„Es gibt keine gesunde Menge Alkohol“

Ein Expert:innen-Gespräch über Alltagskonsum, wann er zum Problem wird und den Weg zur Hilfe

Text: Jolanda Allram
Bilder: Alena Shekhovtsova/The Alena Shekhovtsova Collection, artistGNDphotography/Getty Images

Datum: 25. Juli 2025
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Ab wann wird mein Alkoholkonsum zum Problem? Was hilft Betroffenen wirklich? Welche Rolle spielt unsere Kultur beim Thema Alkoholsucht und was braucht es für eine wirksame Prävention? Dr. Regina Walther-Philipp, ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien, und Lisa Brunner, Leiterin des Instituts für Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien, im Gespräch.

 

Wer genießt das nicht: laue Sommernächte, gute Gesellschaft – das ein oder andere Gläschen Wein gehört da schon fast dazu. Ist das schon problematisch? 

Dr. Regina Walther-Philipp: Nein, problematisch wird es, wenn das Gläschen in guter Gesellschaft zur Gewohnheit wird. Alkohol enthemmt und erleichtert soziale Interaktionen. Das ist ein angenehmer Nebeneffekt und muss, wenn gelegentlich ein Glas getrunken wird, noch nicht zur Abhängigkeit führen. Problematisch wird es, wenn Trinken zur einzigen Strategie wird, um mit Stress umzugehen und alternative Strategien für Stressabbau fehlen.

Gibt es noch andere Warnzeichen für problematisches Trinkverhalten? 

Walther-Philipp: Grundsätzlich wird es problematisch, wenn der Alkohol eine Funktion erfüllen muss. Wenn Menschen trinken, um sich zu entspannen oder Stress abzubauen. Auch wenn das regelmäßige Trinken zum Automatismus wird, ein Lokalbesuch beispielsweise immer mit dem Alkoholkonsum verbunden ist. Wenn der Konsum vermehrt zu Streit mit dem Partner, der Familie führt, wir weniger leistungsfähig sind oder unsere Arbeit vernachlässigen. Den Begriff der Harmlosigkeitsgrenze verwenden wir heute nicht mehr, denn wir wissen jetzt: Alkohol ist generell ein Zellgift. Er schädigt Körperzellen unmittelbar und hat somit Folgen für alle Organe und Organsysteme im Organismus. Das gesunde Achterl gibt es also nicht.

Das Hauptproblem ist, dass man bei sich selbst und anderen oft sehr lange wegschaut, auch weil Alkoholkonsum gesellschaftlich akzeptiert ist. Erste Hinweise sind zum Beispiel ein schlechtes Gewissen morgens, nach dem Aufwachen. Wir fragen uns dann vielleicht: „Trinke ich zu viel oder trinken meine Freund:innen zu viel?“ Wenn man anfängt, sich darüber Gedanken zu machen, ist das schon der erste Schritt, um die Motivation zu entwickeln, etwas zu verändern.

„Alkohol ist in unserer Gesellschaft tief verankert – sei es bei Festen, im Berufsleben oder als alltägliches Genussmittel“, sagt Lisa Brunner, Sucht- und Drogenkoordination Wien.

Apropos Freund:innen: Wie reagieren wir am besten, wenn uns ihr Alkoholkonsum Sorgen bereitet?

Walther-Philipp: Wenn es uns bei jemandem im Umfeld auffällt, sollten wir die Person behutsam konfrontieren: unsere Sorge ausdrücken, ohne Vorwürfe zu machen. Wir können sagen: „Ich habe das Gefühl, dass es dir vielleicht nicht so gut geht, kann ich dir Unterstützung anbieten?“

Warum ist es so wichtig, behutsam zu sprechen? Was macht das Thema so heikel?

Walther-Philipp: Die Stigmatisierung von Alkohol- und Suchterkrankungen hindert viele Menschen daran, Hilfe anzunehmen. Ich zitiere gerne einen Kollegen vom Anton-Proksch-Institut, der sagte: „In Österreich darf jeder saufen, aber alkoholkrank darf man nicht sein.“ Wir schämen uns dafür, suchtkrank zu sein. Auch, wenn es eine Erkrankung ist und keine Willensschwäche. Dieses Klischee trägt stark zum Stigma bei. Alkoholkrankheit trifft alle Gesellschaftsschichten und ist kein rein körperliches Phänomen. Häufig ist die Sucht von psychischen Erkrankungen begleitet oder verursacht. Zusätzlich sind die betroffenen Personen oft mit sozialen Problemen, wie Arbeits- oder Obdachlosigkeit konfrontiert. All diese Faktoren verstärken die Diskriminierung und Stigmatisierung, müssen aber nicht unbedingt auftreten: Viele Menschen haben einen problematischen Konsum und nehmen ganz normal am Alltag teil, arbeiten oder studieren.

Auf der einen Seite gibt es also das Stigma Alkoholsucht – auf der anderen ist es aber „normal“ zu trinken?

