Der fremde Vater: Clara
Durch Zufall erfährt Clara, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist. Der Betrug belastet die Beziehungen in ihrer Familie.
Text: Laura Mann
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Stundenlang sitzt die 15-jährige Clara hinter einem Busch versteckt. Sie beobachtet heimlich den Eingang eines Wohnhauses. Bewohner:innen kehren von der Arbeit heim, erledigen Einkäufe oder gehen mit dem Hund Gassi. Das Mädchen fragt sich, ob einer der ein- oder heraustretenden Männer ihr Vater ist. Sie weiß nicht, wie er aussieht, schwankt zwischen der Hoffnung, ihn sofort zu erkennen und der Angst, ihr könnte nicht gefallen, wer er ist.
Seine Adresse ausfindig zu machen, hat sie einige Mühe gekostet. Ein wenig erstaunt es sie selbst, dass sie jetzt hier sitzt, nach einer umständlichen Busfahrt, am Stadtrand von Wien. Clara kann sich weder dazu durchringen, das Haus zu betreten, noch jemanden anzusprechen. Nach einigen Stunden bricht sie ihr Vorhaben ab und fährt heim. Verwirrt, aufgewühlt und irgendwie, als wäre sie in einem falschen Film.
Ein unerklärliches Gefühl
Heute, 40 Jahre nach diesem Erlebnis, ist Clara erwachsen und im Gesundheitsbereich tätig. Sie hat viele Jahre Psychotherapie hinter sich und blickt mit dem Gefühl, ihre Kindheit gut aufgearbeitet zu haben, distanziert auf ihre Familiengeschichte zurück. Im Gespräch mit ZIMT erinnert sich die Wienerin heute daran zurück, was es für sie bedeutet hat, mit einem Geheimnis über ihre Herkunft aufzuwachsen – mit der Täuschung darüber, wer ihr biologischer Vater ist.
Schon früh spürt das Mädchen, dass irgendetwas nicht stimmt. Der Stiefvater, den sie für ihren leiblichen Vater hält, hat nur wenig Interesse an ihr. Claras Bemühen um seine Zuwendung läuft meistens ins Leere. Die Irritationen, die sie erlebt, die Enttäuschung, das wiederkehrende Gefühl von Fremdheit und das fehlende Gefühl von Verbundenheit tun weh. In ihr wächst ein diffuses Empfinden, dass das ihre Schuld und mit ihr etwas grundlegend falsch sei. Das Gefühl rückt dann aber auch wieder in den Hintergrund.
Clara erinnert sich an im Gespräch verstummende Erwachsene, wenn sie den Raum betritt oder für sie damals unverständliche Bemerkungen und bedeutungsvolle Blicke. Als Kind hat sie keine Erklärungen für das, was sie erlebt, ihre verwirrenden Gefühle, ihre Unsicherheit oder für das unterschwellige Gefühl von Anspannung in ihr, insbesondere im Familienkreis.
Clara traut sich weder Bewohner:innen des Hauses anzusprechen noch zu klingeln.
Mit 15 Jahren sucht Clara nach einem Meldezettel, um sich in der städtischen Bibliothek eine Benutzerkarte zu lösen. Da fällt ihr durch Zufall ihre Geburtsurkunde in die Hände. Dort liest sie, dass ein ihr fremder Mann als Vater eingetragen ist. Clara fällt in einen schockartigen Zustand. Immer wieder liest sie diese eine Zeile. Sie fühlt sich wie betäubt, erstarrt, ist schwindelig und spürt ihr Herz rasen. Wie in Wellen überfluten sie unterschiedliche Gefühle und Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Ihre bisherige Welt scheint aus den Fugen geraten, gleichzeitig ist da aber auch das tiefe Gefühl, dass nun endlich etwas richtig ist.
Clara behält ihre Entdeckung für sich. Sie kann oder möchte nicht in Worte fassen, wie sie sich fühlt und braucht Zeit, um sich zu sortieren. Die Enttäuschung, so viele Jahre belogen worden zu sein, sitzt tief, der erlebte Vertrauensbruch ist zu groß. Sie beginnt ihr bisheriges Leben und auch die Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern zu hinterfragen, anzuzweifeln und in einem anderen Licht zu sehen. Vor allem aber weiß Clara nicht mehr, wer sie selbst nun eigentlich ist.
