Auf der falschen Spur
Borderline, Depression, Trauma: Immer wieder werden Menschen mit Autismus medizinisch falsch eingeschätzt. Was macht die Autismus-Diagnose so fehleranfällig?
Text: Jana Reininger da Rosa, Jolanda Allram, Karina Grünauer
Recherche: Vanja Minić, Jolanda Allram, Jana Reininger da Rosa
Collagen: ZIMT Magazin/Jana Reininger da Rosa
Wenn Frederike in der Arbeit ist, ist sie oft so angespannt, dass sie zu essen vergisst. Sie hört das Surren der Computer und das Gebläse der Beamer. Noch viel lauter sind die Fragen in ihrem Kopf: Atmet sie zu laut? Finden ihre Kolleg:innen, dass sie ihre Arbeit richtig macht? Merken sie, dass sie sich gerade überhaupt nicht konzentrieren kann? Sie steht langsam auf, schiebt ihren Drehstuhl beiseite und verlässt den Raum. Im Flur angekommen, geht sie schnellen Schrittes auf die Toilette zu, um dort Ruhe zu finden. Dann beginnt sie zu weinen.
„Mir wurde immer gesagt, dass ich schwierig bin”, erzählt Frederike heute im Gespräch mit ZIMT. Eigentlich heißt Frederike gar nicht Frederike, und auch, was sie konkret arbeitet, möchte sie im Rahmen dieser Recherche geheim halten.
Schon als Neugeborenes habe sie wenig geschlafen und viel geschrien, sei ein „High- Need-Baby” gewesen, wie sie heute, mit 33 Jahren, sagt. Ihr Kinderarzt nannte sie ein sehr sensibles Baby, ihre Eltern sprachen von einem anstrengenden Kind, ihre Lehrer:innen sagten, sie sei zu schnell abgelenkt. Wenn Frederike mit ihrer Familie in den Urlaub fuhr, wurde sie oft krank – zu viel Sonne, zu viel Wind in den Ohren, zu viel Sand, der sich beim Einschmieren mit Sonnencreme wie Schleifpapier auf der Haut anfühlte. „Irgendwie hat sich das Leben zu viel angefühlt, und ich konnte nicht verstehen, wieso andere sich damit leichter tun.” Mit 20 Jahren bekommt sie einen Tinnitus – und sie fühlt sich ausgebrannt.
Frederike lebt mit einer Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS. ASS beschreibt eine Andersartigkeit des Gehirns, die von klein auf besteht und Wahrnehmung, Kommunikation, soziale Interaktion und Informationsverarbeitung beeinflusst. Das Problem: Frederike weiß zum damaligen Zeitpunkt noch nichts davon. In einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2024 geben 24,7 Prozent der befragten Autist:innen an, vor ihrer korrekten Diagnose zumindest eine falsche erhalten zu haben. Vor allem autistische Frauen erhalten oft erst spät im Leben oder nie korrekte Diagnosen, so zeigen es auch weitere internationale Studien.
Autismus liegt auf Social Media im Trend. Immer mehr Creator:innen bekennen sich zu ihrer Diagnose. Aber sind alle Diagnosen auch wirklich korrekt?
Autismus erfährt wachsendes Bewusstsein. Vor allem auf Social Media teilen zahlreiche Creators Videos und Posts zum Leben mit ASS: Je nachdem, wie ausgeprägt Autismus ist, fällt es betroffenen Menschen schwerer, soziale Signale wie Blicke oder Gestik adäquat zu deuten, ihre Empathieverarbeitung funktioniert anders. Internationalen Studien zufolge nehmen Autist:innen Geräusche, Lichter, Gerüche oder Berührungen oft stärker wahr, was Stress und Überforderung auslösen kann.
Immer mehr junge Menschen scheinen sich in Symptomen wie diesen erkannt zu fühlen – und wollen sich testen lassen. Doch internationale Leitlinien, die die Richtigkeit der Diagnosen sichern sollen, werden oft nicht eingehalten. Fehleinschätzungen mehren sich. Betroffene Menschen geraten oft nicht an korrekte Behandlungen. Mögliche Folgen: Entlastung bleibt aus, Selbstzweifel mehren sich, selbst Suizidalität kann auftreten. Was läuft falsch bei der Diagnosestellung Autismus?
