Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit den Themen Fehlgeburt, Tod und Depressionen. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Wenn Kinder zu den Sternen fliegen

Tod und Trauer gehören zum Leben dazu und dennoch sind sie aus unserer Öffentlichkeit nahezu verschwunden. Was bedeutet das für Eltern, die ihr Kind verlieren?

Text: Karina Grünauer
Illustrationen: Karina Grünauer und Jana Reininger

Datum: 13. November 2022
Illustration Babyzimmer (c) Karina Grünauer

Christina sitzt mit ihrem Mann und ihrer 1,5-jährigen Tochter zu Hause, sie spielen auf dem Sofa und warten, dass es losgeht. Es ist kalt draußen, die Frau mit den roten Haaren ist in eine Decke eingewickelt und trinkt Tee, um sich aufzuwärmen. Den Tee hat ihre Hebamme ihr empfohlen. Christina wartet bereits seit zwei Wochen auf diesen Moment, an dem die Wehen einsetzen und sie ihr Kind zur Welt bringen wird. Es soll eine kleine Geburt werden. Ihr Baby ist nur einen Zentimeter groß, sein Herz hat vor zwei Wochen aufgehört zu schlagen.

Es ist Christinas sechstes Kind, das sie zu den Sternen ziehen lassen muss, das sich nicht über das kritische erste Trimester hinaus entwickelt hat. Als Abort oder Fehlgeburt wird ein solch früher Abbruch der Schwangerschaft bezeichnet. Viele Frauen bemerken den Abbruch der Schwangerschaft in diesem Stadium kaum – die Periode setzt vielleicht etwas verzögert ein.

Fast jede Frau, die einen Kinderwunsch hat, hatte auch schon eine Fehlgeburt

Eine offizielle Statistik zur Fehlgeburtenrate fehlt, zum Teil auch deshalb, da viele Schwangerschaften zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt wurden. Natascha Trzepizur hat im Zuge ihrer Arbeit als Schwangerschaftsbegleiterin und Mentaltrainerin schon mit vielen Ärzt:innen gesprochen und sagt: „Es ist sehr unterschiedlich, was man da an Zahlen bekommt. Es schwankt zwischen jeder Dritten und manche Ärzte, mit denen ich persönlich gesprochen habe, gehen sogar davon aus, dass fast jede Frau, die einen Kinderwunsch hat, einmal eine Fehlgeburt hatte.“

Auch Christina weiß, dass Fehlgeburten passieren, gerade im ersten Trimester. Deshalb sagen viele Frauen ihrem Umfeld während dieser Zeit noch gar nicht, dass sie ein Kind erwarten. Doch Christina dachte gar nicht daran, dass ihre erste Schwangerschaft so früh enden würde. „Ich glaube, wir haben uns damals gedacht: Wenn wir es schon schwerer haben, schwanger zu werden, dann wird das doch passen und halten. Wir haben es einfach nicht in Betracht gezogen, dass uns das jetzt passieren kann“, erinnert sie sich.

Illustration Babytraum (c) Jana Reininger

Schwangerschaften sind im ersten Trimester äußerst fragil, Fehlgeburten häufig.
Illustration: Jana Reininger

Der Abschied ist ein zentrales Element im Trauerprozess

Christina hat noch am Abend Krämpfe, zuerst schwache und dann immer stärkere Wehen. Sie ruft ihre Hebamme an. Nach wenigen Presswehen kommt das Baby zur Welt. Es ist winzig klein, noch umhüllt von der schützenden Fruchtblase. Die Hebamme holt es behutsam heraus und legt es in eine Schatulle, damit sich die Familie von ihm verabschieden kann.

