„Stärke bedeutet für sich und für andere zu sorgen”: Ein Gespräch über Männlichkeit und die Psyche
Jonas Pirerfellner ist Sozialpädagoge im Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark. Im Gespräch mit ZIMT erzählt er, wie Männer von ihren Rollenbildern belastet sind, welche Gegenentwürfe von Männlichkeit es gäbe und was es wirklich bedeutet, stark zu sein.
Text: Jana Reininger
Foto: Valerie Maltseva
ZIMT: Man stößt zur Zeit sehr häufig auf den Begriff “toxic masculinity”. Was bedeutet das denn überhaupt?
Jonas Pirerfellner: “Toxic masculinity” oder toxische Männlichkeit meint jene männliche Verhaltensweisen, die entweder die Männer selber oder ihr Umfeld direkt oder indirekt schädigen. Toxisch heißt ja giftig. Das umfasst jedes Verhalten, das Männer ausüben, das irgendwie schädigend ist. Das ist in zwei Kategorien unterteilt: einerseits sind das die lauten und nach außen gerichteten Formen, andererseits, die leisen, nach innen gerichteten. In den Medien wird meistens von den lauten, nach außen gerichteten Formen geredet: von Gewalt oder hohem Risikoverhalten, das Männer häufig an den Tag legen. Aber der Großteil des Verhaltens ist eher dieses Ruhige, Unauffällige. Das heißt zum Beispiel, dass Männer tendenziell, wenn sie “männlich” erzogen sind, einen sehr schlechten Zugang zu ihren eigenen Emotionen haben. Dass sie sich weniger Hilfe suchen und versuchen, ihre Probleme für sich selbst zu lösen. Dass sie dann eher zu Substanzen greifen, wie Alkohol zum Beispiel.
ZIMT: Woher kommt diese toxische Männlichkeit denn?
Jonas Pirerfellner: Unsicherheiten, die Männer haben, kommen ganz klar daher, dass wir, oder viele Generationen vor uns, Männern und Jugendlichen sagen: Sei ein Mann. Gleichzeitig sagen wir ihnen aber nicht, wie man ein Mann ist. Wir verlangen von ihnen, dass sie Männer sind, aber nicht, wie das funktionieren soll. Dann müssen sie das selbst erarbeiten, immer mit dieser Frage im Hinterkopf, ob das, was ich tue, männlich ist oder nicht. Dann gibt es noch so hypermaskuline, also überzeichnet “männliche” Verhaltensweisen in Medien, in Rap oder in Actionfilmen oder in Western-Filmen. Da löst der Protagonist seine Probleme beim Trinken oder in einer Schlägerei. Dieses schädigende Verhalten gilt dann als männlich und reale Männer führen das auch aus. Das Spannende dabei ist, dass Männer oft wissen, dass das Verhalten Schäden für sie verursacht. Aber ihre Männlichkeit zu verlieren, wäre schlimmer für sie, als es die Schäden, die sie durch dieses Verhalten in Kauf nehmen, sind.
ZIMT: Was sind diese Schäden, von denen wir sprechen?
Jonas Pirerfellner: Dadurch, dass Männer glauben, gewisse Sachen tun zu müssen oder andere nicht tun zu dürfen, passiert sehr viel emotionale Verdrängung und Gewalt. Deswegen ist die Suizidrate von Männern extrem hoch. Wir reden von einem Verhältnis von vier männlichen Suiziden auf einen weiblichen Suizid. Selbst, wenn man Suizidversuche mit einrechnet, ist das Verhältnis drei zu eins. Das heißt Männer suizidieren sich wesentlich häufiger als Frauen und wenn sie es machen, greifen sie zu wesentlich härteren Methoden. Gleichzeitig gibt es ganz viele psychische Erkrankungen, die undiagnostiziert bleiben, weil Männer oft keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen und viele psychologische Krankheitsbilder weiblich dominiert sind, weil im psychosozialen Bereich vor allem Frauen präsent sind. Weibliche und männliche Depressionen sind aber oft ganz anders, deshalb werden männliche Depressionen häufig nicht gesehen.
ZIMT: Wie sehen männliche Depressionen denn aus?
Jonas Pirerfellner: Es kann zum Beispiel sein, dass Männer mit Depressionen sich sehr überzogen in die Arbeit reinhauen, also mehr Leistung und noch mehr Druck erzeugen, um ihre Probleme von sich wegzubringen. Aber das ist natürlich sehr über den Kamm geschert. Jede Depression ist anders.
ZIMT: Was kann man denn machen, wenn man als Mann das Gefühl hat, eine Depression zu haben?
Jonas Pirerfellner: Das ist dann eh schon der erste Punkt: mal einzusehen, dass etwas nicht okay ist. Und das Wichtigste, das ich dann mitgeben würde, ist: darüber reden! Tatsächlich Hilfe annehmen! Es muss nicht professionalisierte Hilfe sein. Es kann auch im Freundeskreis sein. Aber wenn man an einem Punkt merkt, es wird schwierig, im Freundeskreis darüber zu sprechen, kann man soziale Einrichtungen wie uns in Anspruch nehmen. Es gibt ganz viele Angebote, die anonym, kostenlos und niederschwellig sind. Und es macht einen nicht weniger zum Mann, Hilfe anzunehmen. Da zitiere ich ganz gern Bell Hooks, die mittlerweile verstorbene Feministin, die gesagt hat: Wir haben Stärke immer definiert als etwas, wo man sich über jemanden oder über etwas hinwegsetzt oder durchsetzt. Aber eigentlich müsste man Stärke als Fähigkeit, für sich oder für andere sorgen zu können, denken. Erst dann wären wir wirklich stark.
ZIMT: Damit kommen wir zum Konzept der “caring masculinity” oder?
Jonas Pirerfellner: Genau. Das ist der Gegenentwurf zur toxischen Männlichkeit. Da geht es genau darum, Fürsorgliches anzunehmen und mehr in die Fürsorge hineinzugehen. Fürsorge ist der Oberbegriff für Selbst- und Fremdfürsorge. Dazu gehört es, zuerst einmal eigene Bedürfnisse zu erkennen – das wird uns ja oft nicht gelehrt – und mich dann um meine eigenen Bedürfnisse zu kümmern. In der Fremdfürsorge sehen wir uns die Bedürfnisse unseres Umfeldes an, zum Beispiel die Arbeitsteilung zuhause: Wer übernimmt wie viel Sorgetätigkeiten? Wer kümmert sich ums Essen? Wer kümmert sich um den Haushalt? Wer denkt an Termine? Das sind lauter kleine Sachen, die ein großes Ganzes machen.
Mein Kollege sagt immer gern: Wenn wir die Jugendlichen dahin bringen, sich zu überlegen: Wie geht es mir eigentlich? Was kann ich tun, damit es mir gut geht? Dann haben sie eigentlich schon einen besseren Zugang zu sich selbst und zu anderen gewonnen. Das führt dazu, dass man tiefere und bessere Beziehungen mit sich selbst und mit anderen führen kann, beispielsweise auch in der Vaterrolle, wenn man das in seinem Lebensentwurf drinnen hat. Man kann einen wesentlich besseren Bezug zu den eigenen Kindern haben, wenn man annehmen kann, dass es menschlich ist, Gefühle zu haben und dass man sein eigenes Leben so leben kann, wie man es sich vorstellt. Es ist voll okay, wenn du einen traditionellen Lebensentwurf hast. Wenn du einen technischen Beruf machen willst, ein Haus, Frau, Kind und ein Auto, aber es ist genauso okay, wenn das nicht dein Lebensentwurf ist. Du musst dich nur dazu entscheiden, das zu machen, was dich im Endeffekt erfüllt. Nur dann kann dein Leben ein erfolgreiches Leben für dich sein.
Das thematisieren wir auch in unseren Workshops: Welche Berufsmöglichkeiten gibt es im Sozial- und Pflegebereich? Wir müssen dieses Bild von Männer- und Frauenberufen aufbrechen. Jeder kann jeden Beruf machen, der der Person liegt und den sie gerne macht, unabhängig davon, welches Geschlecht der Person irgendwann einmal willkürlich zugewiesen wurde.
Der Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark ist für alle Menschen in Krisensituationen offen. Er bietet persönliche und auch Online-Beratung an. Du erreichst ihn telefonisch unter 0043 (0)316 831414 über seine Website und auf Instagram.
Möchtest du direkt mit Jonas sprechen? Du kannst ihn unter seiner persönlichen Nummer erreichen: 0043 677 634 04 535.