Immer wieder versteckt sich Frederike in der Arbeit auf der Toilette, weil ihr die Anforderungen des Tagesgeschehens zu viel werden. Im Jahr 2020, als Frederike gerade 27 Jahre alt ist und die letzte Stunde ihres Arbeitstages um ist, packt sie ihre Tasche und fährt in die nächstgelegene Psychiatrie. „Ich kann nicht mehr”, sagt sie dort den Ärzt:innen in der Ambulanz. „Ich brauche Hilfe.” Die Ärzt:innen raten ihr zu Diagnostik und Therapie. Langfristig könnten sie ihr dort nicht helfen.
Einige Monate später sitzt Frederike einer klinischen Psychologin zur Diagnostik gegenüber. Im Gespräch stellt ihr die Frau einige Fragen rund um ihre Erfahrungen. Dass Frederike in ihrer Kindheit den Suizid einer Nachbarin erlebt hat, scheint sie besonders zu interessieren. Frederike entgegnet, dass sie das nicht sonderlich belaste, doch die Psychologin vermutet ein Trauma und stellt weitere Fragen dazu.
Eine korrekte Autismus-Diagnostik besteht aus mehreren Tests und Gesprächen. Auch Computertests gehören dazu.
Frederike ist nervös, möchte der Expertin nicht weiter widersprechen. Sie füllt noch einige Tests auf Papier aus, ehe die Frau sie auf einen anderen Stuhl bittet. Dann drückt sie ihr mehrere Zettel in die Hand. Die Diagnose: emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Typ Borderline, umgangssprachlich nur Borderline genannt. Das Krankheitsbild ist stigmatisiert. Vor dem Haus der Diagnostikerin ruft Frederike weinend ihre Schwester an. Diese legt ihr nahe, der Meinung der Expertin zu vertrauen.
Das Urteil akzeptieren
Frederike startet ihre Behandlung: Sie geht zur Psychotherapie und nimmt Antidepressiva. Sie beginnt, anderen Betroffenen auf Instagram zu folgen, die über ihre Erfahrungen mit Borderline erzählen: Diese reden von impulsiven Entscheidungen oder instabilen Beziehungen, von Eifersucht, Wut, Angst, Leere oder selbstschädigenden Verhaltensweisen. Immer wieder hat Frederike den Eindruck, die Erläuterungen passen nicht ganz zu ihr. Aber jedes Mal redet sie sich selbst gut zu: Die Fachpersonen kennen sich aus.
Bei ihrer dritten oder vierten Sitzung, so genau weiß sie das heute nicht mehr, äußert ihre Psychiaterin, bei Frederike überhaupt kein Borderline erkennen zu können. Frederike ist erleichtert: „Das war der Punkt, an dem ich begonnen habe, mich von der Diagnose zu lösen.” Doch nach wie vor fehlt ihr eine Erklärung für ihre Probleme. Was ist bloß mit Frederike los?
Brigitte Hackenberg kennt viele solche Fälle. Die Fachärztin ist Gründerin und wissenschaftliche Leiterin des Autismus Network Austria, einem Verein für Menschen mit ASS. Er unterstützt bei diagnostischen, medizinischen, psycho- und sozialtherapeutischen Themen. Auch Selbsthilfegruppen sind im Autismus Network tätig. Hackenberg, die seit vielen Jahren im Bereich Autismus lehrt, sieht in ihrer Wahlarztordination viele Menschen mit Verdachtsdiagnosen auf Autismus. Darunter immer mehr erwachsene Frauen, die eine lange Vorgeschichte von Fehldiagnosen hinter sich haben. „Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Borderline”, zählt die Ärztin auf – also genau das, was auch Frederike erlebt. Was hat es damit auf sich?
Was läuft da schief?
In Österreich läuft eine Autismus-Diagnostik zweigleisig: Klinische Psycholog:innen übernehmen den Großteil der Tests. Sie beobachten, befragen, werten aus und erstellen ausführliche Befunde. Die medizinische Diagnose hingegen darf nur von Psychiater:innen oder Neurolog:innen vergeben werden. Sie ist notwendig, sobald etwas rechtlich wirken soll – etwa bei der Krankenkasse, für Schulunterstützung, Therapien, Förderstunden oder behördliche Ansprüche. Psychologie und Medizin arbeiten also zusammen – die eine liefert die Tiefe, die andere die Formalität.
