Die Reise nach Innen
Unsere Träume sind Ausdrücke unserer Persönlichkeit, unserer Emotionen und unserer Wünsche. Indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen, erfahren wir mehr über das, was uns antreibt.
Text: Lena Kothgasser-Haider
Foto: Lena Kothgasser-Haider, Jana Reininger/ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Ute Karin Höllrigl ist Psychoanalytikerin und Traumexpertin. Für das Gespräch mit ZIMT lud sie die Autorin in den Zug ein. *
Collage: Jana Reininger/ZIMT Magazin; Foto: Lena Kothgasser-Haider; AI-Generator: Canva
Die Landschaft zieht hinter dem Zugfenster vorbei – das satte Frühlingsgrün der Bäume, die vom vielen Regen schlammbraune Donau und der sonnengelb strahlende Raps. Ich begleite Ute Karin Höllrigl auf ihrem Weg von Wien nach Schrems zur GEA-Akademie. Dort hält die 84-jährige Psychoanalytikerin und Traumexpertin seit 14 Jahren Traumseminare, die Einblicke in unser Inneres und in unsere Wünsche ermöglichen.
Als sie mich bittet, unser geplantes Interview in den Zug zu verlegen, da sie einen Tag früher anreisen möchte, erfülle ich ihr gerne diesen Wunsch. Sie ist sichtlich erfreut darüber, eine Reisebegleitung an ihrer Seite zu haben. Zufall mag sie unsere Begegnung nicht nennen, vielmehr sei es eine „Fügung“, schmunzelt sie und ergänzt: „Ist es nicht schön, ein Gespräch über Träume, über die Reise nach Innen, auf einer Reise, sogar zu einem Traumseminar, zu führen?“
Ute Karin Höllrigl wurde 1939 in Stuttgart geboren, ist in Österreich und in der Schweiz aufgewachsen, Mutter von zwei Kindern und Großmutter von zwei Enkeln. Sie studierte Rechtswissenschaften, war im Strafrecht und Vollzug tätig uns begleitete jugendliche Straftäter:innen. Mit 36 Jahren begann sie ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Höllrigl hat sich in zahlreichen Essays, Vorträgen und Publikationen mit den Träumen beschäftigt. In ihren Traumseminaren und ihrer täglichen Arbeit begleitet sie Menschen dabei, sich mit den Botschaften ihrer Träume zu befassen.
Briefe aus dem Inneren
Die tiefenpsychologische Deutung der Träume sowie die Auseinandersetzung mit dem „Unbewussten“, und damit verbunden unseren verborgenen Wünschen, geht zurück auf Sigmund Freud (1856–1939), den Begründer der Psychoanalyse, und den Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961).
Um einen Traum und die darin enthaltene Botschaft zu deuten, bietet es sich an, seine aktuelle Situation zu hinterfragen.*
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In der analytischen Psychologie gelten Träume als Botschaften unseres Unbewussten an uns selbst. Laut Freuds grundlegender wissenschaftlicher Thesen enthält das Unbewusste verborgene Wünsche, Impulse und Erinnerungen, die unser Verhalten beeinflussen können. Es mache sogar zwei Drittel unseres Bewusstseins aus. C. G. Jung verglich es mit einem Eisberg, bei dem das Bewusstsein lediglich die Spitze ist, die aus dem Wasser ragt. Das Unbewusste hingegen sei viel größer und verberge sich unter der Wasseroberfläche.
Ute Karin Höllrigl begann, sich intensiv mit Träumen und ihrer Bedeutung auseinanderzusetzen, während sie sich selbst einer Psychoanalyse unterzog. Je mehr sie sich mit dem Traumgeschehen beschäftigte, desto intensiver und bereichernder wurde es für sie. „Träume sind Briefe aus dem Inneren“, sagt sie an jenem Nachmittag im Zug. Bei ihren „Traumseminaren“ und in ihrer täglichen Arbeit als Psychoanalytikerin versucht Höllrigl, die Botschaften der Träume zu entschlüsseln. Aus ihrer Sicht sind diese nützliche Hinweise auf aktuelle Lebenssituationen und bevorstehende Entwicklungsschritte.
