Triggerwarnung
Der Artikel befasst sich mit Borderline und selbstverletzendem Verhalten. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.
„Ich bin nicht Borderline”: Selene
Als Selene Blut spenden gehen möchte, sieht sie sich mit Diskriminierung konfrontiert. Was hat es damit auf sich?
Text: Selene Prahava
Bilder: Selene Prahava/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Es ist Donnerstagabend. Man könnte eine Menge cooler Dinge tun, aber ich habe mich dazu entschlossen, noch schnell Blutspenden zu gehen. Seit ich umgezogen bin, war ich das nämlich noch nicht. In Kiel, wo ich vorher gewohnt habe, bin ich alle paar Monate zur Universitätsklinik zum Spenden gegangen. Ist ja wichtig, und irgendwie fühle ich mich danach psychisch immer gut. Körperlich auch, aber manchmal wird mir schwindelig und deshalb fährt mein Freund mich hin. Heute war ein guter Tag. Nach dem Spenden wollen wir noch auf den Berg in der Nähe und uns die Sterne ansehen, einen kleinen Snack und etwas zum Trinken haben wir auch dabei. Ich freue mich.
Dieser Text ist im Rahmen der ZIMT-Werkstatt entstanden. Hier erhalten Menschen mit und ohne journalistischer Vorerfahrung Unterstützung dabei, ihre Geschichten umzusetzen.
Mein Freund sucht einen Parkplatz und ich laufe im Krankenhaus umher und suche nach dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), welches semi-gut ausgeschildert ist. Es ist halb acht und die Leute hier haben bald Feierabend. Trotzdem begrüßt mich die Frau am Empfang freundlich und erklärt mir kurz, wie das mit der Anmeldung funktioniert. Ich gebe alle meine Daten ein und prompt tritt ein Fehler auf.
„Das System will Sie nicht“, sagt die Frau und starrt auf ihren Bildschirm. „Moment.“ Sie tippt hier und klickt da. „Sie waren schon mal hier. Sie sind hier mit einer anderen Adresse eingetragen“, stellt sie fest. Ich war tatsächlich schon mal hier, mit gerade 18, durfte dann aber doch nicht spenden wegen der Medikamente, die ich zu der Zeit nahm. Danach war ich so oft umgezogen, dass ich nie nochmal beim DRK gelandet bin – bis heute.
Die Frau winkt mich also durch zum Arzt, der noch meinen Blutdruck messen und den Fragebogen mit mir durchsehen soll. Ich setze mich an einen kleinen Tisch und sehe dem Mann dabei zu, wie er meinen ausgefüllten Fragebogen überfliegt.
„Lebenslange Spendesperre“ steht auf dem Bildschirm, den der Arzt zu Selene dreht.
„Sieht ja alles so weit gut aus. Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“, fragt er. „Vor etwa einer Stunde, genug getrunken habe ich auch“, erkläre ich. Er setzt an: „Okay, dann…“, tippt etwas am Computer und ich ziehe meinen rechten Ärmel zum Blutdruck messen hoch. „Sie haben eine Spendesperre“, sagt er trocken und starrt auf den Bildschirm. „Was?“, frage ich, weniger, weil ich ihn nicht verstanden habe, als eher, weil mein Gehirn die Information noch nicht verarbeitet hat. Der Arzt dreht den Bildschirm zu mir und ich lese in großen Buchstaben: „Lebenslange Spendesperre wegen psychischer Krankheit“.
Mit 18 hatte ich gerade aufgehört, mich zu verletzen. Ich war dabei, meine Medikamente abzusetzen, war in einer besser werdenden Verfassung, aber von gut konnte noch nicht die Rede sein. Ich war aber schon ein paar Monate clean vom Selbstverletzen und getrunken hatte ich auch schon eine Weile nicht. Die Medikamente waren nur noch halb so hoch dosiert und es ging bergauf. Spenden durfte ich wegen der Medikamente nicht. Das wurde mir so gesagt. Aber ich machte auch kein Geheimnis aus dem Rest. Ich beantwortete ehrlich die Fragen, die mir gestellt wurden. Nun, mit 24 Jahren, saß ich hier mit diesen Bildern im Kopf und fühlte mich wie früher, wenn meine Eltern mich zur Rede gestellt hatten und ich keine Worte fand, um zu erklären, was mit mir los war.
Der Arzt sieht mich an. Ich versuche mich zu sammeln und stammele: „Ich habe mich damals selbst verletzt.” Ich ziehe meinen linken Ärmel ein Stückchen hoch, gerade so, dass man die Narben sehen kann. „Ich bin aber seit sechs Jahren clean und ich nehme auch keine Medikamente mehr.“ Der Arzt mustert mich. „Hmm“, macht er. Ich kann das Geräusch nicht einordnen, nicht sagen, ob es positiv oder negativ ist. Ich frage mich eher, warum ich für mein ganzes restliches Leben gesperrt sein soll. Ich verstehe das mit den Medikamenten und ich verstehe, dass man, wenn man sich verletzt, das Blut verunreinigen kann und so weiter…
Sechs Jahre ist es her, dass Selene zuletzt Medikamente aufgrund von Borderline genommen hat.
