Triggerwarnung
Der Artikel enthält explizite Beschreibungen sexueller Gewalt. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.
Meine (ir)rationale Angst vor Männern
Gewalt gegen Frauen steigt an. Ihre Opfer bleiben mit psychischen Folgen zurück. Ein Erfahrungsbericht.
Text: Sophie*
Bilder: Jana Reininger da Rosa/Visual Generation/Vectors Market
Das erste Mal Angst vor einem Mann verspürte ich mit 16 Jahren. Ich war auf dem Nachhauseweg von einem Stadtfest in der nächstgelegenen Großstadt. Es war 21 Uhr. Auf dem Weg zur U-Bahn wurde ich von einem fremden Mann angehalten und in ein Gespräch verwickelt. Ich teilte ihm mit, dass ich erst 16 Jahre alt war und auch kein Interesse an dem Gespräch hatte. Aber das schreckte ihn nicht ab – im Gegenteil: Er versuchte mich zu packen und ich rannte los Richtung U-Bahn-Station. Er hinterher. Dabei wiederholte ich mehrmals laut und deutlich, dass er mich in Ruhe lassen soll. Doch das schüttelte ihn nicht ab und motivierte die vielen umstehenden Menschen auf der Straße auch nicht, mir zu helfen. Als ich die U-Bahn-Station erreichte, konnte ich mich in der Menschenmenge verstecken. Ich blickte zurück und erkannte meinen Verfolger, der mich hektisch in der Menge zu finden versuchte. Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass ich kein Kind mehr war, sondern zu einem (potenziellen) Lustobjekt von erwachsenen Männern geworden bin.
Der Schlüssel in der Faust auf dem Nachhauseweg, der Notruf auf Kurzwahltaste, Pfefferspray in der Jackentasche. Kaum eine Frau kennt das nicht: bestimmte Methoden, die ihnen ein wenig Handlungsmacht und Sicherheit geben können.
Der Schlüssel in der Hand gibt vermeintliche Sicherheit in Angstsituationen.
Dass viele Frauen zu diesen Methoden im Alltag greifen, ist angesichts der aktuellen, erschreckenden Zahlen zu Gewalt gegen Frauen verständlich. Jede dritte Frau in Österreich über 15 Jahren hat laut Statistik Austria bereits Gewalt erfahren. Medienberichten zufolge haben Männer in diesem Jahr bereits 27 Femizide begangen. Diese Morde und die allgemeine Gewalt an Frauen entspringen unterschiedlichen Hintergründen. Meistens sind es Partner, Ex-Partner oder ein männliches Familienmitglied, die als Täter in Erscheinung treten. Eines haben diese Gewalttaten allerdings gemeinsam: Sie werden von Männern gegen Frauen verübt, nur weil sie Frauen sind. Und die Zahl der Gewalttaten steigt und steigt.
Ich will damit nicht sagen, dass alle Männer gewalttätige Frauenhasser sind. Jedoch werden diese Gewalttaten in den meisten Fällen eben von Männern verübt. Ganz nach dem Motto: Not all men, but always a man.
Gewalt lauert überall
Diese Formen von Gewalt ziehen neben körperlichen Anzeichen auch psychische Leiden für Betroffene, wie unter anderem Depressionen, Schlaf- und Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen, nach sich. Auch meine Erfahrungen mit Männern haben zu Panikattacken geführt.
Bereits vor meinem Erlebnis als 16-Jährige habe ich leere Gassen und dunkle Straßen gemieden. Seitdem weiß ich, dass Belästigung und Gewalt gegen Frauen auch an öffentlichen, gut besuchten Orten passieren kann.
Jedoch sind Frauen vor allem in privaten Räumen von Gewalt betroffen. In einer Studie der Statistik Austria aus dem Jahr 2022 gaben 16,41 Prozent der befragten Frauen an, bereits körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partner:innenschaft erlebt zu haben. Körperliche oder sexuelle Gewalt kann verschiedene Dimensionen annehmen. Das Spektrum reicht von der Hand, die „aus Versehen“ den Po oder die Brust streift, dem Festhalten gegen den eigenen Willen, einem Schlag ins Gesicht bei angeblichem „Fehlverhalten” bis hin zu Vergewaltigung und Femizid. Nicht zu untergraben ist, dass Vergewaltigungen auch in der Ehe oder Partner:innenschaft stattfinden können. Jegliche sexuelle Handlung, die gegen deinen Willen passiert, zählt zu sexueller Gewalt und ist strafbar.
Schweigen und Vergessen – Leben in ständiger Angst
Viele Frauen sprechen nicht über ihre Gewalterfahrungen: Einerseits fürchten sie, nicht ernst genommen zu werden, andererseits erkennen sie diese Erlebnisse oft gar nicht als Gewalt an. Das liegt daran, dass Gewalttaten gesellschaftlich häufig rationalisiert werden. „Kein Wunder, dass du belästigt wirst, wenn du mit so einem kurzen Kleid auf die Straße gehst” oder „Was hast du denn erwartet, wenn du dich mit ihm bei ihm zu Hause triffst?“ sind typische Aussagen, die im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen getroffen werden. Die Handlungsmacht wird der Betroffenen zugeschrieben, sodass sie dazu tendiert, sich selbst für die Gewalt, die ihr zugefügt wird, verantwortlich zu machen.
Selbst öffentliche Orte bieten Frauen nicht zwangsläufig mehr Schutz.