Lehrkräfte können oft wichtige Hinweise für eine Diagnose geben. Sie sollten bei Kindern in den diagnostischen Gesprächen mit einbezogen werden.
Wie die Diagnostik konkret ablaufen soll, regeln internationale Leitlinien. In Österreich orientieren sich Fachkräfte oft an den sogenannten S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Das bestätigt auch Iris Koppatz vom Dachverband der österreichischen Autistenhilfe. In den Unterlagen werden mehrere standardisierte Methoden beschrieben, um das Gegenüber korrekt einschätzen zu können. Neben Gesprächen müssen Beobachtungen des Verhaltens, Fragebögen und Intelligenztests stattfinden. Da Autismus von Kindheit an besteht, muss die Diagnostik prüfen, ob es bereits in der frühen Kindheit Auffälligkeiten gab. Sie muss zudem klären, wie stark die auftretenden Merkmale das Leben, das Lernen, das Arbeiten und zwischenmenschliche Beziehungen beeinträchtigen. Ein hochwertiger Befund enthält konkrete Diagnoseschritte und nachvollziehbare Begründungen der Diagnose anhand der internationalen, medizinischen Nachschlagewerke ICD-11 oder DSM-5. Aber das ist noch nicht alles.
Gerade weil sich Autismus von klein auf und in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens zeigt, ist es wichtig, neben Gesprächen mit der betreffenden Person auch solche mit ihren Angehörigen (Eltern, Partner:innen, Lehrer:innen etc.) – und mit anderen Fachpersonen zu führen. Eine sinnvolle Autismusdiagnose sollte nicht nur von einer Person alleine gestellt werden. So empfehlen die Leitlinien ein multidisziplinäres Team, oft bestehend aus Psychiater:innen, klinischen Psycholog:innen mit Erfahrung in der Autismuserkennung, Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen oder Kinderärzt:innen, je nachdem, ob die Rede von Kindern oder Erwachsenen ist. Das Ziel dabei: Die Ursachen der auftretenden Merkmale sollen differenziert beurteilt werden. Verpflichtend sind diese Leitlinien für die Praxis in Österreich jedoch nicht. Werden sie also überhaupt eingehalten?
Um einschätzen zu können, wie zugänglich die Diagnostik wirklich ist, kontaktiert die ZIMT-Redaktion im Oktober 2025 verdeckt insgesamt 16 in Wien tätige Diagnostiker:innen. Etwa ein Drittel der kontaktierten Personen antwortet im Laufe der darauffolgenden Tage mit konkreten Beschreibungen des Untersuchungsablaufs. Dieser umfasst je nach Anbieter:in zwischen drei und sechs Terminen, wobei stets nur ein:e Psycholog:in anwesend sein soll.
Klinische Psycholog:innen fehlen. Die Ausbildung ist teuer, langwierig und mit Wartezeiten verbunden.
Dass die Anwesenheit mehrerer Personen in der Realität meist nicht gegeben ist, glaubt auch Brigitte Hackenberg. Warum wird hier gespart? Geht es nach Hackenberg, liegt das nicht an wirtschaftlichen Gründen: „Wenn ich mich heute für einen Test anmelde, gibt es, glaube ich, kein Terminangebot unter drei Monaten – weder bei den Kassen- noch bei den Wahlpsycholog:innen”, so Hackenberg. Und das zeigt auch die Recherche von ZIMT: Früheste angebotene Termine gibt es nach drei Monaten, die spätesten nach neun. Einige Psycholog:innen schicken überhaupt keine Terminangebote. Fachkräftemangel also? Diese Ursache vermutet zumindest Hackenberg.
Wir haben zu wenig Psycholog:innen
Besonders seit den Jahren der Pandemie ist der Bedarf an psychologischer Versorgung gestiegen, so belegt es eine Studie, die im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz im Jahr 2023 durchgeführt wurde. Doch an gut ausgebildeten klinischen Psycholog:innen mangelt es. So warnt etwa der Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP) im November 2025: Die Ausbildungssituation für angehende Fachkräfte sei prekär. Sie sei begrenzt, teuer und gehe mit langen Wartezeiten einher.
