Im Schatten der Kindheit
Kinder psychisch erkrankter Eltern sind ihrer Familie oft besonders loyal. Dabei ist es gerade der Abstand zum Elternhaus, der ihnen hilft, ein gesundes Leben zu führen.
Text: Jana Reininger
Illustrationen: Jana Reininger
Zwischen Reisfeldern und Palmen, zwischen endlos wirkenden Sandstränden und alten Tempeln steht Selma*. Die Reise nach Bali war lange geplant, der Rucksack sorgfältig gepackt, die Vorfreude auf die verdiente Auszeit groß. Das Handy beiseite legen, braun werden, Bücher lesen, auf Scootern neue Abenteuer erleben. Das war die Erwartung. Die Realität sieht anders aus. Zwischen Reisfeldern und Palmen, zwischen Sandstränden und Tempeln läutet Selmas Handy pausenlos. Am anderen Ende der Leitung spricht Selmas Mutter schnell, ihre Stimme höher als sonst. Sie bricht angefangene Sätze aufgeregt ab, um hektisch die nächsten anzureihen. Selmas Herz rast. Sie kennt das schon: Mama ist wieder manisch. Das Handy läutet abermals. “Wir müssen sie irgendwie ins Krankenhaus bekommen”, sagt die Tante. Selma nickt: “Ich komme mit dem nächsten Flugzeug nach Hause.”
Selma ist 26 Jahre alt. Sie lebt in einer Mietwohnung in Wien und studiert Psychologie. Neben dem Studium arbeitet sie in einer Beratungsstelle für Menschen, die wie sie psychisch erkrankte Elternteile haben. Das sind nicht wenige. Etwa jedes sechste Kind in Österreich, so besagen es Studien, hat zumindest ein psychisch erkranktes Elternteil. Seit der Pandemie verstärken sich psychische Belastungen noch zusätzlich, wie beispielsweise die Donau-Uni Krems berichtet.
Weil psychische Erkrankungen immer noch weitgehend ein Tabu sind, sind Kinder psychisch erkrankter Eltern oft mit ihren Problemen allein. Sie übernehmen Aufgaben, die eigentlich Erwachsene erledigen sollten, sorgen sich um Mama oder Papa und vernachlässigen somit eigene Bedürfnisse und wichtige Entwicklungsschritte, so Kathrin Schopf, die an der Ruhr-Universität Bochum psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen beforscht.
In einigen Fällen können erkrankte Eltern weniger sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren, in anderen Fällen funktioniere die Bindungsfähigkeit zwischen Eltern und Kindern schlechter. In wieder anderen Fällen reagieren Eltern sehr unvorhersehbar auf ihre Kinder, in manchen Fällen sogar feindselig, so die Psychologin. So facettenreich wie psychische Erkrankungen ausfallen, fallen auch die Beziehungen der erkrankten Menschen und ihrer Kinder aus.
Damit sind zahlreiche Faktoren gegeben, die gemeinsam mit der Genetik, die Kinder psychisch erkrankter Eltern in sich tragen, dazu führen, dass sie selbst zur Risikogruppe für psychische Erkrankungen werden, wie Kathrin Schopf erzählt. Was dabei helfen kann, der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung entgegenzusteuern? Abgrenzung von dem Elternhaus. Aber gerade die fällt Kindern, die ihr Leben lang gelernt haben, sich um ihre Angehörigen zu kümmern, oft besonders schwer.
Selmas Mutter ist aus Wien, ihr Vater aus Tirol. Man schreibt das Jahrzehnt vor dem Millennium und das junge Paar erwartet ein Kind. Ein Monat bevor Selma zur Welt kommt, verstirbt ihr Vater unerwartet. Die Mutter beschließt, Wien hinter sich zu lassen und in den Herkunftsort ihres verstorbenen Partners zu ziehen. Hier hat dieser ein Haus hinterlassen. Als Alleinerziehende würde das Geld knapper und das leerstehende Haus monatliche Mietzahlungen ersparen. Die Schwangere richtet sich in Tirol ein und schon bald kommt Selma zur Welt.
Das Leben mit Kind ist schön. Aber es ist auch hart. Die nächsten Verwandten der Mutter leben sechs Stunden entfernt, Unterstützung gibt es wenig. Selmas Mama schaukelt alles allein. Die ersten Jahre vergehen. Mit sechs Jahren kommt Selma zur Schule. In diesem Jahr zeigt sich Mamas Erkrankung zum ersten Mal.