Um einen Traum und die darin enthaltene Botschaft zu deuten, bieten sich etwa folgende Fragen an: „Warum bzw. wozu wird gerade dieser Traum zu diesem Zeitpunkt geträumt?“, „Was beschäftigt mich momentan?“, „Gibt es Konflikte in meinem Leben, im Außen oder im Inneren?“, „Welche (unerfüllten) Wünsche habe ich?“ Im Mittelpunkt der Traumarbeit steht die träumende Person, ihre aktuellen Lebensumstände und ihre individuellen Bedürfnisse. „Das Traumgeschehen kann dazu eine gegensätzliche, eine vergleichende, eine verstärkende oder eine mildernde Haltung einnehmen“, so Höllrigl. Traumsymbole können sowohl eine kollektive als auch eine individuelle Bedeutung haben. Kollektive Symbole – wie beispielsweise Wasser oder Haus – spiegeln tiefe, universelle Muster wider, die in verschiedenen Kulturen ähnliche Bedeutungen haben können. Individuelle Symbole sind geprägt von den Erfahrungen, Überzeugungen und Emotionen einer Person.
Kollektive Symbole, die kulturübergreifend vorkommen, können auch in Träumen ähnliche Bedeutungen haben.*
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Meine Träume bleiben mir selten gut in Erinnerung, doch seit der Vorbereitung auf dieses Interview scheinen meine Traumbilder klarer zu werden. Während unserer Zugfahrt erzähle ich von einem kürzlich geträumten Traum: Ich treffe zufällig eine Person, mit der ich seit einiger Zeit einen unausgesprochenen Konflikt habe. Die Situation fühlt sich unangenehm an, ich möchte am liebsten den Raum verlassen. Wir sprechen zunächst über Belanglosigkeiten. Dann sage ich plötzlich ganz offen, was mich verletzt hat. Das unangenehme Gefühl in mir weicht einer wohltuenden Wärme. Ute Karin Höllrigl lächelt. „Die Zuversicht steht in diesem Traum im Vordergrund. Er kann ein weiterer Schritt dazu sein, dass eine Versöhnung im echten Leben gelingt.“
In ihrem eigenen Leben haben Träume wiederholt eine entscheidende und richtungsweisende Rolle gespielt. So wie bei ihrer Entscheidung, als Juristin und Mutter von zwei Kindern mit 36 Jahren Psychologie zu studieren. Ein Traum, in dem der Psychiater C. G. Jung vorkam, bestärkte sie darin, beruflich einen neuen Weg einzuschlagen.
Werde die Person, die du bist
In ihren mehrtägigen Traumseminaren begleitet Ute Karin Höllrigl die Teilnehmer:innen bei der Entfaltung ihrer Wünsche und Deutung ihrer Träume. Durch die aktive Auseinandersetzung mit den Träumen soll es gelingen, ein tieferes Verständnis für sich selbst zu entwickeln, neue Einsichten zu gewinnen und innere wie äußere Konflikte zu lösen. „Bevor wir versuchen, den Traum und die darin verschlüsselten Symbole zu deuten, müssen wir uns selbst fragen, was der Traum für uns persönlich bedeutet“, betont Höllrigl. „Träume dienen dazu, uns als Person zu entdecken und zu entfalten. Wir Menschen tragen eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Lebensintensität in uns, danach unser Bewusstsein zu erweitern.“ Diese Lebensintensität, wie Höllrigl es nennt, würden viele im Außen und in materiellen Dingen suchen. Dabei würden wir wahre Zufriedenheit und unser wahres Wesen nur in uns selbst finden. Träume unterstützen uns aus Sicht der Psychoanalytikerin dabei, Talente oder Wünsche zu erkennen und zu leben.
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Höllrigl unterstützt die Teilnehmer:innen dabei, ihre Träume besser zu verstehen, bewusster mit Zweifeln oder Wünschen umzugehen und diese in ihre persönliche Entwicklung einzubeziehen. „Am Beginn des Seminars frage ich die Teilnehmenden stets nach ihrem Herzensanliegen, danach, warum sie hier sind“, erklärt Höllrigl den Ablauf. „Wir arbeiten lösungsorientiert und bleiben dabei im Hier und Jetzt.“ Das Traumseminar eignet sich für jede und jeden, die/der Interesse an einer intensiveren Beschäftigung mit den eigenen Träumen hat.
