„Was krank ist, wird abgelehnt“: Ein Gespräch über die Psyche von Frauen

Die Philosophin und feministische Beraterin Bettina Zehetner arbeitet seit über 20 Jahren im Verein Frauen* beraten Frauen*. Im Gespräch mit ZIMT erzählt sie, warum Schuldgefühle krank machen und Gesundheit zum Gradmesser für weiblichen Erfolg geworden ist.

Text: Dagmar Weidinger
Fotos: Markus Ladstätter
Collage: Jana Reininger

Datum: 14. März 2022

ZIMT: Frauen, die wir heute bewundern, sind fit, schlank und sicherlich auch sehr robust, sprich gesund. Ist psychische und physische Gesundheit für Frauen zu einem Gradmesser für Erfolg geworden?

Bettina Zehetner: Gesundheit ist definitiv zum neuen Merkmal in der Gesellschaft geworden, nach dem sich Personen selbst beurteilen. Es ist heutzutage nicht besonders attraktiv normal zu sein. Bunte Vögel sind gesellschaftlich sogar sehr anerkannt. Aber was krank oder abartig ist, wird immer noch klar abgelehnt. Vielleicht sogar mehr denn je. Daran hängt sich vieles an: der Fitness-Kult, der Schlankheits-Kult, Ernährungskulte jeglicher Art. Das kollektive Diäthalten scheint bei Frauen schon fast die Norm zu sein. Aber auch immer mehr junge Männer wissen welches Nahrungsmittel welchen Nährwert hat, was “gutes” und was “böses” Essen ist. Sicherlich ist es wichtig, dem eigenen Körper Gutes tun zu wollen, andererseits erscheint mir dieses Verhalten wie eine unglaubliche Disziplinierung. Man könnte die Energie, die hierfür aufgewendet wird, auch anders nutzen; das geht doch sehr ins Unpolitische. Außerdem empfinde ich es als extrem individualisierend nur über seinem Essen zu brüten.

ZIMT: Werden wir konkret: Inwiefern spielt psychische Gesundheit in Ihren Beratungsgesprächen mit Frauen eine Rolle?

Bettina Zehetner: Als feministische Beraterin verfolge ich einen Ansatz, der mehrere Perspektiven berücksichtigt. Ich nehme Ratsuchende nie in einer einzigen Funktion wahr – etwa als Mutter, Arbeitssuchende oder eben auch an Depression Leidende. Mir geht es darum, die Person in ihrer gesamten Lebenssituation innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu sehen. Dies beinhaltet bei Frauen* beraten Frauen* auch den Blick auf jede Form von Gewalt – als häufige Ursache von psychischer Krankheit.

ZIMT: Welche Konflikte, bzw. gesellschaftlichen Missstände führen dazu, dass Frauen psychisch krank werden? 

Bettina Zehetner: Viele Schwierigkeiten sind das Ergebnis destruktiver Partnerschaften. Hier spielt sich im Kleinen ab, was wir auch im Großen auf der gesellschaftlichen Ebene sehen. Frauen neigen in Liebesbeziehungen immer noch dazu, sich selbst die Schuld daran zu geben, wenn ihr Partner sie entwertet oder demütigt. Ängste, Grübelspiralen und depressive Verstimmungen können die Folge sein. Aber natürlich gibt es auch die andere Seite, dass Frauen dann laut oder wütend auftreten. Damit landen sie möglicherweise bei einer Borderline-Diagnose, die durchaus fragwürdig sein kann. Hier herrscht immer noch ein „double standard“ in der Bewertung: Während ein Mann als energisch und durchsetzungsfähig gilt, wird einer Frau mit demselben Verhalten schnell unterstellt, aggressiv oder hysterisch zu sein. Frauen stoßen schnell an Grenzen, wenn sie sich nicht normkonform „weiblich“ verhalten.

Autorin Dagmar Weidinger vor Collage-Hintergrund

ZIMT: Das klingt sehr Diagnose-kritisch. Wie stehen Sie zu medizinischen Klassifikationssystemen?

Bettina Zehetner: Ich sehe mich als kritisch, aber nicht generell ablehnend. Ratsuchende erleben es ja oft als Entlastung, wenn gemeinsam ein Begriff gefunden wird, mit dem sie das eigene Leiden besser verstehen können. Ein guter Weg dahin ist oft die Frage: „Was habe ich erlebt?“ Da wir in der Beratung eben gerade keine Diagnose stellen, öffnet diese Frage den Blick in einer produktiven Weise. Häufig wird durch das Erzählen der Lebensgeschichte klar, warum die „Störungen“ oder Beschwerden entstanden sind, welchen Sinn diese „Symptome“ haben und welche Funktion sie im gesamten Lebenszusammenhang erfüllen. Ich möchte das, was mir noch unfassbar erscheint, worin ich mir selbst fremd bin, zur Sprache bringen – dafür bietet die psychosoziale Beratung einen offenen Raum ohne Pathologisierung. Es geht uns um Verstehen, nicht um Bewertung. Eine zu schnelle Diagnose kann den Verstehensprozess verhindern.

ZIMT: Ann Cvetkovich schrieb bereits 2014 ein Buch mit dem Titel „Depressed? It might be political!” Wie aktuell ist sie mit dieser Aussage heute noch?

Bettina Zehetner: Diese Aussage ist für mich heute aktueller denn je. Politisierung bedeutet ja, etwas nicht als natur- oder schicksalsgegeben anzunehmen, sondern es als gestaltbar zu begreifen. Viele Ratsuchende kommen mit der Frage „Was mache ich falsch?“ in die Beratung und meinen sie wären selbst schuld daran, keinen Job zu finden oder in ihrem Beruf zu wenig Karriere zu machen, weil sie „nicht genügen“. Sehr häufig liegt es aber keineswegs an fehlender Qualifikation oder persönlicher Durchsetzungskraft, sondern einfach an einem Mangel an guten Arbeitsplätzen. Beständige Ablehnung bei der Arbeitssuche kann genauso krank machen wie Gewalt in der Beziehung.

ZIMT: Bleiben wir noch bei der Gewalt gegen Frauen. Diese hat leider tragische Aktualität. Auch das heurige Jahr hat wieder mit einem Femizid begonnen. Wie reagieren Sie als Verein auf das Thema?

Bettina Zehetner: Gewalt in all ihren Formen ist seit Beginn der Frauen*beratung ein Schwerpunktthema. Während der Pandemie hat sich die Anzahl der von Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner betroffenen Frauen nochmals deutlich erhöht. Besonders in unserer Onlineberatung, wo Frauen* uns anonym schreiben können, ist diese Steigerung sichtbar. Die Scham, Gewalt zu erleben, ist nach wie vor groß und besonders bei psychischer Gewalt dauert es oft sehr lange, bis diese als solche erkannt wird. Es braucht auch heute noch viel Mut, Gewalt in einer Beziehung als solche zu benennen und Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Wir haben darauf reagiert und ein Handbuch verfasst mit dem Titel „Ist das schon Gewalt? 

Jede fünfte Frau macht Gewalterfahrungen. Das Handbuch „Gewalt erkennen und verändern“ setzt sich damit auseinander, woran Gewalt erkannt und wie sie verändert werden kann. Das Buch, das Bettina Zehetner mitverfasst hat, ist hier kostenlos abrufbar.

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