Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit dem Thema bipolare Störung. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

„Bin ich mutig, wenn ich über meine Krankheit spreche?“ Ein Brief über das Leben mit bipolarer Störung

Im Anschluss an ihr Gespräch mit ZIMT macht sich Vero weitere Gedanken über ihre bipolare Störung. In einem Brief an die Redaktion erzählt sie, was die Diagnose für sie bedeutet.

Text: Veronika Griesmayr
Fotos: Jana Reininger

Datum: 27. Mai 2022

Guten Abend, liebe Jana,

nun ist mir aufgefallen, dass ich bisher nur über das gute an der Manie erzählt habe. Das, was erstrebt wird. Wie das Selbstbewusstsein unerschütterlich ist, wie man sich alles zutraut, alles für möglich hält. Wie die Gedanken rasen und sich überschlagen. Wie die Welt zu langsam ist. Andere Menschen verstehen oft nicht, dass dieser Zustand absolut akut ist. Dass ein Mensch nicht lange so leben kann. Wenn du denkst du fliegst, dann wirst du beim Aufprall erkennen: Du bist gefallen. In der Überschätzung verschätzt. Dann stehst du da, voller Träume und realisierst, du bist nicht genial, so wie du dachtest. Dann landen alle diese Träume in der Schublade, während sich die Hoffnungslosigkeit niederlässt. Am Ende geht es immer vorbei. Das Hochgefühl ist meist ein kurzes Vergnügen. Für mich fühlt es sich wie eine kleine Belohnung für meinen depressiven Kampf an.

Meine Krankheit ist so viel größer und so viel mehr, als nur meine Wahrnehmung und die eine Identität, in der ich gerade bin. Sie ist keine Krankheit, die du mal zwei Stunden am Abend spürst. Sie ist eine Krankheit, die dein Leben vollständig im Griff hat. Sie ist eine Krankheit, die dir dein Leben nehmen kann. Es gibt unzählige Wege, wie die Krankheit dich zugrunde richtet. Aber niemand spricht darüber. Niemand denkt darüber nach, wie eine Welt aussieht in der eine bipolare Person bestehen kann.

Sobald ich einen neuen Raum betrete, fängt es an. Dann verlasse ich mich selbst. Statt bei mir zu bleiben, hinterfrage ich, wie andere Menschen mich wahrnehmen. In mir herrscht die ständige Annahme, dass ich mich komisch und nicht nachvollziehbar verhalte. Dass es unangenehm ist, mit mir Zeit zu verbringen. Abends liege ich wach und hinterfrage jede soziale Interaktion. Ich weiß, dass meine Krankheit dazu führt, dass ich mich manchmal unangenehm und verletzend verhalte. Dass ich bereits Menschen verloren habe, weil eine manische oder depressive Episode gewechselt hat und ich plötzlich ein anderer Mensch war.

Vero und Hund Findus im Wohnzimmer ihrer WG

Vielleicht macht mich dieses Wissen und der ständige Versuch und Willen, eine angenehme Gesellschaft zu sein, zu einer besseren Freundin. Wenn ich abends im Bett liege, schaffe ich es auch oft, wieder zu mir zurück zu kehren. Ich schaffe es, mich davon zu überzeugen, dass manche meiner Freund:innen nicht seit über 20 Jahren mit mir befreundet wären, wenn alles an mir schlecht wäre.

Ich bin den Menschen, die mich in meinem täglichen Leben unterstützen, unglaublich dankbar. Ich weiß, dass ich unglaublich große Privilegien erfahre. Hier in Zentraleuropa kann ich mich behandeln lassen. Ich kann jeden Tag meine Pillen nehmen, werde von meinen Eltern unterstützt und habe ein stärkendes Umfeld. Meine Bedingungen sind perfekt. Nur deshalb habe ich meine Krankheit im Griff. Es macht mich ohnmächtig und beinahe betäubt, mir vorzustellen, wie viele Menschen keine Unterstützung und Versorgung bekommen. Einfach nur, weil die Krankheit psychisch und nicht körperlich ist, obwohl sie am Ende des Tages genauso an chemischen Vorgängen im Gehirn liegt.

Wer hat beschlossen, dass diese chemischen Vorgänge, die bei mir anders verlaufen, schlechter sind, als die der anderen? Die Listen bekannter bipolarer Personen sind voll mit Suiziden. Wahnsinnig kreative und geistreiche Personen sind an der Krankheit zugrunde gegangen. Jeder dieser Tode ist ein Scheitern unserer medizinischen Versorgung, ein Scheitern unserer Gesellschaft.

Doch das wird versteckt, unter einer Decke der Stigmatisierung. Meine Pillen soll ich lieber heimlich nehmen. Wenn ich über meine Erkrankung spreche, werde ich als stark gesehen. Als mutig, weil ich mich traue, offen darüber zu sprechen, dass ich eine chronische neurologische Erkrankung habe, eine genetisch bedingte Kondition. Sollte ich mich lieber schämen? Dann ist es umso wichtiger, dass ich laut sage, wie es ist.

Vero und Hund Findus im Wohnzimmer ihrer WG

Letztens war die Reaktion auf meine Aussage, dass ich bipolar bin: “Aber du siehst doch gar nicht so aus!” Viele denken, sie wüssten was diese Krankheit ist. Aber die wenigsten tun es wirklich. Die wenigstens haben eine Vorstellung, wie sie das Leben einer Person einschränkt und bestimmt. Welche Spuren der totale Kontrollverlust über das eigene Handeln hinterlässt. Ein Verlust jeglichen Vertrauens in mich selbst, jeglichen Vertrauens darin, dass ich mir etwas aufbauen könnte. 

Wir kämpfen alle unseren ganz eigenen Kampf. Hoffentlich finden wir unsere Wege. Hoffentlich ist die Liste der bekannten bipolaren Personen bald nicht mehr geprägt von den Schicksalen einsamer Personen, von Tod und von Sucht. Sondern vom Schaffen und den Ideen, die entstehen können wenn eine bipolare Person fliegen kann, ohne zu fallen. Das sage ich, ohne eine Manie verherrlichen zu wollen. Mit den richtigen Strategien, mit Unterstützung, mit dem richtigen Umfeld und der Möglichkeit sich auszuleben und zu entwickeln, muss diese Krankheit nicht symptomatisch sein. Es ist möglich, ein stabiles Leben zu führen. Es gibt auch diese Geschichten. Und sie sollten ebenso gehört werden, wie die, die zu früh zu Ende gegangen sind.

Vielleicht machen es diese Sätze einfacher zu verstehen, wie sich die Krankheit für mich anfühlt. Das war ja deine erste Frage in unserem Gespräch. Es ist nicht leicht, Gefühle zu beschreiben. Vor allem wenn es so viele sind. Die eigene Realität ist nicht immer greifbar. 

Ganz liebe Grüße

Vero

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