Ein Gefühl, für das die Worte fehlen
Wenn Selmas Mama manisch wird, verändert sich zuerst einmal ihr Blick. Dann die Dinge, über die sie spricht. Manchmal hört sie mitten in einem angefangenen Satz auf zu sprechen und sagt dann etwas ganz anderes. Mit Mama Konversationen zu führen wird schwieriger. Die Stimme der erwachsenen Frau wird höher, fast kindlich. Sie stellt im Wohnzimmer die Tische um, erklärt den Raum zu ihrem Büro. Sie zündet zehn Räucherstäbchen und zwölf Kerzen auf einmal an und tanzt allein durch das Haus. “Ich konnte das damals überhaupt nicht benennen”, erinnert sich Selma heute. “Aber ich wusste: Irgendwas ist komisch.”
Jedes Mal ist es Selma, die die Veränderungen ihrer Mutter als Erste bemerkt, die die Notbremse zieht und Hilfe ruft.
“Heute musst du nicht zur Schule gehen”, sagt Mama zu Selma, die die Schule gerade erst begonnen hat. Selma versteht nicht warum, aber sie bleibt drei Tage lang zuhause. Dann steht Oma vor der Tür. Sie nimmt Selma zu sich und Mama kommt in die Psychiatrie.
Sechs Wochen lang ist Mama weg. Weil für Kinder die Minuten langsamer vergehen, kommt Selma die Zeit noch viel länger vor. Als Mama zurückkommt, zieht auch Selma wieder nach Hause. Mama schluckt jetzt jeden Tag Medikamente, ihre Stimme ist wieder tiefer geworden, ihr Blick wieder direkt, ihre Sätze wieder vollständig. Zu Hause kehrt Ruhe ein. Oma, ihre Tante und Selma sind sich sicher: Mamas Episode sei einmalig gewesen. Nun sei sie wieder gesund.
Die Episoden kommen wieder
Als Selma zwölf Jahre alt ist, erlebt ihre Mutter eine weitere Episode. Ihr Blick wird anders, ihre Stimme höher, ihre Worte schneller. Diesmal hört sie sogar Stimmen, die gar nicht da sind.
Sie schüttelt energisch den Kopf, wenn Oma sie auf ihre Episode anspricht und sagt scharf “Nein!”, wenn ihre Schwester sie bittet, in die Psychiatrie zu gehen. Über mehrere Wochen wird ihr Gesundheitszustand schlechter. Wieder schiebt sie Möbel herum und zündet viel zu viele Räucherstäbchen an. Sie will nachts nicht schlafen gehen und lehnt jeden Hinweis auf ihre Krankheit ab. Selma und ihre Familie rufen die Polizei und Mama kommt wieder in die Psychiatrie. Die Polizei bringt sie dorthin, damit sie sich nicht gedankenverloren selbst verletzt.
Während Mama in der Psychiatrie ist, kommt Selma wieder zu Oma. Als Mama nach einigen Wochen wieder nach Hause kommt, ist sie wieder ruhig. Doch die Manien und Psychosen wiederholen sich. Manchmal bringt die Polizei sie in die Psychiatrie und manchmal lässt sie sie zuhause, weil Mama nicht krank genug wirkt. Für Selma ist das schlimm, weil sie dann selbst auf Mama aufpassen muss. Wenn die Episoden verschwinden, kehrt jedes Mal wieder Ruhe ein. Manchmal wird es umso ruhiger, weil Mama zwischen den manischen Episoden Depressionen hat. Dann schläft die erwachsene Frau viel und ist traurig und Selma schleicht auf Zehenspitzen durch die Wohnung, bis die Depressionen wieder vergehen.
Mal bleibt die Stille für zwei Jahre, manchmal nur für sechs Monate. Jedes Mal ist es Selma, die die Veränderungen ihrer Mutter als Erste bemerkt, die die Notbremse zieht und Hilfe ruft. Selma trägt die Verantwortung.
“Ich hatte keine schlechte Jugend”, sagt Selma heute. “Ich hatte einen extrem engen und stabilen Freundeskreis, war immer gut in der Schule und die Situation zuhause war irgendwie normal.” Trotzdem ist sie auch belastend. Selma sagt Programm mit Freund:innen ab, um nach Hause zu fahren, wenn Mama am Telefon komisch klingt. Sie ruft gegen den Willen ihrer Mutter die Polizei an, wenn Mama manisch wird und von selbst nicht in die Psychiatrie gehen will. Sie überlegt, ob sie sich wirklich ihren Traum erfüllen kann: in die sechs Stunden entfernte Hauptstadt zu ziehen, um zu studieren. Mama sagt, sie soll es tun.
