Der Angst ins Auge blicken – mit virtueller Realität gegen die Angst

Neue VR-Therapien unterstützen bei der Behandlung von Ängsten, Panikattacken und Phobien. Wie funktioniert das und wo stößt VR an ihre Grenzen?

Text: Tara Giahi
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Datum: 31. Mai 2024
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Maximilian* steht vor einer Gruppe von 20 Personen. Eine schaut ihn böse an, eine andere nickt nur mit dem Kopf und eine weitere lacht ihn aus. Eine Stimme aus dem Nichts sagt ihm, er solle sich der Gruppe vorstellen. Erzählen, wer er sei und was er mache. Bei Maximilian steigt die Spannung. Seine Hände fangen an zu schwitzen, sein Herzschlag wird schneller und ihm wird schwummrig. Die Personen vor ihm sind nicht real, die Panik, die er verspürt schon.

Seit circa zwei Monaten geht Maximilian in VR-Therapie, einer speziellen therapeutischen Behandlung von Ängsten mit Hilfe virtueller Realität. Situationen, in denen er im Fokus der Aufmerksamkeit stehen könnte, wie etwa Gespräche im erweiterten Familienkreis oder Orchesterauftritte in der Freizeit, lösten bei ihm vor Therapiebeginn teilweise Panikattacken aus. „Es wurde mit der Zeit immer schlimmer: Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindelanfälle“, erzählt Maximilian. Er befürchtete, dass ohne professionelle Hilfe die Angst immer mehr sein Leben bestimmen würde. Bei Phobius kann sich Maximilian seinen sozialen Ängsten Schritt für Schritt in virtueller Umgebung stellen. „Für mich war der VR-Aspekt extrem wichtig, um mich an die Konfrontation heranzutasten. Wenn es dir wirklich schlecht geht, kannst du die Situation einfach verlassen und beim nächsten Mal dort ansetzen, wo du aufgehört hast.“

Die Stimme aus dem Nichts gehört zu Johannes Rother. Er ist klinischer Psychologe bei Phobius, einem psychologischen Zentrum im 7. Wiener Bezirk, das auf die Behandlung von Ängsten, Panikattacken und Phobien mit Hilfe von virtueller Realität spezialisiert ist. Rother weiß: „Es geht nicht darum, die Angst zu besiegen, sondern Freiheit zurückzuerobern.“ Betroffene von Angststörungen entwickeln oft Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, die den Alltag bestimmen. Einer seiner Klienten mit Arachnophobie kletterte etwa nur noch durchs Fenster hinein und heraus, nachdem er ein Spinnennetz über seiner Eingangstür entdeckt hatte. Für Personen mit sozialer Phobie bedeutet dies häufig einen Rückzug in die Isolation.

Virtuelle Exposition

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Herkömmlich werden sie verhaltenstherapeutisch, tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch behandelt. Als am wirksamsten gilt die zur Verhaltenstherapie gehörende Expositionstherapie. Dabei werden Betroffene mit ihren Ängsten konfrontiert, Vermeidungsverhalten soll dadurch reduziert oder gar verhindert werden. Die VR-Therapie knüpft daran an. Sie ermöglicht kontrollierte Konfrontationen, die teilweise im normalen Praxis-Alltag schwer umsetzbar sind, beispielsweise aufgrund von hohen Kosten oder einem übermäßigen Zeitaufwand.

Person im Flugzeug am Fenster, schaut ängstlich

Gerade bei Flugangst sind VR-Therapien eine kostengünstigere Möglichkeit, sich seinen Ängsten immer wieder zu stellen.

„Sehr teure Konfrontationen, wie etwa bei Flugangst, können durch VR deutlich kostengünstiger dargestellt werden“, sagt Oswald Kothgassner. Er arbeitet als klinischer Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien. In seiner Forschung setzt er einen Schwerpunkt auf digitale Therapiemöglichkeiten. Durch eine VR-Brille werden Patient:innen in eine Immersion versetzt und mit angstauslösenden Reizen stimuliert. In Bezug auf VR bedeutet Immersion das „Eintauchen“ oder „Versinken“ in einer virtuellen Welt. Visuelle Reize der realen Umgebung werden vollkommen abgeschirmt, eingespielte auditive Elemente verstärken den Immersionseffekt. Auch haptische Reize werden teilweise eingesetzt. Etwa bei virtuellen Höhenangst-Szenarien, wie dem Stehen auf einem Hochhaus, arbeitet Rother mit Ventilatoren, um Wind zu imitieren.

In der Regel werden die VR-Exposition vor Ort von eine:r Psycholog:in oder eine:r Therapeut:in begleitet. Sie verfolgen die Szenarien auf einem Bildschirm mit und geben den Patient:innen Aufgaben in der virtuellen Umgebung, wie das Betreten einer Planke in luftiger Höhe oder das Annähern an eine Spinne. Währenddessen erkundigt sich der:die Psycholog:in oder Therapeut:in nach dem Wohlbefinden der Patient:innen. „Ich frage auch nach, welche körperlichen Symptome sie wahrnehmen, welche Gedanken sie haben und wie groß ihre Angst auf einer Skala von eins bis zehn ist“, erzählt Rother.