Die intensive Auseinandersetzung mit unseren Träumen und unserem Unbewussten kann uns einen großen Erkenntnisgewinn bringen, ist jedoch auch mit Risiken verbunden, erklärt Höllrigl: „Unsere Schattenseiten, ich nenne sie auch unsere Gegenspieler, wie Angst oder Zweifel, können im Traum zum Vorschein kommen.“ Ein Traumtagebuch und/oder eine therapeutische oder psychoanalytische Begleitung helfen dabei, persönlich belastende Träume zu verarbeiten. Dafür eignet sich ein handliches Notizbuch neben dem Bett, um einzelne Traumsequenzen oder Bruchstücke zu notieren. „Wir sollten uns zunächst nicht zu sehr auf Albträume konzentrieren“, sagt Ute Karin Höllrigl. „Wichtig ist, uns vor allem mit den Albträumen nicht zu identifizieren und uns stets zu vergewissern: Ich träume!“
Innere und äußere Landschaften
Im Schlaf und in schlafähnlichen Zuständen begibt sich unser Geist auf Reisen. Wie auf einer echten Reise können wir dabei eine andere Version von uns selbst sein und bleiben dabei trotzdem stets die Person, die wir sind. Wir träumen jede Nacht mehrmals. Oft können wir uns daran nicht mehr erinnern oder vergessen den Traum kurz nach dem Aufwachen wieder. Manchmal bleibt ein diffuses Gefühl, eine Ahnung von etwas übrig, dass uns den Tag über begleitet. Pro Schlafzyklus gibt es verschiedene Schlafphasen, darunter die sogenannte REM-Schlafphase (Rapid Eye Movement) in der eine intensive, bunte Traumaktivität stattfindet. Während der Tiefschlafphase sind Träume weniger ausgeprägt oder können sogar ganz fehlen.
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Können wir das Träumen und das Erinnern an die Träume trainieren? „Wenn wir uns unseren Träumen mit einer Ernsthaftigkeit aufmerksam zuwenden, die Tür zur Traumwelt öffnen, werden wir mehr davon erinnern“, so Ute Karin Höllrigl. Die Psychoanalytikerin rät dazu, sich bereits abends beim Schlafengehen darauf vorzubereiten. „Denke zum Beispiel: ‚Morgen werde ich mich an meinen Traum erinnern.‘ Bleib nach dem Aufwachen einen Moment mit geschlossenen Augen liegen, um dem Traumgeschehen nachzuspüren. Notiere dann zumindest ein Wort dazu.“ Ein Traumtagebuch oder auch das Erzählen der Träume unterstützen die Erinnerung.
Warum wir träumen und welchen tatsächlichen Zweck die Träume für uns haben, wird nach wie vor in der wissenschaftlichen Forschung diskutiert. Für Ute Karin Höllrigl sind die Träume eine Bereicherung, die uns dabei unterstützt, ein authentisches, selbstbestimmtes Leben zu führen. „Vertrauen in die Träume zu erlangen, ist ein lebenslanger Weg. Wir bleiben stets Suchende – die Träume dienen uns dabei als Kompass.“
Tipp: Traumtagebuch
Lege ein Notizbuch und einen Stift neben dein Bett. Denke bereits vor dem Einschlafen daran, dass du dich an den Traum der folgenden Nacht erinnern möchtest. Bleibe nach dem Aufwachen noch einen Moment mit geschlossenen Augen liegen und spüre den Traumbildern nach. Mache dann Notizen zu deinem Traum – ein einzelnes Wort oder mehrere Stichworte, Bruchstücke des Traumgeschehens oder längere Beschreibungen. Je aufmerksamer du deinen Träumen gegenüber bist, desto besser wirst du dich daran erinnern.
* Dieses Bildes wurde mithilfe künstlicher Intelligenz hergestellt. Der surreale, neblige Stil des künstlichen Bildes symbolisiert die Eindrücke, die Träume oft hinterlassen.