In ständiger Sorge

Wenn Eltern krank sind, belastet das Kinder besonders stark. In einem Feriencamp sollen sie eine Pause vom Alltag erhalten. Aber reicht das?
Text: Victoria Schwendenwein
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva
Datum: 16. September 2024
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Laura wirkt wie eine aufgeweckte Teenagerin. Die 14-Jährige mit dem blonden Pferdeschwanz schlendert an diesem Vormittag durch die Hafenstadt von Piran. Sie blödelt mit Freundinnen an den Souvenirständen, lacht herzlich und hält die Erinnerungen in Selfies fest, ehe sie sich wieder bei einer größeren Gruppe einfindet, um Eis zu essen. Nach außen hin lässt nichts darauf schließen, dass die Kinder und Jugendlichen, die hier im Rahmen ihres Feriencamps unterwegs sind, nicht immer so unbeschwert durchs Leben gehen.

Laura und die weiteren 24 Kinder der Gruppe zählen zu den schätzungsweise 43.000 jungen Menschen, die in Österreich als Young Carers gelten. Das sind Kinder und Jugendliche, die ein somatisch oder psychisch erkranktes Familienmitglied unterstützen. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Die Arbeiterkammer geht sogar von hunderttausenden Kindern in Österreich aus, die helfen, den Alltag ihrer Familienmitglieder zu organisieren oder Angehörige pflegen. Was sie tun, geht meist aber weit über ein altersadäquates Maß hinaus.

Unterstützung von außen bekommen Young Carers zu wenig. Die Folge davon: Betroffene Kinder und Jugendliche sind psychisch belastet. Entwickeln sich dadurch langfristige mentale Erkrankungen, brauchen auch sie wieder Hilfe von Angehörigen und das Problem wird zum Teufelskreis. Das Juniorcamp des Österreichischen Jugendrotkreuz (ÖJRK) möchte entlasten. Doch wie nachhaltig wirkt die jährliche Reise?

Auch Lauras Psyche hat schon früh gelitten. Sie lebt mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Deshalb leert sich beispielsweise ihre soziale Batterie schneller als bei anderen. Geräusche nimmt sie intensiv wahr. Um den daraus resultierenden Stress zu bewältigen, wird das Mädchen selbst oft laut – sie möchte die Stimmen der anderen durch ihre eigene Lautstärke überdecken. Von ihrer Diagnose hat sie erst als Teenagerin erfahren. Ihre Symptome und die Sorge um ihre alleinerziehende Mutter sind allerdings schon davor zu einem Teufelskreis geraten: Die Mutter ist mit einem Herzfehler geboren. Mamas Krankheitsgeschichte begleitet die Tochter daher, seit sie denken kann.

Hafenstadt mit Booten und schönen Häuserfassaden
Die Tätigkeiten, die Young Carers zuhause machen, gehen meist weit über ein altersadäquates Maß hinaus.

Laura bekommt mit, als die Ärzte die Beschwerden ihrer Mutter nicht ernst genug nehmen, als ihre Mama für eine Zweitmeinung kämpft – und auch als sie vor fünf Jahren auf der Transplantationsliste steht, weil Teile ihres Herzens ersetzt werden müssen. Laura ist neun Jahre alt, als sie mit dem möglichen Tod ihrer Mutter konfrontiert wird. Obwohl die Herzoperation gut geht, werden ihre Verlustängste schier unerträglich.

Um ihrer Tochter zu helfen, setzt sich ihre Mutter für eine psychologische Behandlung ein. In einer Mental-Health-Reha im Kinder-Rehazentrum kokon lernt Laura in einer Kunsttherapie mit ihren Ängsten umzugehen. Damit sie zusätzlich Pause von ihrem Alltag bekommen kann, erzählt ihr Therapeut ihr vom Juniorcamp. Das Angebot verspricht zwei Wochen kindgerechten Urlaub mit sozialpädagogischer Betreuung. Es soll ein Ort sein, an dem Kinder einfach Kinder sein können.

Etwas, worauf man sich freuen kann

Das ÖJRK hat vor 12 Jahren das Juniorcamp ins Leben gerufen. Ziel sei es, betroffene Kinder und Familien zu entlasten, erklärt Projektleiterin Judith Hinteregger. Für die zweiwöchige Vollpension, die mittlerweile in einem Ressort des slowenischen Roten Kreuzes an der Adria ausgerichtet wird, bezahlen die Eltern einen geringen Unkostenbeitrag. Die Hauptkosten werden über Spenden finanziert. Anmelden können sich Young Carers zwischen 10- und 14 Jahren aus ganz Österreich. Doch nicht immer ist es einfach, die Camp-Plätze zu füllen. Wenn Kinder zuhause Mahlzeiten für erkrankte Eltern zubereiten, Wäsche waschen oder jüngere Geschwisterkinder umsorgen, müssen sie erst einmal für die Zeit des Feriencamps entbehrt werden können.