Nach derzeitigem Forschungsstand können virtuelle Expositionen bei spezifischen Ängsten wie Höhen- oder Spinnenphobie genauso wirksam sein wie reale Konfrontationen. In den S3-Leitlinien für die Behandlung von Angststörungen, also den offiziellen medizinischen Handlungsempfehlungen, werden sie ausdrücklich zugeraten. Eine reale Exposition sei nicht mehr zwingend.

„Man kann soziale Situationen in virtueller Umgebung trainieren, schlussendlich braucht es aber meistens eine Konfrontation in der Realität“, sagt Kothgassner.

Ausgetrickst

Der menschliche Körper lässt sich leicht durch Immersion austricksen: 60 Prozent unseres Gehirns ist mit der Verarbeitung von visuellen Reizen beschäftigt. Dabei unterscheidet es nicht zwischen echten und künstlich erschaffenen Reizen. Bereits ein guter Film kann uns in seinen Bann ziehen, uns zum Weinen oder Lachen bringen. „Bei einer immersiven Umgebung sind die physiologischen und kognitiven Reaktionen noch intensiver als bei einem Film und ähnlich wie bei einer realen angstauslösenden Situation“, sagt Kothgassner, „Deswegen funktioniert die Therapie mit virtueller Realität so gut.“

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben

Selbst bei spezielleren Anwendungsfeldern kann VR-Therapie helfen. Häufig fehlt es jedoch an der geeigneten Software.

Die meisten Klient:innen von Phobius seien bei der ersten VR-Einheit überrascht, wie real sich die Angst anfühle, erzählt Rother. Allein wegen körperlichen Symptomen bricht er aber keine Konfrontation ab: „Es geht darum, die Angst zu erfahren, auszuhalten und mit ihr umzugehen.“ Wenn die Angst zu groß wird, empfiehlt er seinen Klient:innen „unter der Brille herauszulugen“. Bei einer Unterbrechung sei es aber wichtig, wieder in die Situation hineinzugehen, ansonsten können sich die Ängste verstärken. Hier liegt ein großer Vorteil der VR-Therapie: Retraumatisierungen sind weniger wahrscheinlich, da Situationen einfacher verlassen und wiederholt werden können. Zudem können Angstreize besser kontrolliert und in verschiedenen virtuellen Szenarien schrittweise verstärkt werden. Das macht es auch für Betroffene einfacher, sich auf die Konfrontationen einzulassen.

Maximilian musste bei seiner ersten Immersion vor 20 Personen sprechen. In der nächsten Einheit redete er bereits in einer großen Halle voller Menschen. In einem anderen Szenario wartete er lediglich vor einem Veranstaltungsgebäude. Graduierung und Individualisierung in einer VR-Therapie sind allerdings abhängig von der verfügbaren Software. Laut Rother fehle es vor allem an interaktiven, situativen Szenarien und an Umgebungen mit Tieren. Bei einem Projekt mit der FH St. Pölten entwickelte Phobius etwa eine Software für Personen mit Taubenphobie mit.

Rother und Kothgassner sehen durch den VR-Aspekt das Potenzial, Personen anzusprechen, die sich schwertun, in herkömmliche Therapien zu finden. Dazu gehören auch Kinder und Jugendliche. Durch den „Spaßfaktor“ sei die VR-Therapie besonders ansprechend für sie. „Es holt die Kinder und Jugendliche genau dort ab, wo sie sind“, sagt Kothgassner. Durch Spiel-ähnliche Elemente seien die Kinder motivierter, aktiv bei der Therapie mitzumachen und dabeizubleiben.

Mit Immersion gegen Sucht und Schizophrenie

VR wird auch bereits bei Suchterkrankungen eingesetzt. Betroffene werden in einer virtuellen Umgebung immer wieder mit „Auslösereizen“ konfrontiert und lernen so, mit der Anziehungskraft des Suchtreizes und den auslösenden Gefühlen umzugehen. Bei Spielsucht werden Betroffene etwa in eine Casino-Umgebung versetzt. Auch bei Magersucht könnte in Zukunft virtuelle Realität Therapien ergänzen. Eine deutsche Studie untersuchte in einem Experiment die Selbstwahrnehmung Betroffener. Die Teilnehmer:innen sahen sich durch eine VR-Brille mit einem „normalen“ Körpergewicht im Spiegel an. Nach insgesamt viermal 30 Minuten nahmen sie ihren adaptierten virtuellen Körper bereits entspannter und mit weniger negativen Emotionen wahr.

Chancen liegen ebenso in der Behandlung von Schizophrenie. Etwa bei der sogenannten Avatar-Therapie ordnen Betroffene von akustischen Halluzinationen die Stimmen virtuellen Personen zu. Mit diesen können sie reden und gleichzeitig lernen, Alltagssituationen zu bewältigen, ohne sich von den Stimmen beeinflussen zu lassen. Auch kognitive oder Soziale-Kompetenz-Trainings in virtueller Umgebung können bei Schizophrenie helfen.

Mit Menschen voll besetzter Theaterraum

Soziale Phobien lassen sich in geschützter Umgebung mit Hilfe von VR therapieren. Einer realen Exposition bedarf es meist dennoch.