Umso seltener sind klinische Psycholog:innen, die auf Autismusdiagnosen spezialisiert sind. Auch wenn die Recherche zeigt, dass es mehrere Anbieter:innen gibt: Im Verzeichnis der klinischen Psycholog:innen des österreichischen Gesundheitsministeriums findet man nur zwei Einträge in Wien, die eine Spezialisierung auf ASS angeben.
„Die Diagnostiklandschaft in Wien hat sich in den letzten Jahren verbessert, bleibt aber uneinheitlich und ausbaufähig”, sagt Andreas Zierhut. Der klinische Psychologe bietet in seiner Wiener Praxis umfassende Diagnostiken an. Herausforderungen bestehen ihm zufolge darin, dass das Verständnis von Autismus unter Expert:innen variiere: „Manche Fachpersonen arbeiten mit einem modernen, neurodiversitätssensiblen Verständnis auf Basis aktueller internationaler Konzepte. Andere orientieren sich noch an älteren, defizitorientierten Modellen”, erklärt Zierhut.
Unterschiedliche Zugänge formen die Ergebnisse
Maßgeblich hierfür ist die Debatte rund um den Begriff der Neurodiversität, der vor allem durch seine Verwendung auf Social Media Einzug in die Gesellschaft hält. Ein neurodiversitätssensibles Verständnis von Autismus geht davon aus, dass Autismus eine natürliche Form menschlicher neurologischer Vielfalt ist – kein Defekt, sondern einfach Unterschiedlichkeiten in Gehirnen. Hierbei liegt der Fokus auf Stärken und unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen, die mittels einer barrierefreien Umwelt in den Alltag integriert werden sollen.
Neurodivergente Gehirne funktionieren anders. Moderne Diagnostik erkennt die Stärken der Vielfalt menschlicher Gehirne an, ältere konzentriert sich eher auf die „Schwächen“.
Ältere, defizitorientierte Modelle beschreiben Autismus dagegen vor allem über fehlende Fähigkeiten, soziale Defizite und Abweichungen von einer „Norm“, was häufig zu Stigmatisierung führt. Diese klassischen Sichtweisen prägen auch den Einsatz diagnostischer Instrumente, die stark auf Defiziterfassung ausgerichtet sind. Das zeigt eine britische Untersuchung aus dem Jahr 2023. Diese unterschiedlichen Zugänge führen im Alltag oft zu verschiedenen Diagnosen, Einschätzungen und Empfehlungen, so die Ergebnisse einer weiteren UK-Studie aus dem Jahr 2018.
Ein Teufelskreis?
Die Diagnostiken, die im Rahmen der vorliegenden Recherche angeboten werden, umfassen je nach Psycholog:in zwischen drei und sechs Terminen und belaufen sich auf Kosten zwischen 590 und 1.120 Euro, wobei mehr Termine nicht zwangsläufig teurer sind. Teile dieser Summen können von den Krankenkassen rückerstattet werden. Zwei Diagnostiker:innen erwähnen, dass Gespräche mit Angehörigen stattfinden sollen. Einen Hinweis darauf, dass in den Sessions mehrere Fachpersonen anwesend sein sollen, gibt es in keiner der Antworten.
Doch geht es nach Hackenberg, ist allein die physische Anwesenheit mehrerer Personen nicht ausschlaggebend für den Untersuchungserfolg. Es reiche, wenn ein Austausch zwischen Diagnostiker:innen und anderen beteiligten Therapeut:innen bestehe – vor allem bei Kindern mit Autismusverdacht spielen beispielsweise ergotherapeutische oder logopädische Einschätzungen eine maßgebliche Rolle.
Bestehende Leitlinien zur Autismusdiagnostik werden oft nicht eingehalten.
Zierhut betont zudem, dass auch jene Tests, die heute als „Gold-Standard“ gelten, kritisch hinterfragt werden müssen. „Viele dieser Verfahren stammen aus der Forschung und wurden ursprünglich für Kinder und sehr kontrollierte Testsituationen entwickelt“, sagt er. Eine zeitgemäße Diagnostik, so Zierhut, sollte solche Tests daher, wenn überhaupt, nur ergänzend nutzen und immer im Zusammenhang mit der Lebensrealität der jeweiligen Person betrachten. Besonders bei Frauen würden sie wichtige Hinweise übersehen – oder nur einen Ausschnitt ihrer tatsächlichen Erfahrung aufzeichnen.