Kinder übernehmen zu viel Verantwortung
„Wenn ich mit jemandem lebe, die:der psychisch erkrankt ist und sich selbst nicht gut wahrnimmt, nehme ich mich als Kind oft auch nicht gut wahr”, erklärt Vera Baubin, die im Verein Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE) täglich Kinder psychisch erkrankter Eltern berät. “Das heißt: Ich, als heranwachsendes Kind, spüre meine Bedürfnisse nicht und spüre dadurch auch nicht gut, was ich brauche und was mich gesund hält.” Das betreffe Themen wie Empathie und Versorgung, Schutz, körperliche und emotionale Gesundheit gleichermaßen.
Je jünger Kinder sind, desto loyaler verhalten sie sich ihren Eltern gegenüber, weil sie Zuwendung und Aufmerksamkeit von ihnen brauchen, erklärt Kathrin Schopf. “Die Kinder verhalten sich im Normalfall angepasst daran, was die Eltern gerne möchten, weil sie dann belohnt werden.” Während manche Eltern es schön finden, besonders sorgsame Kinder zu haben, brauchen andere möglicherweise mehr Ruhe und wünschen sich, möglichst wenig belastet zu werden, sagt die Psychologin. “Dann kann es sein, dass Kinder sich mehr zurückziehen oder viele Aufgaben übernehmen, die eigentlich gar nicht für Kinder geeignet sind.” Auch wenn Eltern diese Wünsche nicht explizit an ihren Nachwuchs herantragen, nehmen die feinen Antennen der Kinder schnell wahr, wenn Mama, wie bei Selma, gerade in die nächste Depression schlittert und Ruhe gefragt ist. Oder wenn Papa in seiner Manie zu viel Geld ausgibt und jemand das Haushaltskonto einfrieren muss. Manche Kinder kochen Essen oder waschen Wäsche. Sie kümmern sich um die kleineren Geschwister und passen auf Mama oder Papa auf. Dabei versäumen sie eigene Freizeitaktivitäten. Dabei ist es für Kinder und Jugendliche wichtig, Möglichkeiten zu haben, in die eigene Welt einzutauchen.
Selma kritzelt einen Wochenplan, auf dem für jeden Tag Speisen stehen, die Mama ohne viel Aufwand essen könnte.
“In der Pubertät ist sehr wichtig, eine eigene Identität zu entwickeln, sich selbst im Freundeskreis zu finden, zu gucken: Wer bin ich? Was macht mich aus? Was bin ich für eine Persönlichkeit? Welche Dinge kann ich gut? Was finden andere an mir gut?”, erklärt die Psychologin. Nur so könne ein stimmiges Selbstbild entwickelt werden, das gesunde Gefühle und Verhaltensweisen erlaube. Finden Kinder keine Zeit für ihren Freundeskreis, so finden sie auch keinen Raum für Themen, die im Elternhaus keinen Platz haben. Nicht umsonst sind Gleichaltrige für Jugendliche derart wichtige Bezugspersonen. Selma hat Glück, trotz der Schwierigkeiten zuhause einen engen Freundeskreis zu haben. “Hätte ich dieses Umfeld nicht gehabt oder vielleicht noch andere Probleme, wie Mobbing in der Schule oder so, Gott weiß, was passiert wäre”, sagt sie.
Schwerer Auszug
Selma ist 19 Jahre alt. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz, Mama am Lenker, der Kofferraum gefüllt mit Kisten und Säcken, mit all dem Hab und Gut, das Selma mit nach Wien nimmt. Die Fenster hat Selma hinuntergefahren, ihre Haare wirbeln durch den Wind. Aus dem Radio tönt Musik, Mama lacht, die Stimmung ist gut. Ein paar Monate zuvor hat Selma die Aufnahmeprüfung für das Psychologie-Studium bestanden und begonnen, nach Wohnungen in der Hauptstadt zu suchen. Heute bezieht Selma gemeinsam mit ihrer engsten Freundin ihre Studentinnen-Wohngemeinschaft. Mama hilft dabei.