Laura konnte heuer bereits zum vierten Mal ins Camp fahren. Judith Hinteregger freut sich stets über junge Gäste, die wiederholt dabei sind: „Das Camp wird für sie auch zu einer gewissen Konstante, etwas, worauf sie sich im nächsten Jahr freuen können.“ Es gehe dabei darum, ein soziales Netz aufzubauen und zu stärken. Und das tut Laura: Das Juniorcamp ist für sie ein Ort, an dem ihre alltäglichen Sorgen nicht abgetan werden, an dem sie aber auch nicht an zuhause denken will. Ihre Mutter ruft sie während des Camps bewusst nicht an. Trotzdem: „Die Angst, meine Mama zu verlieren, ist ständig da“, erzählt die heute 14-Jährige während sie an einem Strandnachmittag nachdenklich auf die sanften Wellen der Adria blickt.

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben
Im Feriencamp möchte Laura an ihre alltäglichen Sorgen nicht denken.

Um sie herum haben sich die meisten anderen Camp-Teilnehmer:innen in Grüppchen zusammengeschart. Sie spielen Uno, knüpfen Armbänder oder gehen schwimmen. Laura beschließt, sich mit ihren zwei besten Freundinnen im Camp etwas abseits unter eine schattige Laube zurückzuziehen. Die drei kennen sich aus einer früheren Schule. Irgendwann hat Laura festgestellt, dass die beiden anderen Mädchen in einer ähnlichen Situation leben wie sie und die beiden zum Camp eingeladen. Seither kommen sie zu dritt hierher. Anders als etwa in der Schule gäbe es hier Verständnis für ihre Situation. Auch Lauras ASS spielt im Camp kaum eine Rolle. Das umfangreiche Angebot vom Stadtbummel über die Kinderolympiade bis zum täglichen Strandbesuch kann sie annehmen, sie muss es aber nicht. Wenn ihr der Trubel zu viel ist, kann sie sich – wie alle anderen Campteilnehmer:innen auch – zurückziehen. Wenn sie mit einer Vertrauensperson reden möchte, stehen die Betreuer:innen zur Verfügung. „Mit ihnen können wir über alles reden”, meint Laura. Ihre Freundinnen stimmen zu.

Betroffene sehen sich nicht als Zielgruppe

Auch Martin Nagl-Cupal, Pflegewissenschaftler an der Universität Wien, bewertet das Engagement des Roten Kreuzes positiv. Würde es Initiativen wie diese nicht geben, wäre das Angebot zur Entlastung von Young Carers noch dürftiger, als es derzeit ist, zeigt er sich überzeugt. Zwar gibt es Anlaufstellen, wie beispielsweise das Angehörigengespräch des Sozialministeriums oder die Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE) in Wien, diese leisten aber nur punktuelle Unterstützung durch Beratung und keine praktische. Das hingegen tut etwa das Village-Projekt – allerdings nur in Tirol und nur für Familien, in denen psychische und keine körperlichen Erkrankungen den Alltag beschweren.

Um überhaupt an eine solche Beratungsstelle zu gelangen, müssen betroffene Familien erstmal erreicht werden. Das passiert aber in vielen Fällen nicht, denn Young Carers identifizieren sich selbst meist gar nicht als Betroffene. „Für sie ist es selbstverständlich zu helfen, das fällt für sie unter die familiäre Fürsorge, die man als Kind einfach ungefragt gibt“, erklärt Martin Nagl-Cupal. Doch die Pflegeverantwortung schränkt das Wohlbefinden der Kinder ein, beeinträchtigt ihr soziales Leben und kann sich langfristig negativ auf ihre mentale Gesundheit auswirken. Das Problem verstärkt sich, wenn auch die Young Carers selbst medizinische Unterstützung brauchen.

Mit Menschen voll besetzter Theaterraum
Das Junior Camp soll ein Ort sein, an dem Kinder einfach Kinder sein können.

Nagl-Cupal hat sich bereits vor einigen Jahren wissenschaftlich dem Thema Feriencamps für Young Carers gewidmet und darin die ambivalente Gefühlswelt von Kindern herausgearbeitet, die sich einerseits auf einen Urlaub freuen, sich aber andererseits – so wie Laura – darum sorgen, wie es ihrem kranken Angehörigen geht, während sie weg sind. Auch die Phase nach dem Camp knüpfe daran an. Die Kinder kommen entspannt nach Hause, werden aber schnell wieder von den Herausforderungen ihres familiären Alltages eingeholt. Sowohl für die Kinder als auch für die Eltern ist es laut Studie nach einem solchen Camp zunächst eine Herausforderung, in das normal gewordene Familienleben zurückzukehren.