Aber lebenslänglich? Das klang wie ein Urteil.
Ein Urteil über mein Leben.
Für immer geschädigt.
Für immer kaputt.
Für immer krank.
Mein Leben lang.
Irgendetwas in mir will sich gerne aufregen, aber der Arzt kann ja auch nichts dafür und mir fehlen die Worte. „Ich durfte ja in Kiel auch spenden! An der Uni-Klinik! Da war das nie ein Problem“, beginne ich mich zu rechtfertigen. „Wann war das letzte Mal?“, fragt der Arzt. Ich schaue ihn an. Das letzte Mal was? Essen? Spenden? „Das letzte Mal Ritzen“, sagt er.
Ritzen. Ich mag das Wort nicht. Es ist nicht abwertend gemeint. Ich weiß, dass er nur seinen Job macht, aber warum hat er nicht Schneiden sagen können? Warum muss es Ritzen sein? Warum klärt niemand Ärzt:innen über den Umgang mit Patient:innen wie mir auf? Soll ich ihm erklären, dass das Wort für viele Betroffene wie eine Beleidigung ist? Dass Ritzen viele Arten der Selbstverletzung ausschließt? Dass Einritzen per Definition meint, mit etwas Scharfem die Oberfläche einzuschneiden, aber das für alle diejenigen, die eben nicht oberflächlich schneiden, verharmlosend ist? Dass das Wort in der Popkultur, in Songs, aber auch in Fernsehserien benutzt wird, wenn man sich über Betroffene lustig macht? Ich habe gerade nicht die Nerven, um diesen Vortrag zu halten.
Sechs Jahre ist das letzte Mal her, genauso wie die letzte Einnahme der Medikamente. „Ziehen Sie die Ärmel hoch“, fordert mich der Arzt auf und ich bin mir nicht sicher, warum. Einen Teil der Narben kann er sehen, der rechte Ärmel, die Seite, auf der keine Narben sind, war zum Blutdruckmessen auch schon hochgezogen. Will er sehen, dass da keine neuen Wunden sind? Er starrt auf eine Verbrennung, die ich am rechten Arm habe.
Den Brief, den Blutspender:innen normalerweise nach der Spende erhalten, erhält Selene nicht.
„Was ist das?“, fragt er. „Da hab’ ich mich als Kind verbrannt“, sage ich. Die Narbe dort ist in derselben Farbe wie der Rest meiner Haut. Man kann sehen, dass sie schon viele Jahre abgeheilt ist. Er tippt etwas in seinen Computer und erklärt mir, er würde schauen, was er tun kann, um meine Sperre aufzuheben. Heute darf ich ausnahmsweise spenden. Den Brief, den man normalerweise nach dem Spenden bekommt, erhalte ich nicht.
Ich will gerne wieder Blutspenden gehen. Ich finde das wichtig. Aber ich habe mich seit dem letzten Mal noch nicht wieder getraut. Ich habe Angst, wieder erklären zu müssen, was mit mir los ist.
Es ist okay, wenn mich Leute nach meinen Narben fragen. Es ist okay, wenn Menschen nicht immer auf dem aktuellen Forschungsstand in jedem Thema sind. Das ist okay. Aber was mich stört, ist, dass ich manchmal wie eine Diagnose behandelt werde und nicht wie ein Mensch. Und dass ich leider zu oft von Menschen Stigmatisierung erfahre, die es eigentlich besser wissen sollten: Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen und Therapeut:innen. Menschen, von denen man sich wünschen würde, dass sie einen angemessenen Umgang mit Betroffenen an den Tag legen.
Einige Tage später rufe ich beim Deutschen Roten Kreuz an und erkundige mich nach meiner Spendesperre. Sie wurde aufgehoben. Da dabei wieder nach meiner Einnahme von Psychopharmaka gefragt wird, informiere ich mich: Laut einem Bericht der Uniklinik Freiburg darf man nach Einnahme meiner Medikamente zwar spenden, jedoch dürfen nicht alle Teile des Blutes verwendet werden und manche Spenden werden nur für Forschungszwecke gebraucht. Spendefähig sei man nach ärztlicher Beurteilung der Grunderkrankung.
Also frage ich mich, was beurteilt ein Arzt? Das frage ich auch meinen Hausarzt. Er war schon immer herrlich ehrlich, dafür schätze ich ihn. Menschen mit Borderline, und das ist die Diagnose, die ich habe, würden oft zu einem Verhalten neigen, das das Blut unbrauchbar macht. Selbstverletzung verunreinigt das Blut und kann zu Infektionen führen, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber Sexualverhalten, Drogen- und Medikamentenkonsum spielen auch eine Rolle.
Dafür habe ich also eine lebenslange Spendesperre bekommen. Für eine Krankheit, die nicht ewig bleibt, wie Studien aufzeigen, auch wenn man das lange geglaubt hat.
Borderline wird diagnostiziert, wenn man fünf aus neun Symptomen hat. Das sind knapp 130 Kombinationsmöglichkeiten. Trotzdem wird man behandelt, als gäbe es nur eine. Ich bin nicht Borderline. Ich bin Selene. Frag mich nach meinen Symptomen, nicht nach meiner Diagnose.