Auch damit hat Selma Glück. Viele Kinder psychisch erkrankter Eltern erleben weniger Unterstützung im Auszug, erzählt Vera Baubin. Die gegenwärtige Teuerung und steigende Mietkosten erschweren die Leistbarkeit eines Auszugs zusätzlich – gerade für Kinder aus Familien, in denen psychische Erkrankungen verbreitet sind. Denn dort sind auch Erwerbsunfähigkeit und somit geringere Einkommen verbreitet, wie beispielsweise eine Studie der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin oder die österreichische Arbeiterkammer aufzeigt.
Die ersten Monate in Wien sind aufregend. Selma freut sich, wenn sie durch das alte Universitätsgebäude läuft, von dem sie so lange geträumt hat. Die erste Wohnung ist zu einem Zuhause geworden und Selma hat Zeit für sich. Wenn Mama anruft, erzählt sie ihr ein wenig über ihr neues Leben in Wien. Wenn sie auflegt, liest sie Texte für die nächste Präsentation oder beschreibt Karteikarten für die nächste Prüfung. Das Leben ist gut.
Sorgenvolle Rückkehr
Eines Tages ruft Mama an, ihre Stimme ist tief. Sie spricht langsam, klingt müde und traurig. Selma fährt zum Bahnhof, kauft ein Ticket und setzt sich in den nächsten Zug nach Tirol. Zuhause angekommen, schreibt sie Tagespläne für ihre Mutter, gefüllt mit Aktivitäten, die ihr Freude machen und sie aus der Depression holen könnten. Sie kritzelt einen Wochenplan, auf dem für jeden Tag Speisen stehen, die Mama ohne viel Aufwand essen könnte. Mama ist ruhig und schwer, hat keinen Antrieb all die Dinge zu tun, die ihre Tochter für sie überlegt. Selma sieht sich mit ihren Grenzen konfrontiert. Mehr kann sie für ihre Mutter nicht tun. Sie fährt nach einigen Tagen zurück nach Wien. Im Zug macht sie sich Sorgen um Mama: Sie könne in der nächsten manischen Phase gedankenverloren Unfälle bauen, bei plötzlichen Ideen einfach abhauen und verschwinden. Oder sich einfach von Gott und der Welt nicht verstanden fühlen. Denn Selma ist der eine Mensch, der Mama einfach immer versteht. “Wien Hauptbahnhof”, steht auf dem blauen Schild zwischen den Gleisen, über die der Zug in die Stadt einfährt und Selma quält ein schlechtes Gewissen.
Den Eindruck, sie seien die einzigen, die sinnvoll helfen können, haben viele Kinder psychisch erkrankter Eltern, sagt Vera Baubin. Dieser Allmachtsgedanke gehe einerseits mit einem Gefühl der Kontrolle einher, gleichzeitig löse er auch Schuldgefühle aus, so die Pädagogin. Doch gerade der Eindruck, die Erkrankung und deren Symptomatik beeinflussen zu können, trügt. Das fällt in vielen Fällen dann auf, wenn ein Kind erkrankter Eltern den Versuch startet, sich von zuhause loszulösen. “Ich rate immer dazu, zu beobachten, was sich eigentlich durch die Abwesenheit eines Kindes verändert”, erzählt Baubin. “Meistens ist die Erkenntnis: das Ausmaß der Erkrankung ist unabhängig von der Anwesenheit und den Handlungen der Kinder“. Durch diese Erkenntnis wird das Schuldgefühl gedrosselt – und eine Loslösung gelingt eher. Das erfährt auch Selma.
Einige Monate später ist Selma auf Bali, wo ihr Handy pausenlos klingelt. Zwischen Reisfeldern und Palmen, zwischen endlos wirkenden Sandstränden und alten Tempeln bucht Selma ein Ticket zurück nach Österreich. Eine Woche früher als geplant packt sie ihren Rucksack, um Mama ein weiteres Mal in die Psychiatrie zu bekommen.
Selma kommt in Tirol an. Mama bewegt sich wie ein Kind. Sie tanzt und spricht halbe Sätze. Lehnt jeden Vorschlag nach Hilfe ab und geht nachts nicht ins Bett. Selma ruft die Polizei, doch die sieht die Notwendigkeit nicht, Mama in die Psychiatrie zu bringen. Die Eigengefährdung sei noch nicht groß genug, so sei nun einmal das Gesetz. Mama hört weiterhin nicht auf ihre Tochter und Selma beschließt, nach Wien zu fahren. Als Selma im Zug sitzt, ist sie enttäuscht. “Ich bin vom anderen Ende der Welt hergeflogen und passiert ist trotzdem nichts.”