Bei Laura sei es ähnlich, erzählt ihre Mutter. Nach dem Camp könne die 14-Jährige immer noch ein paar unbeschwerte Tage genießen. Jetzt, sechs Wochen danach, habe der Alltag sie wieder fest im Griff, Lauras Fokus liegt auf dem Wohlbefinden ihrer Mama. Deshalb müsse man sie immer wieder auch daran erinnern, auf sich selbst zu schauen. Laura selbst bringt hier die Kunsttherapie wieder ins Spiel, die sie nach dem Sommer wieder regelmäßig besuchen will.

Trotz solcher Erfahrungen attestiert Nagl-Cupals Forschung den Feriencamps einen wichtigen Beitrag zur Erholung von Young Carers. Aus der Studie lässt sich zudem ableiten, dass ein breites öffentliches Bewusstsein zu dem Thema Basis für Unterstützung sein kann. Die meisten der befragten Familien aus der Forschungsarbeit sind nämlich durch Bekannte auf das Angebot zur Entlastung ihrer Kinder aufmerksam geworden. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit hat der Forscher auch schon 2012 in einer Studie für das Sozialministerium empfohlen. Seither würden vereinzelt auch Maßnahmen umgesetzt. Unter anderem wurde über das Gesundheits- und Sozialministerium die Seite young-carers-austria.at sowie eine App eingerichtet. Hier wird online auf Beratungsangebote und Anlaufstellen hingewiesen sowie allgemein über Young Carers informiert. Diese Angebote würden aber wenig genutzt, denn auch hierfür fehle das nötige Bewusstsein.

Person mit langen Haaren über Abgrund
Es wird davon ausgegangen, dass bereits ungefähr zwei Drittel der Young Carers Mädchen sind.

Wichtig wäre, so der Forscher, dass das Gesundheitssystem bei Krankheitsfällen von vornherein auch das familiäre Umfeld mitdenkt. Es gehe darum, frühzeitig gegen die mentalen Belastungen der Kinder vorzugehen, die schwerwiegende Folgen haben können. Die Auswirkungen auf das spätere Leben lassen sich auch in sozialer Hinsicht nicht leugnen. Das beginne schon dabei, dass Betroffene ihre Berufs- und Bildungsentscheidungen oft unbewusst vor dem Hintergrund ihrer Care-Verantwortung treffen, beschreibt Nagl-Cupal. Nicht wenige würden auch im Erwachsenenalter in der Rolle der Pflegenden bleiben und für sich gar keine andere Rolle sehen, als weiterhin Verantwortung für andere zu übernehmen. Das festigt in weiterer Folge traditionelle Geschlechtervorstellungen: Es wird davon ausgegangen, dass bereits ungefähr zwei Drittel der Young Carers Mädchen sind.

Nagl-Cupal plädiert deshalb für kindgerechte Aufklärungsarbeit. Politisch würden Young Carers derzeit ausschließlich zur Gruppe der pflegenden Angehörigen gezählt. Zu oft werde darauf vergessen, dass die sorgenden Hände jene von Kindern und Jugendlichen – und nicht von Erwachsenen sind. Unterstützungsangebote müssten daher vor allem darauf abzielen, dass diese einfach Kind sein dürfen. Deshalb könne auch diskutiert werden, ob nicht das Familien- und Jugendressort besser geeignet wäre, sich ihrer Anliegen anzunehmen, als es derzeit das Sozialministerium ist.

Auch Laura versucht, einfach nur Teenagerin zu sein. Dabei helfen ihr die beinahe täglichen Telefonate mit ihren engsten Camp-Freundinnen. Dennoch hat sie mit ihren 14 Jahren bereits entschieden, welchen Beruf sie später einmal ausüben will. Dafür nimmt sie trotz ihrer ASS-Diagnose viele Anstrengungen in Kauf. In ihre Schule für Sozialberufe fährt sie einen langen Schulweg, denn: „Ich will Ärztin werden. Herzchirurgin.“ Sie will es einmal besser machen als die Ärzt:innen ihrer Mutter in der Vergangenheit.

Quellen

Juniorcamp des Roten Kreuz

Das Juniorcamp 2025 findet von 07. Juli bis zum 20. Juli 2025 statt. Alle Infos dazu sind ab November/Dezember auf http://www.jugendrotkreuz.at zu finden.