Lisa Brunner: Alkohol ist in unserer Gesellschaft tief verankert – sei es bei Festen, im Berufsleben oder als alltägliches Genussmittel. Das führt dazu, dass Konsum – solange er nicht unangenehm auffällt und mit Problemen im Alltag einhergeht – als „normal“ wahrgenommen wird und sozial anerkannt ist. Die Entscheidung, zu trinken oder nicht zu trinken, ist immer auch sozial geprägt und vom Umfeld abhängig. Genau deshalb ist es wichtig, in der Prävention nicht nur persönliche Risiken zu benennen, sondern auch gesellschaftliche Normen und Haltungen zu hinterfragen.

Alkohol ist leicht verfügbar – das allein macht noch nicht abhängig, kann aber das Risiko erhöhen.

Prävention bedeutet auch, strukturelle Belastungen sichtbar zu machen und über gesündere und wirksame Formen der Stressbewältigung zu sprechen.

Lisa Brunner, Sucht- und Drogenkoordination Wien

Begünstigt unsere Kultur also Alkoholsucht?

Walther-Philipp: In Österreich ist moderater Alkoholkonsum gesellschaftlich akzeptiert. Das unterscheidet uns zum Beispiel vom Norden Europas, wo Rauschtrinken eher akzeptiert ist. Auch wenn der Kontrollverlust hierzulande auf Ablehnung stößt: Alkohol ist in Österreich ein Kulturgut. Wir haben wirklich gute Weine und wir sind ein Bierland. Das ist tatsächlich nicht einfach für Menschen. Aber ob sich eine Suchterkrankung entwickelt, hängt nicht nur von einer Ursache, sondern von ganz vielen Faktoren ab: Wie wachse ich auf, gibt es eine genetische Veranlagung, was leben mir meine Eltern vor, welche Voraussetzungen und Ressourcen habe ich? Allein die leichte Verfügbarkeit von Alkohol erhöht noch nicht das Risiko an einer Abhängigkeit zu erkranken, kann aber ein begünstigender Faktor sein.

Brunner: Die Wirkung der Substanz Alkohol ist vielfältig. Neben der kulturellen Komponente sind es auch Belastungen, die uns zum Alkohol greifen lassen. Manche Menschen haben etwa das Gefühl, dass Alkoholkonsum Spannungen lindert und ihnen durch stressige Situationen hilft – das macht ihn für viele Personen zu einem scheinbar wirkungsvollen Bewältigungsmechanismus. Gerade unter Stress, hohen Leistungsanforderungen oder familiärer Mehrfachbelastung greifen manche deshalb häufiger zum Glas. Prävention bedeutet auch, strukturelle Belastungen sichtbar zu machen und über gesündere und wirksame Formen der Stressbewältigung zu sprechen.

Wie stehen wir aktuell da beim Thema Prävention?

Brunner: In Österreich gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf in der Alkoholprävention. Während internationale Empfehlungen der WHO beispielsweise Maßnahmen wie Werbebeschränkungen oder Preisanpassungen anregen, setzen wir auf regionaler Ebene verstärkt auf nachhaltige Sensibilisierung, Aufklärung, Dialog und frühzeitige Intervention. Initiativen wie die Österreichische Dialogwoche Alkohol zeigen, wie wichtig es ist, das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu holen und sachlich über Trinkgewohnheiten und Risiken zu sprechen. Mit digitalen Tools wie unserer App alkcoach erreichen wir Personen, die ihren Konsum reduzieren, aber noch keine Suchtberatung aufsuchen wollen. Aus der Forschung wissen wir, dass verstärkte Regulierung – beispielsweise über Werbeverbote, Preisgestaltung und Steuern – als Baustein einer umfassenden Präventionsstrategie auch sehr effektiv wäre.

Wohin können sich Betroffene wenden, wenn sie das Gefühl haben, Hilfe zu brauchen?

Walther-Philipp: In Wien gibt es das Regionale Kompetenzzentrum, eine zentrale Anlaufstelle für Behandlung und Beratung im Bereich Alkohol. Hier werden auch Menschen unterstützt, die ihren Konsum einfach reflektieren wollen. Da muss man nicht erst hingehen, wenn man schon eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hat. Man kann unkompliziert anrufen und einen zeitnahen Termin vereinbaren. Dort schauen wir uns gemeinsam an: Wo steht der Mensch gerade? Körperlich, psychisch und sozial – denn Suchterkrankungen sind ein komplexes Gebilde. Wir führen viele Gespräche, sich zu öffnen kann sehr befreiend für die Betroffenen sein. Wenn sich dabei herausstellt, dass weitere Unterstützung notwendig ist,  wird ein Therapieplan entwickelt, der auf diese Einzelpersonen zugeschnitten ist.

Wie kann ein solcher Plan aussehen?