Die Zeit des Abschiednehmens ist gerade für Eltern von Sternenkindern, also von jenen Kindern, die bereits vor der Geburtsreife versterben, oftmals zu kurz, beschreibt Martina Schneider. Sie ist klinische Psychologin, auf Trauma- und Trauerbegleitung spezialisiert und begleitet viele Familien in ihrem Trauerprozess. Gerade dann, wenn das Baby in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft verstirbt, sei eine emotionale Verarbeitung kaum bis gar nicht möglich. Martina Schneider kennt auch Berichte von Frauen, die der Frühabgang unvorbereitet trifft, beispielsweise beim Toilettengang. „Das ist sehr schwierig für die betroffenen Frauen, weil der Abschied im Trauerprozess sehr wichtig ist. Wenn man vorbereitet ist und weiß, was passieren kann, dann kann man zum Beispiel ein Gefäß zur Toilette mitnehmen, den Fötus auffangen und dann entscheiden, wie man sich von ihm verabschieden möchte.“

Aber auch bei einem geplanten Abbruch der Schwangerschaft im Spital, wie beispielsweise einer Kürettage, also einer Ausschabung der Gebärmutter, sei manchmal nicht ausreichend Zeit für eine psychische Vorbereitung und anschließende Verabschiedung vorhanden. Hier wäre es wünschenswert, den Frauen mehr Zeit und Raum zu gewähren, um eine bewusste Entscheidung für den Vorgang selbst sowie für die nachfolgende Verabschiedung treffen zu können. Gerade deshalb sei eine behutsame und einfühlsame Aufklärung über den weiteren Prozess, nachdem das Baby im Bauch verstorben ist, wichtig und notwendig. Nur dann könnten die Frauen auch den für sie richtigen Weg herausfinden. Die Begleitung durch eine:n Psycholog:in könne dabei unterstützen, sagt Schneider.

Sowohl Martina Schneider (li.) als auch Natascha Trzepizur (re.) begleiten Frauen beim Kinderwunsch und während der Schwangerschaft, selbst wenn diese ein jähes Ende hat.
Fotos: Gabriele Swatosch- Momentegrafie

Christina ist bei ihrem siebten Kind vorbereitet, früher war sie das nicht. Die ersten vier Schwangerschaften, bei neun Versuchen per künstlicher Befruchtung, scheiterten ebenfalls in einem frühen Stadium. Allein den Weg zum positiven Schwangerschaftstest bezeichnet Christina als steinig und einsam. Sie habe sich damals schon gewünscht, vorurteilsfrei mit jemandem sprechen zu können, professionelle Hilfe zu erhalten und in einem geschützten Rahmen ihre Trauer besser verarbeiten zu können.

Trauer: Angst vor heftigen emotionalen Reaktionen?

Kerstin Lammer, Leiterin des Instituts für interdisziplinäre Theologie und Beratungsforschung der Evangelischen Hochschule Freiburg bezeichnet Trauer als „normale Reaktion auf einen bedeutenden Verlust“ sowie als „normaler, gesunder und psychohygienisch notwendiger Prozess der Verarbeitung von einschneidenden Verlusten und Veränderungen“. Doch wie mehrere Personen im Zuge der Recherche berichteten, lasse die gesellschaftliche Akzeptanz der Trauer nach einer gewissen Zeit nach. Dass Trauer als negatives Gefühl wahrgenommen wird, liege vor allem daran, dass sowohl den Betroffenen als auch dem jeweiligen Gegenüber die Traurigkeit und der Kontrollverlust unangenehm seien. Viele fühlen sich schnell mit der emotionalen Reaktion überfordert. Martina Schneider kennt heftige emotionale Reaktionen von Betroffenen aus ihrer Praxis: „Manchmal wird man von den eigenen Gefühlen überflutet und fühlt sich ihnen ausgeliefert. Das macht natürlich Angst und es entsteht ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit. Beispielsweise kann es passieren, dass Betroffene im Kontakt mit anderen Menschen weinen müssen, obwohl sie ihre Gefühle in der jeweiligen Situation – zum Beispiel in der Arbeit – nicht zeigen möchten.“

Natascha Trzepizur erklärt, was für viele Menschen Realität ist: „Wir lernen schon als Kind, für die Gesellschaft unangenehme, ‚negative‘ Gefühle zu verstecken. Gute Kinder sind Kinder, die fröhlich und heiter sind. Gefühle wie Wut, Angst oder Trauer wollen viele Eltern schnell wegmachen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie diese Gefühle selbst schwer bis gar nicht aushalten können. Auch ihnen wurde schließlich nicht gezeigt, wie ein gesunder Umgang mit solchen Emotionen aussehen kann. So lernt man schon früh: Mit diesen Gefühlen bin ich eine Belastung für all die anderen und ich will mich niemandem zumuten.“ Entsprechend lerne man so aber auch, dass man diese Gefühle bei anderen nicht aushalten müsse. Einerseits kapseln sich trauernde Menschen deshalb häufig selbst ab und wollen ihre Gefühle nicht zeigen, um keine Belastung zu sein. Auf der anderen Seite könne aber auch die Gesellschaft mit Themen wie Tod und insbesondere dem Kindstod nur sehr schwer umgehen. Aus Verlegenheit und Machtlosigkeit fallen gerade bei abgebrochenen Schwangerschaften Sätze wie „Beim nächsten Mal klappt’s bestimmt“ und „Es war doch noch so früh, das war noch kein richtiges Baby“.