Liebe, brave Frauen
„Ein Mädchen hat lieb, nett, hübsch und angepasst zu sein”, so Hackenberg. „So werden sie erzogen.” Sie lernen daher früh, sich so zu verhalten, dass sie nicht auffallen. Masking (dt.: maskieren) wird das im Kontext von Autismus genannt: Auch wenn es Frauen mit ASS schwerer fällt, beispielsweise in Gesprächen mit anderen nonverbale Signale zu deuten, reagieren sie darauf meist dennoch unauffällig – einfach weil sie das von klein auf eingeübt haben. Das kennt auch Frederike, die bei Zusammentreffen mit anderen zwar ängstlich wird, diese Ängste zugunsten der Erwartungen anderer aber vorrangig verdrängt: „Ich habe trotzdem etwas mit Freund:innen gemacht, war halt nervös und studierte schon vorab Antworten auf mögliche Fragen ein”, erzählt sie.
Erschöpfung und Reizbarkeit, genauso wie Konzentrationsprobleme und niedrige Selbstwertgefühle, Motivationsverlust und ein zunehmender sozialer Rückzug werden oftmals mit Depressionen verwechselt. Starke Gefühlsausbrüche, impulsives Verhalten, Konflikte in Beziehungen oder gar selbstverletzendes Verhalten erinnern oft an Borderline.
Doch auch wenn äußere Anzeichen ähnlich ausfallen, sind innere Ursachen und psychologische Mechanismen unterschiedlich. „Autist:innen brauchen ganz andere Therapiezugänge als Borderline-Patient:innen”, so Brigitte Hackenberg. Besteht kein Zugang zu adäquater Therapie, erschwert das den Patient:innen nicht nur die Möglichkeit, besser mit bestehenden Herausforderungen umzugehen, sondern verstärkt auch die Annahme, falsch zu sein. Geht es nach Hackenberg, kann dieses Denken bis hin zur Suizidalität führen.
Frauen lernen früh zu maskieren. Deshalb fallen Autistinnen auch in der Gesellschaft kaum auf.
Wenn ein Verdacht auf Autismus aber gar nicht erst entsteht, ist es schwer, an die richtigen Ansprechpartner:innen zu kommen. Oft kommt man dann nahezu automatisch an Tests, die andere Erklärungen vorschlagen, mit anderen Maßnahmen zur Qualitätssicherung arbeiten – und schließlich auch andere Ergebnisse liefern. Ein Teufelskreis also?
Ist es etwa doch Trauma?
Immer wieder sieht Frederike auf Instagram Videos von Menschen, die ihre Erfahrungen mit Neurodivergenzen teilen. Immer wieder hat Frederike den Eindruck, darin Erklärungen für ihre Probleme zu erkennen. Die letzte Diagnostikerfahrung verunsichert sie, doch weil der Leidensdruck hoch ist, versucht sie es nach einer Weile erneut.
Vier Stunden lang beantwortet sie bei einer neuen Diagnostikerin Fragen, füllt Fragebögen auf Papier und Tests am Computer aus. Frederike fühlt sich nach wie vor unsicher. Sie überlegt viel, was sie antworten soll, sagt Dinge, die sie im Nachhinein nicht richtig findet. Dann bekommt sie ihre Diagnose: eine posttraumatische Belastungsstörung.
Wieder das Thema Trauma. Irrt sich Frederike mit ihrer Vermutung, neurodivergent zu sein, etwa selbst? In Beziehungen wird sie oft falsch verstanden, sodass es zu Konflikten kommt. Sie ist oft emotional, kann sich nicht gut regulieren. Frederike glaubt, zunehmend Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und ihrer neuen Diagnose zu sehen.
Autist:innen sind sensibler
„Ich möchte fast behaupten, dass wir bei Spektrumpatient:innen häufiger Traumafolgestörungen sehen als bei Menschen, die diese Diagnose nicht haben”, sagt Brigitte Hackenberg. „Warum? Weil bereits im Kindesalter ihre Vulnerabilität, ihre Verwundbarkeit, ihre Sensibilität sie hemmt, Ereignisse, die andere Kinder relativ gut bewältigen können, gleichermaßen zu bewältigen.” Zwar sind beispielsweise Scheidungen oder Konflikte der Eltern für die meisten Kinder belastend, unter förderlichen Voraussetzungen können sie diese aber gut bewältigen. Kinder mit ASS könnten das weniger gut oder würden davon mitunter richtiggehend traumatisiert.