Walther-Philipp: Im Rahmen von unserem Angebot „Alkohol.Leben können.“ gestalten wir für jede Person individuell passende Behandlungsverläufe: Manche Menschen wollen in Gruppen arbeiten, andere brauchen Einzelgespräche. Manchmal ist eine stationäre Therapie zielführend, dann wieder eignet sich eine ganztägig ambulante Behandlung besser: Die Menschen sind tagsüber in der Einrichtung, am Abend gehen sie wieder nach Hause. Unsere Einrichtungen, dazu gehören zum Beispiel das Anton-Proksch-Institut, das Schweizerhaus Hadersdorf, der Grüne Kreis, oder der Dialog, setzen unterschiedliche Schwerpunkte, um diesen Unterschieden gerecht zu werden. Dieses vielfältige Angebot wird von den Patient:innen sehr gut angenommen. Die Menschen werden umfassend betreut, sie erhalten psychiatrische, psychologische, medizinische und sozialarbeiterische Unterstützung, und das über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren hinweg. Ziel ist es, Bewältigungstrategien zu erlernen, um später auch im Alltag mit schwierigen Situationen umzugehen. Ohne therapeutische Unterstützung ist das Risiko, beispielsweise nach einem Entzug in alte Muster zu fallen, nämlich extrem hoch.

In der Therapie erlernte Strategien helfen, im Alltag nicht in alte Muster zurückzufallen.

Es wird heute also anders mit Alkoholsucht umgegangen?

Walther-Philipp: Wir bewegen uns weg vom klassischen Abstinenzparadigma und bauen stark auf eine integrierte Versorgung: Jede suchtkranke Person hat individuelle Herausforderungen, die wir mit den unterschiedlichsten Ansätzen und Einrichtungen adressieren können. Wenn wir Menschen sagen, sie dürfen zum Beispiel nie wieder eine Zigarette anrühren oder nie wieder ein Glas Wein trinken, dann ist das sehr herausfordernd. Das „Nie“ kann dann sehr weit weg sein. Heute gibt es den Ansatz der zieloffenen Suchtarbeit: Betroffene Menschen legen ihre Ziele selbst fest. Es ist auch ein großer Erfolg, wenn der tägliche Konsum auf dreimal pro Woche reduziert wird. Diese Menschen lernen Strategien, um Kontrolle über den eigenen Konsum zu gewinnen. Für manche Menschen ist Abstinenz das erklärte Ziel, für andere nicht – wir respektieren beides. Und genau das drückt auch das Behandlungsangebot „Alkohol. Leben können.“ aus.

Dass Alkoholkrankheit als Willensfrage und Charakterschwäche gesehen wird, ist problematisch und erschwert den Zugang zu Therapie und Behandlung massiv.

Dr. Regina Walther-Philipp

Was wünschen Sie sich für unsere Gesellschaft im Umgang mit Alkohol?

Brunner: Effektive Prävention muss auf mehreren Ebenen ansetzen. Sie soll Einzelpersonen unterstützen, aber auch das Umfeld gestalten. Auf individueller Ebene geht es darum, Menschen frühzeitig in ihren Lebenskompetenzen zu stärken und sie auf bewussten Konsum zu sensibilisieren. Auf struktureller Ebene wären klarere gesetzliche Rahmenbedingungen, etwa in Bezug auf Verfügbarkeit, Werbung und Steuern, besonders relevant. Wichtig ist uns auch die Zusammenarbeit mit Schulen, Betrieben oder der Jugendarbeit. Zusätzlich braucht es genügend Kapazitäten für die Behandlung, Beratung und Betreuung von Menschen mit Alkoholsucht.

Walther-Philipp: Ein wirklich großes Anliegen für mich ist, dass man sich nicht mehr dafür schämen muss, dass man eine Abhängigkeitserkrankung hat. Dass Alkoholkrankheit als Willensfrage und Charakterschwäche gesehen wird, ist problematisch und erschwert den Zugang zu Therapie und Behandlung massiv. Ich glaube, Menschen würden wesentlich früher Hilfe suchen, wenn wir in der Gesellschaft offener damit umgehen, dass jemand ein Problem hat, anstatt es zu verurteilen. Ebenso braucht es viel Aufklärung. Wir haben in Österreich ganz, ganz viele alkoholerkrankte Menschen. Das ist kein kleines Phänomen, sondern volkswirtschaftlich von Bedeutung. Wichtig ist, dass ich nicht erst darauf warten muss, bis es mir richtig schlecht geht. Sobald die Sorge über das eigene Trinkverhalten auftaucht, kann man sich bei uns ganz niederschwellig Hilfe holen. Einfach anrufen, vorbeikommen, drüber reden und schauen, ob es was braucht und was es braucht.

 

Dieser Beitrag ist in bezahlter Zusammenarbeit mit den Psychosozialen Diensten und der Sucht- und Drogenkoordination Wien entstanden.

Melde dich zu unserem Newsletter an:

 

Mit der Anmeldung zu unserem Newsletter akzeptierst du unsere Datenschutzrichtlinien.