Worte als Trost bewirken auch das Gegenteil

Solche verletzenden Worte hat auch Christina schon gehört. Zu Beginn ihres Kinderwunschs erzählte sie ihren Freund:innen und Arbeitskolleg:innen voller Vorfreude von der Schwangerschaft. Mit der Zeit wurde die Situation schwieriger, die Akzeptanz geringer. Denn sowohl die unterstützenden Behandlungsmethoden rund um die künstliche Befruchtung als auch die Behandlung in der Kinderwunschklinik selbst, und erst recht die Verarbeitung der Kindsverluste kosten Christina Zeit und Energie, um zu heilen. Zeit, die ihr Umfeld ihr auf Dauer nur schwer zugestehen kann.

Blut in Unterhose (c) Jana Reininger
Mit Fehlgeburten umzugehen fällt Betroffenen sowie ihrem Umfeld schwer.
Illustration: Jana Reininger

Mutterschutz greift nicht bei Fehlgeburten

Aus rechtlicher Sicht steht Müttern nach einer Fehlgeburt kein Mutterschutz zu, sondern erst ab einer Entbindung ab der 24. Schwangerschaftswoche. Frauen, die ihr Kind früher verlieren, müssen am nächsten Tag wieder zur Arbeit oder um eine Krankschreibung bitten. Die rechtliche Grundlage dafür ist in Österreich und in Deutschland gleich. Zwar sind Fehlgeburten in den jeweiligen Mutterschutzgesetzen hinsichtlich des Kündigungsschutzes berücksichtigt, ein Recht auf Freistellung nach einem Abort jedoch fehlt. In Deutschland wurde vergangene Woche gegen diesen rechtlichen Missstand, der schwangere Frauen ungleich behandelt, Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Ziel sei es, den Mutterschutz um das Recht auf Freistellung nach einer Geburt auch vor der 24. Schwangerschaftswoche auszuweiten. In Österreich liegt ein solches Begehren bislang nicht vor.

Auch Christina muss sich von ihrem Hausarzt die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen lassen und ihre belastende Situation immer wieder erklären. Glaubt man Natascha Trzepizur, so liegt daran, dass die Mütter von Sternenkindern nicht als Mütter wahrgenommen werden. „Niemand würde einer Mutter, die ihr 10-jähriges Kind verloren hat, ihre Rolle als Mutter absprechen. So bekommt dieses vorgeburtliche Leben und das Empfinden der Mutter automatisch weniger Wert zugesprochen.“

Verwaiste Eltern haben ein erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung

Wie gefährdet Eltern nach dem Verlust eines Kindes für eine psychische Erkrankung sind, haben Wissenschaftler des Danish Epidemiology Science Centre in einer aktuellen Studie aufgezeigt: Durch den Tod eines Kindes weisen Eltern, vor allem Mütter, eine besonders hohe Rate an Depressionen auf und neigen zu Substanzmissbrauch. Zudem haben sie ein stark erhöhtes Risiko, wegen psychischer Erkrankungen klinisch behandelt werden zu müssen.

Dass Trauer überhaupt eine eigene Anerkennung als psychische Belastung bekommt, ist in der psychologisch-psychiatrischen Praxis noch neu. Erst mit der neuesten Version des Diagnosehandbuchs ICD-11, das heuer erstmals veröffentlicht wurde, wurde die „komplizierte Trauer“ als eigene psychische Beeinträchtigung klassifiziert. Zuvor wurde eine anhaltende schwere Trauer meist wie eine Posttraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung behandelt, beschreibt das psychotherapeutische Team der Universität Zürich auf seiner Website. Dem liegt zugrunde, dass eine komplizierte Trauer sehr häufig von anderen psychischen und somatischen Symptomen begleitet wird:  Angststörungen und Depressionen, Herz-Kreislauf-Störungen sowie ein erhöhtes Suizidrisiko.