So entstehen Mehrfachdiagnosen: Dachte die Fachwelt bis vor Kurzem etwa noch, dass sich beispielsweise Zuschreibungen wie Autismus und ADHS gegenseitig ausschließen, weiß man heute, dass das nicht so ist. Im Gegenteil: „Fast 60 Prozent aller Menschen mit einer Spektrumdiagnose haben auch ein Aufmerksamkeitsdefizit”, so Hackenberg.
Weil ihre Sensibilität sie bereits im Kindesalter hemmt, können Kinder mit ASS belastende Ereignisse wie Scheidungen oder elterliche Konflikte oft schlechter bewältigen – und werden davon mitunter traumatisiert.
Wieder beginnt Frederike eine neue Therapie, wieder bringt ihr diese keine Entlastung. „Das Leben war immer noch anstrengend. Ich hatte schon immer einen Tinnitus, totale Verspannungen, fühlte mich immer ausgebrannt, immer müde von allem, und es ist nie besser geworden.” Während sie sich in der Therapie größte Mühe gibt, endlich Antworten auf ihre Fragen zu finden, keimen ihre sozialen Ängste mehr auf denn je. „Ich glaube, dass mich diese Suche danach, was ich wirklich bin, noch mehr durcheinandergebracht hat und ich dann gar nicht mehr wusste, wem gegenüber ich mich wie verhalten soll und wer ich wirklich bin.”
Die Antidepressiva, die Frederike währenddessen einnimmt, scheinen ihr eine dickere Haut zu schenken. „Im Nachhinein würde ich sagen, sie haben mir nur geholfen, ein bisschen mehr zu maskieren. Ich habe es geschafft, acht Stunden im Job zu sein, ohne währenddessen aufs Klo zu laufen, um zu weinen und mich zu regulieren.” Stattdessen kommen die Tränen erst, wenn Frederike wieder zu Hause ist.
Weil Frederike das Geld ausgeht, beendet sie nach etwa 15 Monaten die Psychotherapie.
Wenn Frederike in dieser Zeit Reels über Autismus sieht, fragt sie sich, ob sie sich einfach einredet, die genannten Anzeichen von sich selbst zu kennen. Wäre ihr diese Diagnose vielleicht einfach angenehmer, weil sie sozial akzeptierter scheint?
Frederike nimmt die Dinge selbst in die Hand
Nach mehreren Monaten, Ende 2023, überwindet sich Frederike dennoch, ihre Hausärztin um eine weitere Überweisung zur Diagnostik zu bitten. Diese lehnt erst ab, sagt, eine Diagnose reiche für ein Leben, doch Frederike pocht auf das Recht, laut Sozialversicherung einmal jährlich eine Diagnose machen zu lassen.
Frederike nimmt die Dinge selbst in die Hand. Sie recherchiert nach Psycholog:innen, die auf Neurodivergenzen bei Frauen spezialisiert sind – und wird fündig. Trotz begrenztem Budget entscheidet sie sich für einen Experten, dem sie für die Untersuchung rund 1.000 Euro zahlen muss. Etwa die Hälfte bekommt sie später von der Kasse retour.
Frederike bittet ihre Hausärztin um eine neue Überweisung und pocht auf ihr Recht, laut Sozialversicherung einmal jährlich eine Diagnostik in Anspruch nehmen zu können.
Neun Monate wartet Frederike auf ihr Erstgespräch. Zwei Einheiten verbringt sie damit, nur mit dem Psychologen zu sprechen. Er fragt, sie antwortet, er hakt umso tiefgründiger nach. Zwei Einheiten verbringt sie mit Testungen auf Papier und am Computer. Der Psychologe spricht auch mit Frederikes Partner, weil dieser die meiste Zeit mit ihr verbringt. Auf die Meinung der Eltern möchte er sich nicht verlassen. Menschen, die uns schon lange kennen, so erklärt es der klinische Psychologe Andreas Zierhut, neigen dazu, autistische Verhaltensweisen als unauffällig wahrzunehmen – einfach weil sie diese aus langjähriger Gewöhnung heraus nicht als Besonderheit einstufen. Dadurch könne das tatsächliche Erleben der betroffenen Person leicht unterschätzt werden.
