere Frau sicher, brauche nur Kaja. 

Kaja hat bis heute das Gefühl, ihrer Mutter etwas schuldig zu sein: „Das macht man, weil sie sich in der Kindheit auch um uns gekümmert hat. Das gehört einfach dazu.“ Im Leben der 34-Jährigen hat Familie einen hohen Stellenwert: „So wie ich erzogen wurde, habe ich gelernt, dass es einen nicht glücklich macht, nur an sich selbst zu denken, sondern es macht einen glücklich, sich um andere zu kümmern. Deswegen ist das mein Lebensweg.“ 

Mit 31 Jahren schafft es Kaja, von zuhause auszuziehen.
Mit 23 verspürt Kaja zum ersten Mal den Wunsch, von zuhause auszuziehen. Bis sie es tatsächlich macht, vergehen aber noch einmal acht Jahre. ,,Ich wollte meine Mutter nicht verlassen, weil sie so abhängig von mir war”, erklärt die 34-Jährige. Während der Lockdowns durch Corona merkte sie, dass sie Zuhause nicht abschalten konnte, da sie sowohl im Home Office arbeiten als auch für ihre Mutter funktionieren musste. Da Kajas Mutter den kompletten Haushalt übernahm, beschließt Kaja außerdem, dass es mal an der Zeit wäre, auch in puncto Haushalt selbständiger zu werden.

Nach dem Auszug übernachtet sie noch oft bei ihrer Mutter, damit sie weniger alleine ist. Auch zum Essen kommt Kaja in der ersten Zeit noch jeden Abend. Erst in ihrer Psychotherapie und mit viel Übung verabschiedet sie sich von ihrem Pflichtgefühl zur ständigen Anwesenheit. 

Letztes Jahr wollte Kajas Mutter eine Hochzeit für sie arrangieren. Als die Tochter wenig Interesse zeigte, fragte ihre Mutter sie, ob sie denn nie heiraten würde. Darauf antwortete Kaja: „Doch, aber eine Frau.“ Ihre Mutter reagierte schockiert und meinte, sie ziehe ihr den Boden unter den Füßen weg. Danach haben sie nie wieder darüber geredet. Kaja weiß, dass wenn das in der Community ihrer Mutter rauskommen würde, wäre das eine große Belastung für ihre Mutter. Mit möglichen Ehemännern lässt Kajas Mutter sie seitdem zumindest in Ruhe. Anfang des Jahres stellte Kaja ihr sogar die Frau an ihrer Seite vor.