So war es auch bei mir. Ich habe mich auf einer Dating-App mit einem Mann verabredet und wir trafen uns in seiner Wohnung. Wir wollten beide zu dem Zeitpunkt keine Liebesbeziehung, hatten das auch so kommuniziert, und wussten, dass es auf eine rein körperliche Beziehung hinauslaufen soll. Wir unterhielten uns im Zuge dessen auch über sexuelle Vorlieben und No-Gos und ich brachte klar und deutlich zur Aussprache, dass ich in jeglichem sexuellen Kontext keine körperlichen Schmerzen, also Schläge, Kneifen, Kratzen usw. erfahren möchte. „Verstehe ich. Ist auch nicht so mein Ding”, antwortete er, woraufhin ich sehr erleichtert war.
Im Laufe des Geschehens stellten wir fest, dass wir keine Kondome parat hatten. Ich machte ihm sofort klar, dass ich ohne Kondom nicht mit ihm schlafen würde. Trotz seinem Bitten und Betteln, ob wir es nicht auch ohne probieren könnten, hatte ich den Eindruck, dass er mein Nein irgendwann akzeptiert hätte. Doch dem war nicht so. Mitten in der Nacht wurde ich geweckt, als er sich über mich beugte und probierte, mich zu vergewaltigen. Ich redete auf ihn ein, dass er aufhören soll und versuchte, ihn von mir herunter zu schieben. Er versuchte hingegen, meine Beine auseinander zu drücken. Als ich mich vermehrt wehrte, schlug er mir mehrmals mit voller Kraft ins Gesicht. Ich brach in Tränen aus. Das schien ihm die Lust verdorben zu haben. Er wandte sich von mir ab, drehte sich um und schlief ein. Ich schlich mich aus der Wohnung und fuhr nach Hause. Am nächsten Morgen schrieb er mir, er würde mich gerne wiedersehen.
Eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt
Seit diesem Zeitpunkt habe ich mich mit keinem Mann mehr über eine Dating-App verabredet. Ich habe verlernt, Männern zu vertrauen, vor allem in intimen Momenten. Obwohl es bereits Jahre zurückliegt, habe ich immer wieder Flashbacks von diesem Abend. Ich erinnere mich allerdings nur an Ausschnitte, da ich das meiste verdrängt habe.
Jedes Mal wenn ein Mann in meiner Nähe wütend, aggressiv oder laut wird, friere ich ein, beginne zu zittern, kriege kaum noch Luft und löse mich ein Stück weit von der Realität. Ich verliere mich in meiner Angst und verfalle im Extremfall in eine Panikattacke. Ich schaffe es nicht, im Dunkeln alleine unterwegs zu sein und begebe mich nicht in Umgebungen, in denen ich alleine mit einem Mann sein könnte. Ich bin seither dabei, diese und andere Gewalterlebnisse aufzuarbeiten, auch in Begleitung einer Therapeutin.
Mit diesen psychischen Folgen bin ich nicht alleine. Viele Frauen haben durch das Erleben von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt mit psychischen Problemen zu kämpfen. In einem Artikel berichtete die Psychiaterin und Forscherin Nilufar Mossaheb im Frühjahr 2024, dass Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, eine „dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung depressiver Störungen, eine vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von Angststörungen und eine siebenfache Erhöhung für posttraumatische Belastungsreaktionen (PTBS)” aufweisen.
Nach traumatischen Gewalterlebnissen fällt es Frauen oftmals schwer, sich auf neue Beziehungen einzulassen.
Gewalttaten gegen Frauen sind keine Seltenheit. Es ist notwendig, dass darüber gesprochen wird, um Frauen den Mut zu geben, sich zu wehren und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ich möchte mit meinen geteilten Erfahrungen zeigen, dass ihr auch mit euren nicht alleine seid. Ich möchte euch dazu ermutigen, über sie zu sprechen und euch bei akut drohender Gewalt durch Partner, Freunde, Familienmitglieder, Bekannte oder Fremde, aber auch bei psychischer Belastung durch erlebte Gewalt, Hilfe zu suchen. Eure Erlebnisse und Gefühle werden ernst genommen.
Meine eigene Erfahrung behielt ich lange nur für mich. Was mir passiert war, verstand ich gar nicht als Vergewaltigung, bis mich mein jetziger Partner darauf hinwies. Das Schlimmste für mich an dem Ganzen ist, dass der Mann von der Dating-App bis heute gar nicht weiß, was er mir angetan hat.
*Die Autorin möchte ihren Nachnamen in der Publikation des Textes nicht nennen. Der Redaktion ist ihre Identität bekannt.
Quellen
- Autonome Österreichische Frauenhäuser (2024). Zahlen und Daten. Gewalt an Frauen in Österreich. Abgerufen am 11.12.2024 von https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten
- Mossaheb, Nilufar. 2024. Gewalt gegen Frauen und ihre psychischen Auswirkungen. Warum es wichtig ist, danach zu fragen. psychopraxis.neuropraxis, Ausgabe 2/2024, https://www.springermedizin.at/gewalt-gegen-frauen-und-ihre-psychischen-auswirkungen/27070566
- Statistik Austria. (2022). Jede dritte Frau von Gewalt betroffen. Pressemitteilung 12 943-241/22. Aufgerufen am 02. Dezember 2024, von https://www.statistik.at/fileadmin/announcement/2022/11/20221125GewaltgegenFrauen.pdf
Wenn du von Gewalt betroffen bist, findest du unter folgenden Telefonnummern Hilfe:
24-Stunden Frauennotruf: + 43 1 71 71 9 – rund um die Uhr erreichbar, auch an Sonn- und Feiertagen
Österreichweite Frauenhelpline gegen Gewalt: 0800 222 555
Auf diesen Websites findest du weitere Informationen: