Mama, bitte geh in Therapie!

Familientherapeutin Heidemarie Haberleitner erklärt, wie Abgrenzung gelingt und Beziehungen gesund bleiben.

Text: Anna Gugerell

Datum: 14. Oktober 2025
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Wenn Eltern ihre persönlichen Probleme immer wieder bei ihren Kindern abladen, kann das zur echten Belastung werden. Oft landen Sorgen, Ängste oder Konflikte ungefiltert am Familientisch. Beim sogenannten Trauma Dumping müssen Kinder mehr belastende Erzählungen auffangen, als für ihre Psyche gut ist.

Wie kannst du Grenzen ziehen, ohne dich schuldig zu fühlen oder die Beziehung zu gefährden? Die Sozialwissenschaftlerin, Psychotherapeutin und systemische Familientherapeutin Heidemarie Haberleitner erklärt, warum Abgrenzung nichts mit Lieblosigkeit zu tun hat, sondern ein wichtiger Schritt zu gesunden Beziehungen sein kann.

ZIMT: Wenn Eltern persönliche Probleme haben und diesbezüglich ihren Kindern gegenüber sehr mitteilungsbedürftig sind, kann das für letztere sehr belastend sein. Wie kann ich als Betroffene:r damit umgehen?

Haberleitner: Sich innerhalb der Familie von Problemen zu erzählen ist normal. Hier würde ich in die Reflexion gehen und mich fragen, ab wann es zu viel ist und ab wann ich eine Rolle einnehme, die für mich nicht passt. Kann ich noch Stopp sagen? Ich bin das Kind und nicht Ersatzpartner:in oder die Therapeut:in. Vor allem, wenn ein Thema immer wieder kommt, darf man eine liebevolle Grenze ziehen.

Die emotionale Verwundbarkeit aus unserer Kindheit bleibt unser ganzes Leben lang im Nervensystem gespeichert.

Warum sind solche Grenzen so wichtig?

Unsere Eltern sind idealerweise unser erster Schutz. Sie passen auf uns auf, wir sind am Anfang unseres Lebens existenziell und emotional von ihnen abhängig. Diese emotionale Verwundbarkeit bleibt unser ganzes Leben lang bestehen und ist im Nervensystem gespeichert. Das ist auch der Grund, warum uns dieser Rollentausch, in dem man selbst die helfende Position einnimmt, oft schwerfällt. Es ist ein großer Schritt, zu sagen: „Mama, Papa, es ist mir zu viel, bitte geh in eine Therapie.“ Gleichzeitig ist diese kindliche Prägung aber nicht endgültig. Das Nervensystem bleibt lernfähig und heilbar, besonders in einem sicheren, unterstützenden Umfeld.

Wenn Kinder früh die Rolle der Helfenden übernehmen müssen, kann das bis ins Erwachsenenleben belasten.

Wann ist der Zeitpunkt gekommen, um eine mögliche Therapie anzusprechen – und wie mache ich das einfühlsam?

Wichtig ist, einen ruhigen Moment zu finden und in Ich-Botschaften zu sprechen. Man möchte dem Vater oder der Mutter die eigene Rolle deutlich machen und betonen, dass man für dieses Problem nicht die richtige Ansprechperson ist. Sätze wie „Ich wünsche mir, dass du Unterstützung findest“ oder „Es fällt mir schwer, dir immer wieder zuzuhören“ sagen viel aus.

Was kann ich tun, wenn die Reaktion verhalten ausfällt?

Ich kann niemanden zu einer Therapie zwingen. Wichtig ist, selbst keine Diagnosen zu stellen und der anderen Person Raum zu geben. Man kann immer nur Impulse setzen und die eigenen Bedürfnisse, Empfindungen und Gedanken teilen. Druck aufzubauen geht oft nach hinten los – aber ich kann dem Elternteil das Gefühl geben, dass ich die Entscheidung für eine Therapie unterstützen würde. Man kann sogar anbieten, gemeinsam zu einem Erstgespräch zu gehen oder Beratungsstellen zu recherchieren. Grundlegend ist aber: Ich trage nicht die Verantwortung für das Wohlbefinden meiner Eltern.

Es ist okay zu helfen, aber ich darf mich auch selbst schützen – und es ist nicht egoistisch, sich zurückzuziehen.