Der Ausbruch aus der Angepasstheit
Der entstandene Riss führt dazu, dass Clara aus ihrem bisher sehr angepassten Verhalten ausbricht. Bisher war sie eine gute Schülerin, nun beginnt sie die Schule zu schwänzen, schneidet ihr langes Haar ganz kurz und befreundet sich mit Punks, die ein Haus besetzen. Unter ihnen fühlt sie sich irgendwie „normal”. Der Ausbruch aus ihrem vertrauten Umfeld ist ein Protest, ein Ausdruck ihrer verdeckten Wut und die Weigerung, zu funktionieren. Nicht mehr in einer Lüge zu leben, hat einerseits etwas Befreiendes für sie. Andererseits ist diese Phase aber auch von einer destruktiven Note begleitet. Immer wieder bringt sie sich auch in Gefahr, indem sie sich zur falschen Zeit, am falschen Ort oder mit falschen Personen aufhält. Rückblickend hätte sie sich gewünscht, dass jemand die Verzweiflung hinter ihrem Verhalten gesehen und ihr geholfen hätte, den Scherbenhaufen in ihrem Inneren aufzuräumen.
Aus Loyalität ihrer Familie gegenüber und aus einer diffusen Angst ausgestoßen zu werden, spricht Clara lange Zeit nicht von ihrem biologischen Vater und hält die Fassade der braven Tochter der Familie gegenüber weitgehend aufrecht. Erst als sie älter wird, sucht die junge Frau das Gespräch mit ihrer Mutter, stößt jedoch auf wenig Verständnis und Resonanz.
Als Clara volljährig ist, erhält sie die Telefonnummer ihres Vaters.
Von ihrer Therapeutin lernt Clara einige Jahre später, dass Familiengeheimnisse häufig im Zusammenhang mit Traumata, Scham und Schuld stehen. Dinge geheim zu halten kann ein Versuch sein, sich vor der Konfrontation mit schmerzlichen Gefühlen zu schützen. So war es wohl auch im Fall von Claras Mutter. Ihre eigene nicht aufgearbeitete Geschichte versucht sie vermutlich damit zu bewältigen, eine möglichst heile Familienwelt zu erschaffen, in der ungeordnete Familienverhältnisse, wie etwa der fehlende Vater, ein Schandfleck wären.
Die fehlende Verbundenheit
Erst als Clara volljährig wird, überreicht ihre Mutter ihr die Telefonnummer des Vaters. Das erste Treffen findet zu dritt in einem Lokal statt. Heute erinnert sich die Wienerin nicht mehr an die ersten Worte, doch die Begegnung verläuft anders, als sie es sich damals ausgemalt hat. Die ersehnte innige Umarmung oder der erhoffte liebevolle Blick – all das blieb aus. Es herrscht ein eher sachlicher Ton, alte Unstimmigkeiten und Verletzungen zwischen den Eltern sind spürbar und dominieren das Gespräch. Vor Clara sitzt ein fremder Mann. Auch mit ihm fühlt sie sich nicht, wie immer ersehnt, verbunden.
Auch bei späteren Treffen fällt es Vater und Tochter schwer, emotionale Verbundenheit aufzubauen. Eine klassische Vater-Tochter-Beziehung fühlt sich nicht stimmig an, da Clara bereits erwachsen ist. Die Wienerin erlebt die Begegnungen als angestrengt, hölzern und mit Verlegenheit behaftet. Die beiden geben sich Mühe, doch sie sind weder vertraut genug für Freundschaft, noch distanziert genug, um bedeutungslose Fremde zu sein. Die verlorene Zeit ist nicht mehr nachzuholen.
Clara fühlt sich um die Chance eines gewachsenen, natürlichen Kontakts zu ihrem Vater und auch zu seiner ganzen Familie betrogen. Die jahrelange Geheimhaltung hinterlässt nachhaltige Spuren in Claras Verhältnis zu ihrer Mutter und der gesamten Familie. Doch je älter Clara wird, desto mehr gelingt es ihr, Schritt für Schritt Frieden mit ihrer Kindheit zu schließen. Heute überwiegt längst die Freude über das Gute, das in ihrem Leben inzwischen entstehen konnte, trotz oder vielleicht sogar wegen der schwierigen Erfahrungen und Umstände in jungen Jahren.