Tränen auf Gesicht (c) Jana Reininger
Trauer kann als psychische Belastung von weiteren psychischen und somatischen Symptomen begleitet werden.
Illustration: Jana Reininger

Wenn Trauer den Alltag unmöglich macht

Im Alltag beschreiben Betroffene ihre Trauer meist als wiederkehrende, sich aufdrängende Bilder von oder Erinnerungen an Verstorbene, durch die sie nicht aus diesem schweren Gefühl der Trauer hinausfänden, erläutert die Psychologin Martina Schneider. Ähnlich einer Depression, falle es den Betroffenen schwer, ihren Alltag zu bewältigen. Trotzdem sei bei der Einordnung der Trauer als Diagnose unbedingt Vorsicht geboten, warnt Schneider. „Ein Trauerprozess ist etwas sehr Individuelles. Es ist ganz normal, dass es am Anfang schwierig ist, mit der Situation umzugehen. Manche Menschen brauchen länger, manche kürzer. Manche beschäftigen sich intensiver mit ihren Gefühlen, andere weniger. Rituale, der Austausch mit anderen Betroffenen, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen, oder viel Zeit für sich können bei der Trauerbewältigung helfen. Nicht zuletzt kann es manchmal auch sinnvoll sein, professionelle Unterstützung zu suchen, gerade dann, wenn es nicht mehr gelingt, in den Alltag zurück zu finden. Für wen jedoch was richtig ist, ist ganz unterschiedlich.“ Wichtig sei schließlich, dass die betroffene Person es schafft, den Schmerz zuzulassen, zu akzeptieren, dass der:die Verstorbene physisch nicht mehr anwesend ist, und dass es dem:der Hinterbliebenen gelingt, sein:ihr Leben weiter zu organisieren. „Aber auf welchem Weg das gelingt und was dabei hilfreich ist, ist sehr individuell.“

Ihre Sternenkinder lassen Christina zunächst traurig zurück. Mit ihrer Regenbogentochter hat sie wieder neuen Mut gefunden.
Fotos: Christina Siebinger privat

Für ihre Sternenkinder hat Christina bunte Kerzen gebastelt, die sie auf einem Kästchen aufgereiht hat. Ihrer mittlerweile zweijährigen Tochter erzählt Christina gerne, dass sie weitere Geschwister hat, die von den Sternen auf sie herabblicken. Ihrem letzten Sternenkind haben Christina und ihr Mann Briefe geschrieben und sie vergraben. Beide wünschen sich für ihre Tochter noch ein Geschwisterkind, auch wenn ihnen bewusst ist, dass die Schwangerschaft wieder nicht halten könnte. Mit diesem Gedanken hat Christina sich mittlerweile versöhnt und hat sich deshalb nach der Geburt ihres letzten Sternenkindes auch beruflich dazu entschieden, Frauen nach Fehlgeburten und beim Kinderwunsch emotional zu begleiten. „Das Angebot an Unterstützung ist sehr gering. Schließlich sollte es wohl so sein, dass mich meine Erfahrung dazu gebracht hat, anderen Frauen helfen zu wollen und ihnen da zur Seite zu stehen, wo ich es mir auch gewünscht hätte.“ Ihre Trauer hat Christina zwar nicht abgelegt, aber sie hat für sich den richtigen Weg gefunden, damit zu leben. Auch ihre verstorbenen Kinder sind Teil davon: „Ich glaube, dass sie alle noch da sind. Auf jeden Fall in unseren Herzen.“

Christina Siebinger hat ihre Erfahrungen zum Anlass genommen, Frauen in Ausnahmesituationen zu begleiten: Sie ist ausgebildete Psychosoziale Beraterin und steht Frauen beim Kinderwunsch und nach Fehlgeburten emotional zur Seite. Weitere Informationen und Kontakt über ihre Website.

Eltern von Sternenkindern finden zudem professionelle Trauerbegleitung und Unterstützung bei
rosa blau gestreift.

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