Mit der Unruhe leben: Bene
Text: Karina Grünauer
Fotos: Karina Grünauer
Bene ist ein Kind, das nicht stillsitzen kann. Er steht im Unterricht auf, läuft durch den Klassenraum, kann nie nur ruhig dasitzen und zuhören. Er spricht, ohne vorher aufzuzeigen, verhält sich aggressiv, befolgt keine Regeln, macht keine Hausaufgaben. Seine Klassenlehrerin vermutet zunächst, dass er sich langweile und empfiehlt, eine Klasse zu überspringen. Da der Sprung sein Verhalten jedoch kaum ändert, suchen die Eltern die Schuld bei sich. „Damals, in den 1990ern, hieß es noch: Eltern sind selber schuld, wenn das Kind so ist, weil sie das Kind schlecht erziehen. ADHS galt als ‚nicht echt‘ oder ‚überdiagnostiziert‘. Die Diagnose ADHS stand damals zwar im Raum, aber war für meine Eltern vermutlich schwer zu begreifen, schwer zu akzeptieren. Darum habe ich damals keine Medikamente bekommen.“, erinnert sich Bene. Benes Eltern versuchen ihm trotzdem zu helfen, mit Ergotherapie, mit Selbsthilfe-Ratgebern, sie überlegen, ihn auf eine Sonderschule oder ein Internat zu schicken. Mit alldem möchten sie Benes Wunsch so nahe wie möglich kommen: „normal“ zu sein.
Die innere Unruhe sieht man nicht
Heute ist Bene 30 Jahre alt, ein blonder, hochgewachsener Mann mit einem gepflegten Dreitagebart, gebügeltem Hemd. Er sagt: „Viele sagen zu mir: ‚Du siehst gar nicht aus, als hättest du es.‘ Was meinen sie damit? Wie sieht jemand mit ADHS aus? Natürlich renne ich jetzt nicht den ganzen Tag schnell im Kreis.“
Bene sitzt aufrecht am Tisch. Die Aufregung, über seine Person zu sprechen, bemerkt man nur, wenn man genauer hinsieht: an den hellen, wachen Augen, die die Umgebung permanent scannen, später auch an den Händen, die ein Fidget toy unter dem Tisch hin und her kneten. Es ist ihm ein Anliegen, über seine Diagnose zu sprechen, eine Diagnose, die viele Menschen mit sich tragen: ADHS, Zappelphilipp.
„Es war für mich so ein Albtraum, dass ich mit meinem Verhalten oder irgendwie auffalle.”, sagt Bene, als er von seiner Kindheit erzählt. „Ich wollte einfach nur in der Menge untergehen. Das habe ich meinen Eltern damals schon ganz explizit gesagt. Ich habe dann gemerkt: Schule fällt mir schwer, Hausaufgaben sowieso, Lernen ist auch schwierig. Es fällt mir schwer, soziale Kontakte zu knüpfen, stillzusitzen, alle möglichen Symptome. Aber ich habe es nie wirklich mit ADHS in Verbindung gebracht. Ich habe damals die Meinung der anderen übernommen und gedacht: ‚Okay, ich bin halt einfach faul, dumm und unfähig irgendwie was selber hinzukriegen.‘“
Die Symptome machen Bene das Leben schwer
Bene lernt, seine innere Unruhe zu maskieren. Aber es fällt ihm dennoch schwer, soziale Kontakte zu knüpfen. Seine Mitschüler fangen erst an, ihn zu akzeptieren, als er den Klassenclown spielt. Diese Rolle begleitet ihn bis zum Abitur. Mit seinem anschließenden Umzug von Deutschland nach Wien beginnt für Bene ein neuer Lebensabschnitt. Er lässt die schlechten Erfahrungen hinter sich und zieht in eine WG ein, beginnt ein Studium. Alles ist neu und aufregend – und läuft eine Zeit lang sehr gut. Bis Bene wieder in alte Verhaltensmuster fällt: Er kommt ständig zu spät, hält Verabredungen nicht ein, besucht keine Lehrveranstaltungen mehr. Das Fokussieren fällt ihm schwer. Im Haushalt türmt sich schmutziges Geschirr auf, Rechnungen werden nicht mehr bezahlt. Immer wieder wird Bene mit dem Auto für zu schnelles Fahren geblitzt, hat aufgrund seiner Unachtsamkeit Unfälle. Freundschaften und Liebesbeziehungen gehen in die Brüche. Bene greift immer öfter zum Alkohol.
