Feinfühligkeiten: Laura
Laura ist hochsensibel. Diese Eigenschaft kann belastend sein. Sie kann aber auch zur Stärke werden.
Text: Jana Reininger
Fotos: Serge Hof
Laura steht vor den Regalen im Supermarkt. Vor ihren Augen reihen sich Produktverpackungen an Produktverpackungen, mal orange, mal weiß mit grüner Schrift, mal pink mit schwarzer Schrift, mal blau mit orange mit schwarz mit gelber Schrift. Zwei Euro neunundneunzig für den Aufstrich der originalen Marke – weiß mit grüner Schrift – zwei Euro neunundsechzig für den mit der blau-orange-schwarz-gelben Verpackung, ein Euro neunundneunzig für blau mit schwarzer Schrift. Lauras Augen wandern hin und her, ihre Hand greift nach dem orangen Produkt, zögert und zieht sich wieder zurück. Die Farben und Ziffern verschwimmen vor ihren Augen zu einem Einheitsbrei. Laura greift nach dem Aufstrich der Originalmarke, stellt ihn in den Einkaufswagen und macht sich schnellen Schrittes davon.
Laura ist Bloggerin, 27 Jahre alt und wohnt in Berlin. Laura ist hochsensibel. “Dadurch fallen mir Alltagssituationen oft schwerer”, sagt sie. “Manche Leute gehen in den Supermarkt, danach noch in den Mediamarkt und dann zum Baumarkt und haben dann immer noch Energie. Bei mir geht das gar nicht.”
Überreizung schafft Erschöpfung
Wenn Laura im Supermarkt steht, braucht sie länger als andere Menschen. Sie geht eben nicht durch die Gänge des Ladens und greift zielorientiert zu den benötigten Artikeln. Stattdessen geht sie langsam, nimmt alle Optionen wahr und wägt sorgfältig ab. “Das ist Reizüberflutung”, sagt Laura. Die erlebt sie auch in der U-Bahn oder beim Autofahren. “Nicht, dass ich schlecht Auto fahre”, lacht sie, doch im Verkehr ist es schwierig, alle Symbole und Geschehnisse gleichermaßen im Blick zu behalten. “Autofahren in der Stadt ist für mich sehr anstrengend.”
Wenn Laura auf Partys geht, spürt sie zuerst einmal die Stimmung. Sie merkt rasch, ob die Laune gut ist oder schlecht, ob sie sich wohlfühlt oder eher weniger. Wenn sie im Supermarkt bei der:m Kassierer:in ankommt, merkt sie, wenn die einen schlechten Tag hat. In diesen Momenten fällt es Laura schwer, sich von den Gefühlen der anderen abzugrenzen. “Früher habe ich oft den Frust anderer Menschen wahrgenommen und gedacht, die Menschen mögen mich nicht. Ich habe mich dann schlecht gefühlt. Ich habe gedacht, ich hätte etwas falsch gemacht, wäre irgendwie unsympathisch gewesen.” Heute weiß Laura, dass das, was sie erlebt, Hochsensibilität ist. “Ich habe damals nur gespürt, dass es der anderen Person schlecht geht und es auf mich projiziert. Ich muss in solchen Situationen sehr darauf achten, bei mir, in meiner Energie zu bleiben und das andere nicht zu sehr an mich heranzulassen.”
Um sich von Überreizung zu erholen, macht Laura Yoga
Ruhephasen helfen
Wenn Laura vom Einkaufen, von Partys, vom U-Bahn- oder Autofahren nachhause kommt, braucht sie erst einmal Ruhe. “In diesen Momenten bin ich definitiv reizbarer”, erzählt sie. “Ich bin nicht in meiner Mitte, ein bisschen benebelt, kann mich nicht konzentrieren und bin müde.” Dann zieht Laura, die mit ihrem Freund wohnt, sich ein wenig zurück. “Mir ist es auch in meiner Beziehung sehr wichtig, dass wir Zeit in getrennten Räumen verbringen.” Dann liegt Laura eine Weile nur da, lässt ihre Gedanken fließen und träumt vor sich hin. Sie versucht sich auf einzelne Reize zu konzentrieren, mal auf Musik, mal auf ihren Atem. Manchmal hilft es ihr auch, Bilder zu bearbeiten und sich alleine im Visuellen zu verlieren. Mit der Zeit geht es Laura dann wieder besser. Dass Laura diese Möglichkeit hat, liegt daran, dass sie es sich leisten kann – und daran, dass sie selbstständig ist. “In einem 9-to-5-Job müsste ich meine Bedürfnisse nach Ruhe konstant unterdrücken, um anwesend zu sein”, sagt sie. “Ich wünsche mir, dass das Thema mehr an die Öffentlichkeit tritt und, dass auch Arbeitgeber:innen sensibler werden im Umgang mit Mitarbeiter:innen, die vielleicht hochsensibel sind.”
Hochsensibilität ist auch eine Fähigkeit
Am Ende des Tages ist Hochsensibilität nämlich nicht nur etwas Schlechtes. In ihrem Job kann Laura sehr kreativ arbeiten, weil sie so viele Möglichkeiten sieht. Sie kann neue Trends rasch erkennen, weil sie erste Tendenzen sieht und sie kann empathisch sein, weil Empathie nun mal das A und O der Hochsensibilität ist. In ihrer Beziehung schaffen Laura und ihr Partner es immer wieder, Konflikte zu vermeiden, weil Laura Anspannungen oft schon sehr früh erkennt, und auch außerhalb ihrer Beziehung hört Laura gerne den Problemen ihrer Freund:innen und Fremden zu. Manchmal findet sie dann Lösungen, wo andere keine sehen. “Hochsensibilität ist auch eine Fähigkeit, die sehr wertvoll sein kann”, sagt Laura. “Aber man muss lernen, sich von Situationen abzuschirmen, die sonst auch sehr belastend sein können.”