Für Selma ist das ein Wendepunkt, an dem sie eines realisiert: Was sie für ihre Mama tut, können auch andere machen.
Distanz bewahren
Selma geht zu Selbsthilfegruppen. Sie spricht viel mit anderen Kindern psychisch erkrankter Eltern. Viele erleben ähnliches wie sie. Das zu hören, hilft Selma. Sie lernt, dass es nicht ihre Aufgabe ist, für Mama da zu sein, wenn sie es selbst nicht kann. Sie realisiert, dass es ihr selbst nicht gut geht, wenn sie sich selbst zurücknimmt. Sie merkt, dass sie ihre Helferrolle nicht mehr erfüllen möchte und dass es Zeit wird, sich ihre eigenen Wünsche zu erfüllen, ihr eigenes Leben zu führen.
„Es kann im Leben Phasen geben, in denen die Themen von damals wieder eine Rolle spielen“, sagt die Psychologin Kathrin Schopf. “Wenn man sich als Erwachsene:r mit bestimmten Themen aus der Kindheit beschäftigt, braucht es vielleicht ein bisschen mehr Arbeit. Aber grundsätzlich kann man Entwicklungsschritte nachholen.” Man kann Bücher lesen oder im Internet recherchieren, Gespräche mit Freund:innen führen und die Probleme selbst in Angriff nehmen. “Aber Hilfe von Therapeut:innen ist vielleicht ein bisschen effizienter”, sagt Schopf und auch Selma entscheidet sich für eine Psychotherapie. Dort arbeitet sie an ihrer Selbstfürsorge.
Sie lernt auf ihre Bedürfnisse zu achten, Grenzen zu wahren und Kontrolle abzugeben. “Aber die Kontrolle ist ein zweischneidiges Brett”, sagt Selma. Sie hat früh gelernt, verantwortungsbewusst und organisiert durchs Leben zu sein, das hat auch gute Seiten: Für die Schwierigkeiten, die das Leben bringt, gerüstet zu sein, von unerwarteten Krisen nicht so sehr gebeutelt werden, unabhängig erwachsen zu werden. “Und die Leute sagen oft, dass ich sehr empathisch bin.” Dennoch ist es wichtig, das Problem, das so viele Kinder betrifft, nicht zu romantisieren. “In meiner Kindheit wurde eine Grenze verschoben in dem, was man als Kind tragen sollte und was nicht”, sagt Selma mit fester Stimme. “Es ist nicht die Verantwortung eines Kindes, diese Grenzen aufzuzeigen, diese Grenzen überhaupt zu erkennen. Das ist die Verantwortung von Erwachsenen.”
Als Mama einige Monate später wieder manisch ist und viel zu viel Geld für unnötige Dinge ausgibt, als sie wieder nicht einsehen möchte, dass sie Hilfe braucht, zieht Selma einen Schlussstrich. Sie konfrontiert ihre Mutter: “Du kannst gerne so weitermachen”, sagt sie. “Aber ich weiß nicht, ob ich dann noch Kontakt mit dir haben kann. Ich halte das nicht aus.” Das sitzt. Mama geht in die Psychiatrie und Selma merkt, dass sie für sich selbst einstehen kann.
Heute ist es sechs Jahre her, dass Selma zum ersten Mal eine Selbsthilfegruppe besucht hat – der Wendepunkt ihrer Geschichte. “Zwischen fünf, sechs Menschen zu sitzen und zu sprechen, war so bestärkend und unterstützend. Ich bin mit meiner Geschichte immer recht offen umgegangen, aber ich hatte bis dahin trotzdem immer das Gefühl, ich bin die Einzige”, sagt Selma heute. “Auch wenn man weiß, dass es eigentlich nicht so sein kann. Aber es hat sich wirklich so angefühlt. Weil niemand außerhalb der Selbsthilfegruppen darüber gesprochen hat.”
*Name von der Redaktion geändert
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit dem Projekt #visible – Kinder psychisch erkrankter Eltern sichtbar machen. Du vermutest oder weißt, dass deine Mama oder dein Papa psychische Probleme hat? Bei #visible kannst du dich online beraten lassen.