Kothgassner entwickelte virtuelle kognitive Trainings für Kinder und Jugendliche mit ADHS mit, um etwa deren Aufmerksamkeit zu trainieren. In einem Szenario mussten die jungen Teilnehmer:innen einfache Aufgaben lösen, wie unter Zeitdruck Spielkarten nach Zahlen sortieren. Währenddessen wurden virtuelle Ablenkungen wie bellende Hunde und Flugzeuge gezeigt. Allerdings wird es noch einige Jahre dauern, bis diese immersiven Anwendungen außerhalb spezifischer Phobien im Regelbetrieb eingesetzt werden, vermutet Kothgassner. „Derzeit haben wir noch so wenige Studien, dass es auch noch keinen Fahrplan in die Praxis gibt.“

Immersionen als Brücke zum Alltag

Kothgassner hält die virtuelle Therapie für eine gute Ergänzung zur Standardtherapie: „Wir sollten aber nicht dahin verfallen zu sagen, dass wir alles mit virtueller Realität behandeln können.“ Dafür fehle es, abseits der Angststörungen, noch an wissenschaftlicher Evidenz. Zudem sei es wichtig, die VR-Einheiten in einen Therapieplan einzubetten. Auch bei Phobius sind die virtuellen Expositionen nur ein Teil der Behandlung. Ihre Therapie ist in drei Stufen aufgebaut. Im ersten Schritt, der „Psychoedukation“, wird Verständnis für die Angst im Generellen und der Eigenen im Speziellen geschaffen. „Allein das gibt den Betroffenen schon Kontrolle zurück, insbesondere bei Panikstörungen“, sagt Rother. Im zweiten Teil übermitteln die Psycholog:innen Techniken und Übungen im Umgang mit Angst und Panik. Erst danach werden die Klient:innen nach und nach mit ihren Ängsten konfrontiert. Nachdem sie ersten virtuellen Konfrontationen ausgesetzt waren, werden sie, wenn möglich, auch in reale angstauslösende Situationen begleitet: „Virtuelle Realität ist wie eine Brücke zwischen dem sicheren Praxis-Setting und dem Alltag“, sagt Rother. „Mit Sozialphobiker:innen gehe ich etwa raus auf eine belebte Einkaufsstraße, um Menschen anzusprechen. Bei Personen mit Spinnenphobie arbeiten wir auch mit echten Spinnen.“ Maximilian bekommt von Rother in seinen Therapieeinheiten auch „Hausaufgaben“. „Wenn ich eine Theatervorstellung besuche, soll ich mich etwa in die Mitte des Publikums und nicht am Rand hinsetzen“, erzählt Maximilian.

Ein Nebeneffekt der Immersionen kann „Cybersickness“ sein. Genauso wie bei der Reisekrankheit treten dabei Symptome wie Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen auf. Diese Effekte sind aber nur vorübergehend. Trotzdem ist die VR-Therapie dadurch nicht geeignet für Personen mit Reisekrankheit. Kothgassner empfiehlt virtuelle Immersionen ebenso nicht für Betroffene von akuten psychotischen Zuständen und für Epileptiker:innen.

Blick in die Zukunft

Damit VR-Therapien ihr ganzes Potential entfalten können, wird an noch realistischeren Szenarien gearbeitet. In Zukunft werden wahrscheinlich auch haptische Reize mehr eingesetzt – je mehr Reize, desto wirklichkeitsgetreuer das Erlebnis. Künstliche Intelligenz kann dabei helfen, automatisierte Prozesse zu entwickeln. „Diese Programme sind aber viel aufwendiger, weniger verfügbar und untersucht“, sagt Kothgassner. Johannes Rother sieht künftig weiteres Behandlungspotential in der „Augmented Reality“ (AR) – der „erweiterten Realität“. Bei der AR wird nicht das gesamte Umfeld ausgeblendet, sondern die Realität in Echtzeit um interaktive, dreidimensionale Elemente erweitert. „Bei Tierphobien wäre AR besser geeignet“, gibt Rother zu, aber für eine Anwendung von AR in Praxen fehle es bislang noch an der nötigen Hard- und Software.

Person mit langen Haaren über Abgrund

Gerade bei Höhenangst sind die Therapiechancen mittels VR besonders gut. (c) Phobius

Für Kothgassner sollten die Therapiemöglichkeiten mit VR besser auf Patient:innen abstimmbar werden. Zudem sei es wichtig, entsprechende VR-Software erschwinglicher und somit die VR-Therapie zugänglicher für Praxen und Patient:innen zu machen. Seit Jänner 2024 ist in Österreich die klinisch-psychologische Behandlung eine Kassenleistung. Dadurch können teilweise auch die Behandlungskosten bei Phobius rückvergütet werden. Damit abseits der Angststörungen virtuelle Realität großflächig in Therapien eingesetzt werden kann, wird es laut Kothgassner allerdings noch einige Jahre dauern: „Für viele Störungsbilder braucht es mehr Studien, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit der virtuellen Therapie zu zeigen.“

*Name wurde von der Redaktion geändert