Irgendwann bemerkt Bene eine Veränderung – seine Hyperaktivität und der Bewegungsdrang verschwinden größtenteils, er kann stundenlang einfach im Bett liegen, ist manchmal wie gelähmt. In seinem Inneren wird die Unruhe hingegen fast unerträglich. Bene meint die Ursache dafür zu kennen: „Ich habe mich so oft gefragt: Was stimmt nicht mit mir? Kann das mit meiner ADHS-Diagnose aus der Kindheit zusammenhängen? Kann man als Erwachsener überhaupt noch ADHS haben?“ Bene fängt an sich in das Thema einzulesen und lernt, dass ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben kann, sich aber oft anders äußert. Die Diagnose erklärt viele Probleme, die Bene im Alltag hat. Bene beschließt, die ADHS-Ambulanz im Wiener Allgemeinen Krankenhaus zu besuchen. Er lässt sich bei einer klinischen Psychologin offiziell diagnostizieren, findet eine Psychiaterin und beginnt eine Verhaltenstherapie, die von Medikamenten begleitet wird. Damit schafft Bene Aufgaben, die für ihn vorher an manchen Tagen nicht zu bewältigen waren: Er hängt Wäsche auf und holt die Post aus dem Briefkasten.
Bene beginnt ein Praktikum bei einer PR-Agentur. Am Anfang ist wieder alles neu, herausfordernd, motivierend. Stressige Situationen, komplexe Aufgaben, die Fülle an Projekten meistert Bene problemlos. Seine Begeisterung für neue Projekte erweist sich als großer Pluspunkt, sein Humor kommt bei den Kolleg:innen gut an. Schwierigkeiten bekommt er erst wieder, als es um organisatorische Dinge geht: der Bürobeginn um Punkt 9 Uhr, sich Aufgaben auf Zuruf zu merken, Aufgaben nach Wichtigkeit zu ordnen und abzuarbeiten. Daran scheitert er immer wieder. Seinen Kolleg:innen und Vorgesetzten hilft es, dass Bene seine Diagnose offen kommuniziert. Denn die innere Unruhe und vermeintliche Vergesslichkeit hat für ihn auch schon zu unangenehmen Situationen und Gesprächen geführt: „Solche Gespräche oder gar die Androhung negativer Konsequenzen sind gerade für Menschen mit ADHS unfassbar kontraproduktiv, weil man oft schon früh für sein Verhalten bestraft wird. Ich musste lernen, konstruktive Kritik nicht persönlich zu nehmen – aber wenn Kritik dann wirklich persönlich wird, motiviert das nicht. Man lernt einfach nur, sich abzukapseln.“
Eine Diagnose hilft, die Zusammenhänge zu verstehen
„Ich glaube das Wichtigste für mich war, tatsächlich über ADHS im Erwachsenenalter zu lesen und für mich den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung zu erkennen. Es ist nicht meine Schuld, dass mein Gehirn anders funktioniert. Aber ich kann zumindest soweit Verantwortung übernehmen, dass ich Symptome erkenne und versuche, Strategien zu finden, die mir das Leben erleichtern. Ich versuche, mich weniger selbst anzuklagen. Und auch wenn das nicht immer gelingt, merke ich, dass ich Fortschritte mache.“ Mit der Verhaltenstherapie und dem Austausch in einer Selbsthilfegruppe lernt Bene, Situationen und Handlungen besser zu reflektieren. Dank der Therapie weiß Bene heute, dass körperliche Bewegung ihm helfen kann, wenn die Unruhe in seinem Kopf zu stark wird. Die Medikamente helfen ihm zusätzlich, seinen Alltag strukturierter zu bewältigen, Verabredungen und Termine zu planen und auch besser einzuhalten.
Die Menschen in Benes Umfeld wissen zwar um seine Diagnose. Mit ihren Reaktionen und Enttäuschungen hadert er dennoch gelegentlich: „Ich lerne selbst jeden Tag dazu, wie mich Symptome beeinflussen und wie ich damit umgehen kann. Das ist viel Arbeit und verändert sich natürlich auch. Aber ich versuche, die wichtigen Dinge auch immer meinem Umfeld zu kommunizieren. Zum Beispiel was ich brauche, wenn ich gerade einen ‚Meltdown‘ habe. Warum ich mich oft lange nicht melde. Wie mich Reizüberflutung beeinflussen kann. Und dass es für mich vermutlich um einiges frustrierender ist als für mein Umfeld, damit leben zu müssen.“