Beim fünften Termin bekommt Frederike einen Befund: Autismus, ADHS, Ängste und Depressionen. Der Psychologe nimmt sich Zeit, mit seiner Klientin über die Bedeutung dieses Urteils zu sprechen. Immer wieder, daran erinnert sich Frederike heute besonders gut, betont er auch die Stärken von Neurodivergenzen. „Das war wirklich ein Highlight-Moment.”
Mit 32 Jahren, nach fünf Jahren aktiver Suche zwischen Fachpersonen und noch viel mehr Jahren, in denen sie sich stets anders fühlt, findet Frederike endlich Antworten.
Der Beginn einer Reise – oder: „Ich bin ok.”
„Je mehr ich mich mit meiner neuen Diagnose auseinandergesetzt habe, desto mehr Aha-Momente habe ich gehabt, desto mehr habe ich meine Kindheit verstanden. Ich habe verstanden, warum das Leben immer so anstrengend war.”
In einem sogenannten Skills-Training lernt Frederike heute, mit ihren Herausforderungen umzugehen. Sie lernt, wie ihr Bewegung zu Musik helfen kann, zur Entspannung zu finden, wie Fidget Spinner sie vom Nägelkauen abhalten und wie entspannend es ist, sich im Anblick einer Lavalampe zu verlieren. Sie lernt, sich in Kunst und Interior Design zu vertiefen und dass sie sich mit einer Sonnenbrille und Ohrenschutz vor Reizüberflutung schützen kann.
In einem Skills-Training lernt Frederike, mit Bewegung zur Musik, Fidget Spinnern und kleinen Rückzugsritualen besser mit ihren Herausforderungen umzugehen.
Dennoch sitzen die Verunsicherungen nach all den Fehleinschätzungen tief. Immer wieder hinterfragt Frederike, ob sie nun wirklich angekommen ist. Doch das neue Urteil fühlt sich richtig an: „Ich bin Autistin. Die Schwierigkeiten, die ich mein Leben lang kenne, beruhen auf der Neurodivergenz. Ich darf dazu stehen, und ich darf das so annehmen. Das weiß ich jetzt”, sagt sie. Heute ahnt Frederike, dass sie zusätzlich zur Neurodivergenz auch ein Trauma hat: wegen all der Jahre, in denen ihr Eltern, Partner, Freund:innen, Ärzt:innen und Lehrer:innen, wenn auch unbewusst, das Gefühl gegeben haben, falsch zu sein. So ganz versteht sie es selbst noch nicht: „Ich bin noch am Beginn dieser ganzen Reise.”
Die Expertise neurodivergenter Menschen nützen
Geht es nach der Medizinerin Brigitte Hackenberg, ist es genau das, was Frederike gemacht hat, das Besserung in die Landschaft der Autismus-Diagnosen bringen wird: Information auf Social Media zu sammeln. „Lesen Sie sich auf Wikipedia mal den Begriff Neurodivergenz durch und schauen Sie, was für Sie stimmt”, rät Brigitte Hackenberg. „Das heißt noch nicht, dass Sie ein:e Autist:in sind, aber vielleicht finden Sie einzelne Merkmale oder Verhaltensmuster bei sich.” Ein erster Verdacht liefert ein neues Puzzleteil, das weiter zur richtigen Diagnose führen kann.
Ein weiteres Puzzleteil, so sieht es der Psychologe Andreas Zierhut, könne der Trend bieten, dass zunehmend auch neurodivergente Fachpersonen selbst in Diagnostik und Therapie tätig seien. „Ihre Perspektive erweitert das Verständnis von Autismus und trägt zu einer empathischeren, realitätsnäheren und authentischeren Praxis bei.” Das – gemeinsam mit fachlichem Wissen, der Auswertung mehrerer relevanter Datenquellen, präziser klinischer Beurteilung und einem respektvollen, neurodiversitätssensiblen Zugang, der auch geschlechtsspezifische und maskierende Anzeichen berücksichtigt – sei mehr wert, als eine Mehrzahl an Beobachter:innen oder einzelne Messinstrumente.
