Und dann beginnt die Uhr zu ticken

Die Krebsdiagnose verändert Alexanders Leben. Über sein Leben mit dem Tod im Nacken.

Text: Alexander Greiner
Foto: Manfred Weis
Collage: Jana Reininger

Datum: 28. November 2022
Portrait Alexander Greiner, Foto: InfluCancer
Du hast Schmerzen. Du lässt dich untersuchen. Du besprichst das Ergebnis mit der Ärztin. Sie sagt dir: „Es ist Krebs.“ Wumm. Das sitzt. Lebensende. Kranksein. Leiden. Dir schwirren Bilder im Kopf, die du nicht sehen willst. Die Ärztin redet weiter. Du hörst nichts, alles ist dumpf, steif, erscheint dir unwichtig. Du hast nur noch Angst, dein Brustkorb schnürt sich zu, du kannst dich nicht bewegen. Fast 42.000 Menschen geht es jedes Jahr so oder ähnlich. Eine Krebsdiagnose reißt dich aus dem Leben, wie du es kanntest. Obwohl du vielleicht schon Oma, Opa oder andere Angehörige verloren hast – jetzt stehst du plötzlich der eigenen Sterblichkeit gegenüber. Es gibt schönere Situationen. Leben wir doch meist so, als lebten wir ewig. Mir erging es gleich. Anfangs wollte ich es nicht wahrhaben, spielte die Diagnose (Hodenkrebs) herunter, fühlte mich nach der ersten Therapie geheilt, der Krebs kam zurück und der Tod griff mir ein zweites Mal in den Nacken (Knochenmetastase in der Schulter). Jetzt ist es definitiv, dachte ich. Du bist eben nicht unsterblich. Benimm dich nicht so.

Shit, ich bin vergänglich

Einfach ist alles andere. Sprüche wie Memento mori, Tempus fugit und Carpe diem sind im Angesicht des Todes nur Schall und Rauch. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Du weißt nicht, wie lange du noch hast. Egal ob mit oder ohne Diagnose. In unseren Köpfen ist Krebs so stark mit dem Tod verknüpft, dass wir oft glauben, sofort sterben zu müssen. Hab und Gut verkaufen, alles regeln, noch ein gutes restliches Leben haben, die letzten paar Wochen. So gut es halt geht. Im Rahmen der Umstände. Das tut weh. Wer lässt schon gern los? Wer behauptet, auf Abschiede zu stehen? Das ist aber keine Angstmache. Daher noch ein paar Zahlen zum Einordnen: Etwa 20.300 Menschen sterben jedes Jahr an Krebs. Die Sterbefälle machen also die Hälfte der Neuerkrankungen aus. Aber: Knapp 376.000 Menschen lebten 2020 mit Krebs. Es sterben jährlich also nur fünf Prozent daran. Krebs ist doch nicht so direkt mit dem Tod verbunden, oder nicht mehr, zumindest nicht unmittelbar. Zahlreiche Krebsarten können heute in chronische Erkrankungen umgewandelt oder gar geheilt werden. (So auch Hodenkrebs, selbst im metastasierten Stadium.) Die Diagnose ist für viele Betroffene zum Glück nur ein Schuss vor den Bug. Bedenke, dass du sterblich bist.

Umgang mit der Sterblichkeit

„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen“, zählt die Autorin Bronnie Ware als eines von fünf Versäumnissen auf, die Sterbende bedauerten. Das ist wahrscheinlich das Wichtigste im Leben: Sagen, was du fühlst. Mitteilen, was dich bewegt. Darum fragen, was du willst. Nur so lebst du authentisch. Und: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von mir erwarteten.“ Wenn wir Erwartungen, die wir spüren, hinterfragen, und mit den Menschen in unserem Umfeld besprechen, kommen wir eventuell sogar drauf, dass manches ein Missverständnis ist. Klar, das ist schwer. Dazu müssen wir uns verletzlich zeigen. Wir öffnen den Raum für potenzielle Konflikte. Wir müssen uns auf einer Augenhöhe begegnen. Sonst funktioniert es nicht. Das braucht Übung. Viele haben nie gelernt, adäquat mit Gefühlen umzugehen. Das braucht Zeit. Zeit, die oft fehlt. „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“, steht auch auf Wares Liste. Und „Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten“. Miteinander in Kontakt treten. Macht uns das nicht aus? Als Menschen. Sind wir nicht soziale Wesen? Wir sind nicht allein. Du musst das Sterben nicht mit dir selbst ausmachen.

Best Advice: Das Leben leben

Klingt abgedroschen, drückt aber genau das aus, worum es geht. Die uns zur Verfügung stehende Zeit nicht verplempern. Das ist kein Appell an Stress. Muße ist wichtig. Es geht um Ausgleich. Ausgewogenheit. Etwas, das wir im Turbokapitalismus verlernt haben. Krebs ist nicht der ultimative Grund, sich mit dem Sterben zu beschäftigen. Er kann es aber sein. Holen wir uns das Leben wieder zurück. Und, da es ja so tragisch ist, dass wir nicht ewig leben, haben wir doch bitte Spaß daran. Denn es ist die fünfte Tatsache, die Sterbende laut Bronnie Ware bedauern, die wir, wenn wir alles andere ignorieren, nie vergessen sollten: „Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.“

Quellen:

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