Wetten, du verlierst?

Satte Gewinne auf der einen, Schulden auf der anderen Seite. Glücksspiel treibt jährlich Tausende Menschen in Suchterkrankungen mit gravierenden Folgen. Warum werden gefährdete Menschen nicht geschützt?

Text: Karina Grünauer
Bilder: Wiebke Bolduan

Datum: 8. Oktober 2024
Illustration Mensch geht ins Casino, Spielkarten und Münzen fliegen ihm hinterher

Ein Mann in einem grauen Anzug fährt eine Rolltreppe herunter. Zielstrebig geht er zu einem Casinotisch. Einige Minuten beobachtet er das Spiel, dann setzt er sich dazu. Er bestellt Jetons für 10.000 Dollar und steigt in das Blackjack-Spiel ein. Immer wieder murmelt er vor sich hin. Nach einigen Runden hat er den Haufen Jetons vervielfacht und noch bevor ihn die Spielaufsicht des Spiels verweisen kann, ist sein Platz leer – und er um viele Tausend Dollar reicher.

So einfach, wie es im Film Hangover aussieht, stellt es sich Thomas auch vor, sein Bankkonto aufzufüllen. Mit 17 Jahren kommt er zwar noch nicht durch die Einlasskontrolle des Casinos, dafür trainiert er seine Fähigkeiten online. Über den Account eines Bekannten steigt er bei Online-Casinos ein. Der Ehrgeiz, gewinnen zu wollen, kostet ihn schnell sein komplettes Lehrlingsgehalt.

Mit der Volljährigkeit wechselt er ins „echte“ Casino. „Die ersten Male, als ich im Casino war, hatte ich Glück. Da habe ich zwei, dreihundert Euro gewonnen und dachte: ‚Das funktioniert jetzt immer so.‘ Aber so war es nicht.“ Die Faszination des Casinobesuchs, sich in Schale zu werfen, in eine andere Rolle zu schlüpfen, macht das berauschende Gefühl vollkommen und lässt Thomas schnell seine Verluste vergessen. Bereits am Beginn eines jeden Monats ist sein Gehalt nach wenigen Casinobesuchen von seinem Konto verschwunden. Erst als der Bankberater aufgrund seines überzogenen Kontos Thomas‘ Eltern aufsucht, gerät er zum ersten Mal in Erklärungsnot.

So wie Thomas geht es allein in Österreich schätzungsweise über 300.000 Menschen, für die der Kick nach dem Gewinn problematisch oder sogar zur Sucht geworden ist; die Dunkelziffer ist vermutlich aufgrund des großen Tabus, sich zu einem problematischen Spielverhalten zu bekennen, bedeutend höher. Zu groß ist die Scham zuzugeben, dass Spiele oder Wetten zu einer existenzbedrohenden Verschuldung, physischen Problemen wie Schlafstörungen und Erschöpfungszuständen, sozialer Isolation, sowie Auswirkungen auf die Psyche wie Depressionen, Angststörungen bis hin zu Suizidalität geführt haben können.

Comicstrip: Mensch sitzt vor einem PC und spielt Online-Games. Dann geht er ins Casino.

Das Online-Casino ist für Thomas nur der Einstieg. Sein Ziel ist das Casino im wahren Leben.

In Österreich ist Glücksspiel vor allem männlich: Laut einer repräsentativen Befragung der Gesundheit Österreich gaben im Jahr 2022 12 Prozent der Männer an, in den letzten 30 Tagen mehrmals wöchentlich an Glücksspielen und/oder Sportwetten teilgenommen zu haben, unter den Frauen lag der Wert bei 6 Prozent. Gerade junge Männer erhoffen sich, schnell das große Geld zu gewinnen. So geraten sie, laut Iris Ledoldis, Sozialarbeiterin bei der Spielsuchthilfe in Wien, binnen kürzester Zeit in eine existenzbedrohende Abwärtsspirale, die neben der hohen Überschuldung zu Wohnungs- und Arbeitsplatzverlust, sowie auch im Privaten zu Trennungen und Vereinsamung führe. „Das verdanken wir unserem konservativen Männerbild in der Gesellschaft, ganz im Sinne des Machers, des Checkers, des Familienernährers. Bei dem gesellschaftlichen Druck verwundert es nicht, dass viele dieses Ziel, ohne zu arbeiten an viel Geld zu kommen, erreichen wollen.“

Statt dem großen Geld das große Loch

Studien zeigen, dass vor allem schnelle Glücksspiele wie beispielsweise Spielautomaten den größten Risikofaktor für die Entwicklung eines problematischen Spielverhaltens darstellen. Aber auch biografische Merkmale wie etwa bereits bestehende Glücksspielprobleme in der Familie verstärken die Gefahr. Zu Beginn unterstützen Thomas‘ Eltern ihn noch, versuchen ihm zuzureden, dass die Aussicht auf den hohen Gewinn nur Schein ist, stecken ihm zunächst Geld zu, damit er seine Rechnungen begleichen kann.