„Ich bin nicht allein”
Erst vor Kurzem stößt Frederike auf Instagram auf einen Post einer spätdiagnostizierten, neurodivergenten Influencerin, die Gleichgesinnte aufruft, in den Kommentaren ihre Wohnorte zu teilen. „Da haben sich Leute aus Wien vernetzt und eine WhatsApp-Gruppe gegründet. Gestern war das erste Treffen.“ Bis spät am Abend sitzt Frederike mit anderen zusammen, die Ähnliches erlebt haben. Der Austausch hilft Frederike, vieles zu verstehen – vor allem, dass sie mit ihren Sorgen nicht alleine ist. Und: „Ich habe auch das erste Mal eine Person kennengelernt, die Jahre vor ihrer Autismus-Diagnose auch eine Borderline-Diagnose bekommen hat.”
Du überlegst, ob du autistisch bist? Vereine wie die Autistenhilfe in Wien oder das Autismus Netzwerk Austria können dir empfehlenswerte Psychodiagnostiker:innen nennen – und auch die Berufsverbände der Psychotherapeut:innen geben über Autismusexpert:innen Auskunft.
Diese Recherche wurde mit dem Stipendium Recherche:Wien des forum journalismus und medien (fjum) finanziell unterstützt. Sie ist in redaktioneller Unabhängigkeit entstanden.
So sind wir in dieser Recherche vorgegangen:
- Hintergrundgespräche mit mehreren Menschen, die Autismusdiagnosen hinter sich haben
- Hintergrundgespräche und schriftlicher Austausch mit mehreren Expert:innen, darunter Psycholog:innen, Psychiater:innen, Ergotherapeut:innen, Pädiater:innen
- Analyse internationaler Studien
- Analyse internationaler Literatur
- Analyse aktueller Medienberichte
- Investigative Recherche der Diagnosestruktur in Wien
- Datenjournalistische Recherche der Diagnosestruktur in Wien
- Interviews mit Erfahrungsexpert:innen und Expert:innen durch Ausbildung
- interdisziplinäre und insbesondere psychologische Evaluierung der Recherche
Quellen
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. (2016).
S3-Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen: Diagnostik.
https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-018l_S3_Autismus-Spektrum-Stoerungen_ASS-Diagnostik_2016-05-abgelaufen.pdf. Zugegriffen: 6.12.2025 - Berufsverband Österreichischer Psycholog:innen. (2025).
Fachkräftemangel in der psychologischen Versorgung: Aktuelle Entwicklungen und Forderungen.
https://www.boep.or.at/aktuelles/detail?news_item_id=69297c5d3c15c83afc000093. Zugegriffen: 6.12.2025 - Curnow et al. (2023). Diagnostic assessment of autism in adults – current considerations in neurodevelopmentally informed professional learning with reference to ADOS-2. https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2023.1258204/full. Zugegriffen: 6.12.2025
- Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). (2023). Versorgungslage Psychotherapie 2040. https://jasmin.goeg.at/id/eprint/2898/1/Versorgungslage%20PT%202040_bf.pdf. Zugegriffen: 6.12.2025
- Kentrou, V. (2024). Perceived misdiagnosis of psychiatric conditions in autistic adults. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11001629/. Zugegriffen: 6.12.2025
- Narzisi et al. (2025) Sensory processing in autism: a call for research and action. https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2025.1584893/full. Zugegriffen: 6.12.2025
- Norris, M., Spence, A., & Happé, F. (2018). Extending the minority stress model to understand mental health problems experienced by the autistic population. https://www.researchgate.net/publication/328074306_Extending_the_Minority_Stress_Model_to_Understand_Mental_Health_Problems_Experienced_by_the_Autistic_Population. Zugegriffen: 6.12.2025
- Patil, O. & Kaple, M. (2023). Sensory Processing Differences in Individuals With Autism Spectrum Disorder: A Narrative Review of Underlying Mechanisms and Sensory-Based Interventions. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10687592/. Zugegriffen: 6.12.2025
- Rynkiewicz, A., et al. (2024). A different different? The female presentation of autism spectrum disorder and implications for detection and diagnosis. https://www.researchgate.net/publication/396455340. Zugegriffen: 6.12.2025
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