Triggerwarnung
Der Artikel befasst sich mit Tod und Depression. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.
Plötzlich weg: Sophie
Als Sophies Mutter stirbt, erlebt Sophie eine depressive Phase. Um ihren Alltag dennoch zu bewältigen, greift sie zu Medikamenten.
Text: Jana Reininger
Foto: Jana Reininger
Als Sophies Mama Anfang Juni mit Bauchschmerzen ins Krankenhaus geht, sind sich alle sicher, sie habe Gastritis oder etwas Ähnliches. Doch sie irren. Sie hat einen Tumor. Im August wird sie operiert. „Zwei Wochen später war sie tot“, sagt Sophie an einem Tag im Oktober. In der geübten Art, wie sie die Worte ausspuckt, merkt man: Sophie spricht nicht das erste Mal über das, was ihr vor wenigen Wochen passiert ist. Heute sitzt Sophie in einem Kaffeehaus und erzählt einmal mehr ihre Geschichte.
An den meisten anderen Tagen ist Sophie im Museum. Dort arbeitet sie zwischen barocken Gemälden und modernen Kunstwerken. Was sie genau macht, möchte Sophie nicht erzählen, denn sie möchte anonym bleiben. Sophie ist dreißig Jahre alt und hat gerade einige Wochen medikamentöser Behandlung hinter sich. Denn als Sophies Mutter unerwartet stirbt, überrollt Sophie eine depressive Phase.
An einem Mittwoch Anfang September verabschiedet sich Sophie von ihrer Mutter. Um 03:00 Uhr nachts heißt es, man könne Sophies Mama nicht mehr helfen. „Mein Bruder und ich sind den ganzen Tag im Krankenhaus gesessen. Sie hat geschlafen, aber ich weiß, dass sie gemerkt hat, dass wir da waren.“ Um 08:00 Uhr morgens ist Mama hirntot. „Um 23:00 Uhr ist sie gestorben. Das war’s.“
Wieder funktionieren
Am Montag, fünf Tage nach dem Tod ihrer Mutter, geht Sophie zurück in die Arbeit. „Das wurde einfach verlangt“, sagt Sophie und rührt mit dem Löffel durch den Kaffeeschaum. „Mein Alltag hat funktioniert.“ Sie schafft es in jenen Tagen pünktlich zur Arbeit, erledigt ihre Aufgaben, schleppt sich am Feierabend wieder nach Hause. „Aber ich konnte einfach nicht schlafen.“ Stundenlang wälzt sich Sophie jede Nacht im Bett hin und her. „Mehr als drei Stunden Schlaf habe ich nie bekommen.“ Ständig rasen Gedanken durch ihren Kopf. „Sie war noch nicht einmal 60“, sagt Sophie. „Vielleicht hätte sie noch mehr Zeit gehabt, hätte ich ihr nicht zur Chemotherapie geraten“, sagt das Schuldgefühl. Sophie kann nicht aufhören zu weinen. Nach einer Woche wird es Sophie zu viel. „Ich konnte nicht mehr.“
Sophie geht zum Hausarzt. Der verschreibt ihr ein leichtes Antidepressivum. Eines, das nicht einmal einer psychiatrischen Untersuchung bedarf. „Das wird Ihnen den Schmerz nicht nehmen“, sagt er dabei. „Aber es wird Ihr Gedankenrad abstellen, sodass Sie zur Ruhe kommen.“ Sophie nimmt das Angebot an. Jeden Abend nach dem Essen schluckt sie eine Tablette. Jeden Abend wird sie etwa eine Dreiviertelstunde später müde. Nachts schläft sie durch. Drei Wochen lang nimmt Sophie die Medikamente.
„Sie haben mir geholfen zu funktionieren“, erzählt Sophie. Das ist wichtig, denn Sophie hat viel zu tun. „Plötzlich musst du ein Begräbnis organisieren und jede:r möchte mit dir über die Verstorbene sprechen. Obwohl du selbst noch nicht einmal darüber reden kannst.“ Das setzt unter Druck. „Die Tabletten haben meinen Schock abgemildert und mir Ruhe gegeben, meine Trauer zu verarbeiten. Sie waren ein Auffangnetz für mich.“
Gemeinsam Abschied nehmen
„Wenn ich heute an meine Mama denke, kann ich lächeln“, sagt Sophie und rutscht auf ihrem Sessel zurecht. „Ich bin traurig. Aber ich bin auch froh, weil ich an den letzten Tagen bei ihr war. Sie hatte eine Fröhlichkeit, die sogar während ihrer Krankheit da war.“
Auch zu Mamas Begräbnis wird die Fröhlichkeit eingeladen. Vor der Beerdigung telefoniert Sophie die Gäste durch: „Bitte keine Rosen“, sagt sie. „Mama hat Rosen gehasst.“ Sie verzichtet auf den Pfarrer, weil Mama nicht gläubig war. Sie streicht klassische Musik und spielt stattdessen Die Fantastischen Vier. Sie verzichtet auf schwarze Kleidung und gleitet am Tag der Feier mit ihrem fliegenden, weißen Rock durch die Menge der Gäste.
Sophie freut sich über die vielen bekannten Gesichter – kaum eines davon im Anzug, kaum eines davon in Schwarz. Statt Rosen tragen sie Sonnenblumen in den Händen. Sie erzählen Geschichten über ihre Mutter, die Sophie noch nicht kannte. Aus Zeiten, bevor es Sophie überhaupt gab. Sophies Mama als Jugendliche, Sophies Mama als junge Alleinstehende, Jahre bevor Sophies Mama zur Mama wurde. „Das war schön“, sagt Sophie, schlürft einen Schluck und stellt die Kaffeetasse wieder vor sich ab. „Darüber sprechen tut gut.“