Doch das Geld, das Thomas bekommt, bleibt nicht lange in seinem Besitz. Mit 20 Jahren ist der Oberösterreicher bereits um mehrere Tausend Euro verschuldet. Vor allem das Kartenspiel Black Jack lockt ihn ins Casino, bis er sich zu seinem eigenen Schutz bei den Casino Austria Spielbanken sperren lässt. Was anfänglich ein guter Ausweg scheint, stellt sich jedoch als Tropfen auf dem heißen Stein heraus. Denn wer sich beim österreichischen Monopolisten sperren lässt, darf zwar nicht mehr in den Spielhallen der CASAG, zu der die Casinos Austria, die Österreichischen Lotterien sowie die Onlineplattform win2day gehören, zocken gehen, die Sperre gilt aber nur für dieses eine Unternehmen. Weitere Glücksspielanbieter wie Novomatic verlangen jeweils eine eigene Sperranzeige. Lisa Brunner, Obfrau der Österreichischen ARGE Suchtvorbeugung, zweifelt daher an der Wirksamkeit des österreichischen Systems der individuellen Selbstsperre: „Es ist erstaunlich, dass eine Person, die eine diagnostizierbare Abhängigkeit hat, selbst dafür Sorge tragen muss, nicht mehr zu spielen, indem sie sich bei allen Anbietern selbst sperren lassen muss. Bei Online-Games geht nicht mal das.“ In anderen Ländern, wie Deutschland oder Dänemark, gibt es eine zentrale Datenbank, die die Eintragung in eine landesweite anbieter- und spielformübergreifende Glücksspielsperre überträgt. Dass da das österreichische System keine Hilfestellung wie bei anderen gesundheitspolitischen Themen gäbe, findet Brunner unverantwortlich.

Iris Ledoldis (Credits: Iris Ledoldis) und Lisa Brunner (Credits: Julian Moise) 

Online steht Thomas die Gambling-Welt offen, und auch unmittelbare Glücksspielanbieter in den Nachbarländern nehmen ihn gerne auf. „Auf die Idee bin ich selber gar nicht gekommen. Wir saßen mit ein paar Freunden zusammen, da meinte einer: ‚Fahren wir nach Tschechien ins Casino?‘ War ja nur eine gute Stunde Fahrt“, erinnert sich Thomas. Obwohl seine Freunde um das problematische Spielverhalten wissen, sehen sie den Casinobesuch als unbedenkliche Freizeitbeschäftigung. Thomas bleibt am Spieltisch, bis er nur mehr fünf Euro für den Parkscheinautomaten in der Tasche hat. Zu groß ist für Thomas der Zwang zu spielen, bis der letzte Cent den letzten Funken Hoffnung auf einen Gewinn erstickt hat. Er ist sicher:

„Die Casinos würden nicht so gut laufen, wenn es die Spielsüchtigen nicht gäbe.“

Thomas‘ Vermutung bestätigt auch Lisa Brunner. Sie weiß aus der Praxis, dass zwar diejenigen, die pathologisch spielen, es tun, um Stress abzubauen, Probleme zu bewältigen oder um sich abzulenken, ein großer Teil der Verantwortung sei aber in den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu finden. Die wenigen Personen, die Hilfsangebote in Anspruch nähmen, seien im Normalfall ohnehin sehr selbstreflektiert – und kämen oftmals mit einem sehr hohen Leidensdruck und einem stark belasteten Umfeld. Brunner geht ebenfalls davon aus, dass das Hauptgeschäft mit den pathologischen Spieler:innen gemacht werde:

„Die Argumente, warum aus gesundheitspolitischer Sicht keine Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Menschen zu schützen, sind wirtschaftliche.“

Die Marktanalysen des Branchenradars zu Glücksspiel und Sportwetten verzeichnen allein in Österreich seit Jahren Spielerträge in Milliardenhöhe.