Wie kann ich mich von den Problemen, die abgeladen werden, abgrenzen?

Es ist in Ordnung zu sagen: „Ich möchte heute nicht über dieses Thema sprechen.“ Vor allem, wenn es um Probleme mit gemeinsamen Familienmitgliedern oder um Streit in der Partnerschaft der Eltern geht. Dabei kommt man schnell in einen Loyalitätskonflikt, bei dem klar sein muss: Ich darf Kind bleiben. Es ist okay zu helfen, aber ich darf mich auch selbst schützen – und es ist nicht egoistisch, sich zurückzuziehen.

Bei sich selbst zu bleiben, ist entscheidend. Ich kann nur meine eigenen Handlungen bestimmen. Nach einem besonders belastenden Gespräch kann es hilfreich sein, sogenannte Distanzrituale zu finden – also kleine Handlungen, die beim inneren Abstandnehmen helfen. Das kann Selbstfürsorge in Form eines Spaziergangs, eines Gesprächs, einer Dusche oder Musikhörens sein. Wichtig ist, durchzuatmen und aus der Situation herauszugehen. Wenn gar nichts mehr geht, ist auch ein Anruf bei einer Telefonseelsorge wie Rat auf Draht eine gute Option.

Gesunde Grenzen schaffen Raum für Nähe – wer sich abgrenzt, kann auch wieder schöne gemeinsame Momente erleben.

 

Wie erkenne ich, dass es mir zu viel wird?

Wenn ich auch außerhalb der Gespräche daran denke oder merke, dass ich Abstand brauche. Wenn es mich emotional belastet und mir klar wird, dass das Thema größer ist, als ich es halten kann und ich keine ausreichende Unterstützung bieten kann, dann ist eindeutig eine Grenze überschritten.

Ab wann kann man hier von psychischem Missbrauch sprechen?

Psychischer Missbrauch beginnt, wenn ein Kind das Gefühl bekommt: „Ich muss auf Mama oder Papa aufpassen, sonst geht’s ihnen schlecht“, und dadurch lernt, eigene Gefühle und Bedürfnisse zurückzustellen. Das muss gar nicht laut oder bedrohlich passieren. Oft sind es leise, subtile Botschaften. Wenn ein Elternteil zum Beispiel häufig sagt: „Ohne dich wäre ich verloren“ oder „Du machst mich traurig, wenn du nicht kommst“, kann beim Kind ein ständiges Schuldgefühl entstehen. Ich begleite auch junge Erwachsene, die gelernt haben, zu funktionieren statt zu fühlen, weil sie glauben, für die Stabilität ihrer Eltern verantwortlich zu sein.

Oft sorgen sich Betroffene darum, mit der Abgrenzung die Beziehung zu ihrem Elternteil zu belasten. Wie kann man das umgehen?

Man kann aktiv andere Dinge vorschlagen, etwa gemeinsam spazieren gehen oder ein schönes Erlebnis teilen, um wieder Leichtigkeit in die Beziehung zu bringen. Wichtig ist, dass das Thema nicht überhandnimmt und schöne Momente sowie gemeinsame Erlebnisse nicht verdrängt werden.

Wie gehe ich mit Schuldgefühlen um?

Das fällt besonders schwer, wenn alte Glaubenssätze und Muster hochkommen. Viele denken: Meine Eltern haben mir so viel gegeben, ich bin ihnen etwas schuldig. So ist es aber nicht. Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und darf auf mich aufpassen. Interessant ist auch die Frage: Was würde ich tun, wenn ich keine Schuld und keine Erwartung spüren würde? Als erwachsenes Kind kann ich, vor allem in einer gesunden Beziehung, auch Nein sagen und meine eigenen Grenzen schützen – und zwar aus Liebe.

Heidemarie Haberleitner ist Sozialwissenschaftlerin, Psychotherapeutin und systemische Familientherapeutin. In ihren drei Praxen in Wien und Niederösterreich arbeitet sie mit Kindern, Jugendlichen, Paaren und Familiensystemen.

Melde dich zu unserem Newsletter an:

 

Mit der Anmeldung zu unserem Newsletter akzeptierst du unsere Datenschutzrichtlinien.