Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit assistiertem Suizid und Depressionen. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Ein langer Abschied: Helene

Helene ist eine vitale Frau und mehrfache Großmutter. Als sie unheilbar erkrankt, hinterfragt sie ihr Leben.
Text: Karina Grünauer
Foto: Helene privat
Datum: 23. November 2022
Helene mit ihrem Sohn Alexander (c) privat
Helene ist gestürzt. Sie liegt auf dem kalten Linoleum und kann ihre Beine nicht mehr bewegen. Ihr ist übel und noch immer dreht sich alles. So ging es ihr schon die letzten beiden Tage, aber da haben die Beine noch funktioniert. Als sie vor zwei Tagen in ihrer Gemeindebauwohnung die Rettung gerufen hat, meinten die Ärzt:innen im Krankenhaus, es liege am Blutdruck, und haben Helene wieder nach Hause geschickt. In ihrem Alter sei es nichts Ungewöhnliches, eine Bluthochdruckkrise zu haben, meinten sie. Aber an diesem Tag ist es anders. Diesmal stellen die Ärzt:innen im Krankenhaus einen Herzinfarkt fest. Weshalb sie jedoch gelähmt ist, versteht niemand.

Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD). Den Begriff kann Helene kaum aussprechen, dennoch bestimmt er von nun an ihr Leben. Vier Wochen lang lag sie im Krankenhaus, bis die Diagnose feststand. Ihr Sohn Alexander ist Arzt und hilft ihr dabei zu verstehen, was mit ihrem Körper los ist. NMOSD ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem körpereigene Zellen im zentralen Nervensystem angreift. Sie kann zu Lähmungserscheinungen und Sehstörungen bis hin zur Erblindung führen.

Helene wird im Krankenhaus aufgenommen und auf eine kardiologische Intensivstation gebracht. Es geht ihr zunehmend schlechter. Nach kurzer Zeit liegt sie sich wund, da sie sich nicht selbst bewegen kann. Über viele Monate bleibt Helene im Krankenhaus. Während dieser Zeit kommt es immer wieder zu Komplikationen: Helene braucht einen Stent, also eine künstliche Gefäßerweiterung, einen künstlichen Darmausgang, immer wieder hat sie kleinere Infarkte. Sie versucht mit Physiotherapie und anderen Rehabilitationsmaßnahmen wieder mobil zu werden, sodass sie sich mit einem Rollstuhl fortbewegen kann. Ihr Ziel ist es, wieder in ihr Zuhause, in ihre eigene Wohnung, in ihr altes Leben gehen zu können. Doch an den meisten Tagen geht es ihr nicht gut, sie ist müde und die Motivation fehlt.

Nichts ist mehr wie vorher

Eigentlich ist Helene eine dynamische, humorvolle Frau. Ihr Sohn Alexander, eines von vier Kindern, nennt sie eine echte Wienerin mit Schmäh und Biss. Alleine hat sie ihre Kinder im Wiener Gemeindebau großgezogen. Ihr dunkles, lockiges Haar ist mit den Jahren ergraut, ihrer Vitalität tat dies aber keinen Abbruch. Wenn Alexander seine Mutter im Krankenhaus besucht, sieht er eine andere. Eine gebrechliche, dünne Frau mit fahlem Teint, schütterem Haar und vor allem: eine stille Frau.

Als Helene nach mehreren Monaten aus dem Krankenhaus entlassen wird, kommt sie in ein Zuhause, das nicht mehr dasselbe ist. Helene kann nicht alleine aufstehen, sich nicht waschen, nicht alleine essen. Nach einem weiteren NMOSD-Schub ist sie auf einem Auge blind. Dreimal täglich kommt eine mobile Pflegekraft vorbei, um sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Trotzdem liegt sich Helene nach kurzer Zeit wieder wund und erkrankt an einer Sepsis. Helenes Wunde muss notoperiert werden.

„Die Ärzt:innen haben meiner Mutter zu einer speziellen Matratze geraten, damit das nicht passiert – sie hat sich aber vehement gewehrt. Als die Sepsis im Krankenhaus behandelt werden musste, meine Mutter vier Tage im Delirium war und wir nicht wussten, ob sie das übersteht, da haben wir uns gefragt: Hat sie das absichtlich gemacht?“, erinnert sich Alexander. Als es Helene wieder besser geht, spricht er sie darauf an, ob sie das Risiko einer potentiell lebensbedrohlichen Infektion bewusst auf sich genommen habe, ob sie denn nicht mehr leben wolle. Helene denkt lange darüber nach.

Eine ungewisse Zukunft

Die meiste Zeit liegt Helene alleine vor dem Fernseher. Täglich ruft sie ihre Tochter an. Helene fehlt es zunehmend an Lebensmut, sie kämpft mit Depressionen. Mit seinen Geschwistern bespricht Alexander immer wieder den gesundheitlichen Zustand der Mutter. Sie sind sich einig, dass sie ihr jede mögliche Wahl über ihr künftiges Leben frei zur Entscheidung überlassen wollen. Als Alexanders Sohn heuer zur Welt kommt, nimmt Helene das zum Anlass, mehr am Familienleben teilzuhaben. Sie wirkt vergnügter, freut sich über Besuche, Telefonate, gemeinsames Pizzaessen. Sie nimmt ihre Kontrolltermine im Krankenhaus wahr und versucht so das Beste aus der Situation machen.

Doch das hohe Energielevel kann Helene nicht lange aufrechthalten. Immer wieder fällt sie auf sich zurück, kann Gesprächen nicht lange folgen. Helene lebt jetzt mehr im Moment. Lange im Voraus planen, das schafft sie nicht mehr. Selbst der zweiwöchentliche Kontrolltermin im Krankenhaus rückt immer weiter aus dem Blickfeld. Was Helene immer noch kann, ist: liegen, fernsehen und telefonieren. Wenn sie diese Dinge einmal nicht mehr können sollte, beispielsweise wenn ein Infekt auch ihr zweites Auge erblinden lassen sollte, so sei das Leben für sie nicht mehr lebenswert genug. Für diesen Fall hat sie beschlossen, sich von ihrem Zuhause im Gemeindebau und ihrem Leben für immer zu verabschieden.

Mit 1. Januar 2022 ist in Österreich das Sterbeverfügungsgesetz in Kraft getreten, das den assistierten Suizid von schwer und unheilbar erkrankten Menschen unter strengen Bedingungen straffrei ermöglicht. Die Neuregelung ist umstritten. Wie viele Personen bisher davon Gebrauch gemacht haben, ist nicht bekannt.

Helene füttert ihren Enkel. Foto: privat

Wenn Helene mit ihrem Enkel zusammen ist, blüht sie kurz auf.

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