Ein Markt für die Spielsucht

Die österreichische Regierung scheint sich der Schwächen der aktuellen Gesetzgebung durchaus bewusst zu sein. Bereits seit Februar 2021 liegt dem Ministerrat ein umfassendes Paket mit zahlreichen Neuregelungen des Glücksspielgesetzes vor, das ebenfalls das hohe Suchtpotenzial des Glücksspiels als ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko berücksichtigen soll. Demnach soll Werbung für Glücksspiel in Anlehnung an das Tabakwerbeverbot massiv eingeschränkt werden. Gleichzeitig soll eine anbieterübergreifende Sperrdatei eingerichtet werden, damit Betroffene sich plattform- (online und offline) sowie betreiberübergreifend an nur einer Stelle sperren lassen können, nach dem Vorbild anderer europäischer Länder wie Dänemark oder Deutschland. Eine Abstimmung zur Vorlage fand bisher nicht statt.

Problematisch sei vor allem der unregulierte Markt, ist sich Thomas Forstner, Generalsekretär der Österreichischen Vereinigung für Wetten und Glücksspiel (OVWG) sicher. Gerade der Online-Gaming-Markt wächst laut einer aktuellen Studie der BDO Austria GmbH Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft EU-weit mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von mehr als 21,0 Prozent rasant. Dass ein solches Feld nicht nur seriöse Anbieter anzieht, war zwischenzeitlich auch ein Thema seitens der EU-Kommission, die sich angesichts des wild wuchernden Onlineangebots bereits 2015 um den mangelnden Konsumentenschutz sorgte. Denn viele Anbieter haben ihren Sitz in Drittländern, eine seriöse übergeordnete Kontrollstelle fehlt. Bis dato plant jedoch auch die EU keine weiteren übergeordneten Schutzmaßnahmen. Forstner meint, dass eine Neuregulierung des Marktes für Onlineglücksspiel mit entsprechenden Lizenzvergaben, die den steuerlichen und rechtlichen Rahmen für Glücksspielanbieter festlegen, wie es in vielen europäischen Ländern erfolgreich umgesetzt wurde, der beste Weg sei, um Konsument:innen besser schützen, aber auch um Steuern und Abgaben besser kontrollieren zu können.

Laut österreichischem Glücksspielgesetz sind Anbieter dazu verpflichtet, Menschen mit problematischem Spielverhalten anzusprechen und ein aufklärendes Beratungsgespräch, das über die Gefahren der Spielteilnahme und der möglichen Gefährdung des Existenzminimums hinweisen soll, zu führen. Auch Thomas wurde zweimal von Mitarbeiter:innen der Casino Austria auf sein Spielverhalten angesprochen – gebracht hat das nichts. Der Oberösterreicher hat sich beim Spielen zwar immer wieder Limits gesetzt, sobald jedoch das Bargeld aufgebraucht war, räumte er sein Konto per Bankomatkarte leer. Hatte er diese nicht dabei, so kam er am folgenden Tag wieder. Spielen konnte er schließlich trotz seiner Selbstsperre: Wenn der Drang zu groß wurde, fuhr er nach Tschechien, Ungarn. So ging es schnell rauf mit den Schulden. Die Unterstützung durch die Familie blieb trotz des schwierigen Verhältnisses aufgrund seiner finanziellen Lage und den damit verbundenen Streitereien nicht aus. Zwar erhielt Thomas kein Geld mehr, Lebensmittel bekam er jedoch immer vor die Tür gestellt.

Comicstrip: Mensch mit Sonnenbrille sitzt im Casino, liegt im Bett kann nicht schlafen, denkt immer wieder an das Spiel

Das Spiel verfolgt Thomas bis in seine Träume. Er kann an nichts anderes mehr denken.

Für viele ist dann eine Schuldnerberatung der letzte Ausweg vor dem Zusammenbruch. „Zwar sind unter den Menschen, die zu uns kommen, maximal drei Prozent von einer klassischen Spielsucht betroffen“, so Gudrun Steinmann, Leiterin der Abteilung Finanzbildung in der Schuldnerberatung des Fonds Soziales Wien (FSW). „Die Spielsucht ist oftmals nur eines von mehreren Problemen, die zusammenkommen, zum Beispiel in Kombination mit einer gescheiterten Selbstständigkeit, Arbeitslosigkeit, mangelnden Finanzbildung oder einer anderen Suchterkrankung, wo das Spielen dazu beitragen soll, schnell die finanziellen Probleme zu lösen.” Zudem würden die Schuldner:innen immer jünger.

Frühes Spiel: problematisch oder Prävention?

Gerade die Normalisierung des Glücksspiels, „so wie es in der Bevölkerung als unterhaltsames, harmloses Freizeitvergnügen dargestellt wird“, erachtet Iris Ledoldis als problematisch. So können auch Spiele-Apps mit In-App-Käufen einen Einstieg in das Spiel mit Geld bedeuten. Jedenfalls könne so das Erreichen eines bestimmten Levels oder der Besitz bestimmter Symbole oder Tokens im Rahmen eines Online-Games als Statussymbol gewertet werden. In einer repräsentativen Studie der Uni Graz aus dem Jahr 2023 gaben über 55 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 19 Jahren an, Geld für In-Game-Käufe ausgegeben zu haben. Online-Spiele weisen zudem viele glücksspielähnliche Elemente auf. Gleichzeitig definieren viele Spiele ihre eigene Währung, der Bezug zum realen Geld dahinter wird geringer – das nächste Level ist nur mehr einen In-App-Kauf, einen Wisch entfernt.

Prävention im Sinne fachlicher Aufklärung um die Gefahren, große Infokampagnen, so wie sie häufig vonseiten der Politik gefordert und von Glücksspielanbietern gerne werblich umgesetzt würden, belegt die Forschung als nicht zielführend. „Wissen schützt nicht vor einer Abhängigkeitserkrankung. Lebenskompetenzförderung, Life Skills hingegen, das sind protektive Faktoren, die wirklich vor Sucht, Gewalt und Suizid schützen“, erläutert Lisa Brunner. Trotzdem sei Spielen in den meisten Fällen einfach nur ein schönes Hobby, beruhigt sie.

Gudrun Steinmann (Credits: FSW) und Thomas Forstner (Credits: Lars Ternes / Businessfoto.wien)

Für Thomas wird das Hobby zum maßlosen Zwang. Bereits am Tag nach dem Gehaltseingang hat er keinen einzigen Cent mehr in der Tasche. Er ist tief verschuldet, verkriecht sich monatelang vor dem Fernseher. Nach zwei Delogierungsbescheiden und einigen Monaten ohne Strom zieht er die Notbremse. Er kümmert sich um eine Unterstützung durch Sozialarbeiter und beschließt, aus seinem gewohnten Umfeld in Oberösterreich nach Wien zu ziehen, um einen Neustart zu wagen. Er weiß noch:

„Der Status Quo zu dem Zeitpunkt war für mich einfach nicht mehr lebenswert. Ich habe einfach irgendetwas gebraucht, in dem ich wieder Hoffnung finde und meine Sorgen zurücklassen kann.“

Im August 2022 nimmt er Kontakt mit der Spielsuchthilfe auf. Mit Hilfe von Einzel- und Gruppentherapie sowie ärztlicher Begleitung lernt er wieder seinen Alltag zu bestreiten. In Wien bekommt er eine neue Anstellung, seine Schulden tilgt er mit Hilfe eines privaten Kredits aus seinem familiären Umfeld.

„Schwer zu glauben, dass ich schon seit einem Jahr nicht mehr gespielt habe. Einerseits fühlt es sich an wie eine Ewigkeit, dass ich zur Gruppentherapie gehe. Andererseits ich bin sehr stolz, dass ich es wirklich durchgezogen habe. Ich kann mein Leben wieder genießen, habe seit Ende März eine eigene Wohnung. Das hat auch natürlich mehr Lebensqualität.“ Oder wie Gudrun Steinmann sagen würde: „Hinfallen kann jeder, aber es ist wichtig, aufzustehen, wieder nach vorne zu schauen und den Weg weiterzugehen.“

 

Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordination Wien entstanden.

Unterstützungsangebote für Menschen mit problematischem Glücksspielverhalten, Glücksspiel- und Sportwettensucht und deren Angehörige findest du hier:

genuggespielt.at – Programm der Sucht- und Drogenkoordination Wien für Menschen mit Spielsucht

spielsuchthilfe.at – Onlineberatung und Selbsttest

Eine umfassende Übersicht aller Hilfsangebote österreichweit findest du hier auf der Website des Bundesministeriums für Finanzen

 

Quellen und weiterführende Informationen: