Zurück auf Null: Die Rückkehr der Size Zero

Während die Body Positivity dem wieder aufblühenden Schlankheitswahn weicht, sind Menschen mit Mehrgewicht zunehmend mit Diskriminierung konfrontiert.

Text: Edina Rainer
Collagen: Jana Reininger da Rosa / ZIMT Magazin

Datum: 14. Juli 2025
Illustration: Männlich gelesene Figur umarmt weiblich gelesene Figur, sie drückt ihn mit der Hand weg

Maria ist 12 Jahre alt, als sie ihren Mitschüler:innen eine erschreckende Nachricht überbringt: „Ich habe nur noch drei Jahre zu leben”, sagt sie. Die Augen der anderen Kinder werden groß und Maria glaubt fest daran, die Wahrheit zu sagen. Schließlich hat das der Kinderarzt im Krankenhaus zu ihr gesagt, der ihrer Mutter anschließend dazu geraten hat, die Tochter in einem Abnehmcamp anzumelden. Woran sich Maria heute mit 24 Jahren am meisten erinnert, wenn sie an diesen Moment zurückdenkt, ist nicht ihre eigene Angst, sondern die ihrer Mutter. „Heute kann sie sich gar nicht mehr daran erinnern, wahrscheinlich hat sie es verdrängt”, sagt sie. 

Schon als Kleinkind wiegt die Niederösterreicherin mehr als die meisten Gleichaltrigen, ihre normschlanken Eltern bringen sie von Mediziner:in zu Mediziner:in. „Die meisten von ihnen sagten immer das Gleiche: Kaloriendefizit und Sport. Den genauen Grund für mein Gewicht konnte keiner nennen.” Die Schülerin fühlt sich unsicher und verwirrt, denn eigentlich erfährt sie in ihrem Alltag keinerlei Einschränkungen. In ihrer Freizeit fährt sie gerne Rad und geht schwimmen. „Ich war ein normales Kind, halt einfach dick”, sagt sie über sich selbst. Auf Wunsch ihrer Mutter beschließt die 12-Jährige, an einem Abnehmcamp teilzunehmen. Es ist das erste von insgesamt drei Malen.  

Zurück zum Schlankheitswahn

35 Prozent der Österreicher:innen gelten als übergewichtig – zumindest, wenn es nach den Zahlen des Body-Mass-Index (kurz BMI) geht. Das ist ein Maßstab, der bei ärztlichen Untersuchungen zur Einschätzung gesunder Gewichte verwendet wird. Das Verhältnismaß wird heute stark kritisiert, unter anderem wegen seiner Entstehungsgeschichte. „Der BMI war nie ein Maß für Gesundheit. Die Grenzen sind willkürlich gesetzt und haben für die Gesundheit eines Menschen keine Aussagekraft”, sagt Elisabeth Lechner, Kulturwissenschaftlerin am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Wien. Lechner forscht im Bereich der feministischen Medienwissenschaft und der Body- und Gender Studies. In ihrem Buch Riot don’t Diet befasst sie sich mit Gewichtsdiskriminierung und Body Positivity, spricht mit Aktivist:innen und Betroffenen. Auch die Österreichische Adipositas-Gesellschaft (ÖAG), eine medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft, die sich für die Forschung, Behandlung und Entstigmatisierung von Adipositas einsetzt, äußert sich kritisch zum BMI. Der Verein empfiehlt andere Maße wie den Bauch- und Taillenumfang für medizinische Beurteilungen.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält sich beide Hände vors Gesicht, im Hintergrund gehen Personen vorbei

Maße wie der Körperfettanteil oder das Fitnesslevel geben ein realistischeres Bild des Gesundheitslevels wieder als der reine Gewichtswert, auf dem der BMI beruht.

Die Studienlage weist darauf hin, dass Maße wie der Körperfettanteil oder das Fitnesslevel die eigene Gesundheit besser voraussagen können. Trotzdem gilt der BMI nach wie vor als gängiges Maß zur Diagnose von Adipositas. Lechner erklärt, dass der BMI ursprünglich für die Versicherungswirtschaft entwickelt wurde, um Lebensversicherungen zu berechnen. Anfang der 2000er wurden auf Druck der Diätindustrie die Grenzwerte bei Frauen heruntergesetzt – ein Druck zur Schlankheit, dem wir uns heute erneut annähern.

In den letzten Jahren kämpfte die sogenannte Body Positivity innerhalb und außerhalb des Internets dafür, dass alle Körperformen als gleichwertig anerkannt werden. Die Bewegung rief zu mehr Selbstliebe und Akzeptanz auf und wollte Diskriminierung aufgrund des Aussehens abschaffen. Nun scheint diese soziale Bewegung einem Trend zu weichen, demzufolge möglichst dünne Körper als wertvoll erachtet werden. Unter dem Hashtag SkinnyTok kursieren gefährlich dünne Frauenkörper im Internet, die an die Schlankheitsideale der 1990er-Jahre erinnern. Die Folgen dessen spüren vor allem jene Menschen besonders schnell, die nicht diesen Körpertrends entsprechen. Menschen mit Mehrgewicht werden sowohl im Internet als auch im Alltagsleben verstärkt stigmatisiert, ihre mentale Gesundheit kann dadurch stark beeinträchtigt werden. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen treten bei ihnen verstärkt auf.

Body Shaming on-  und offline

Maria ist eines von vielen Kindern in Österreich, die anhand des Body-Maß-Index für übergewichtig erklärt werden. Immer wieder wird sie bereits in frühen Jahren wegen ihres Aussehens diskriminiert, muss zuhören, wie Fremde sie etwa als „Gehsteigpanzer” beschimpfen. Ohne darauf Einfluss nehmen zu können, wird ihr Körper zur Angriffsfläche. In der Schule wird sie aufgrund ihres Aussehens gemobbt, auch als Erwachsene muss sie sich immer wieder respektlose Kommentare zu ihrem Gewicht anhören.

Selbst im Abnehmcamp werden die Kinder immer wieder wegen ihres Aussehens stigmatisiert. Während sie fasten und sporteln, findet am selben Ort ein reguläres Sommercamp statt, ohne derartige Einschränkungen. „Das Thema Essen war bei uns allen sehr präsent. Die Kinder vom Sommercamp durften essen, wie viel sie wollten, und hatten eine Reihe lustiger Aktivitäten. Wir mussten uns beim Essen von ihnen abschotten“, erzählt Maria. Ihr und den anderen Teilnehmenden soll beigebracht worden sein, auf jegliche Kohlenhydrate zu verzichten, sich strikt auf Obst und Gemüse zu konzentrieren. Die täglichen Portionen werden streng rationiert, weswegen Maria sich hin und wieder Frühstücksweckerl ins Zimmer schmuggelt. Sie wird erwischt und kommt mit einer Verwarnung davon. Die Gewichtsveränderungen bei den Kindern werden einmal wöchentlich gemessen, Maria erinnert sich noch genau daran: „Die Reaktionen beim gemeinsamen Wiegen waren absurd, es wurde laut geklatscht, gejubelt und geheult”, erzählt die 24-Jährige, der heute fast 244.000 Menschen auf Social Media folgen, um ihre Gedanken rund um Körperbilder, Mode und Kochen zu verfolgen. 

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen

Maria steht auf ihrem Social-Media-Profil für Body-Positivity ein und zeigt ihren Körper trotz der Vielzahl an Hasskommentaren.

Solche Szenen sind typisch, denn das gemeinsame Wiegen gehört in den meisten Abnehmcamps zum Programm. Verena Kunz, Ernährungswissenschaftlerin und Betreiberin von Hip Teens, einem ehemaligen Kärntner Abnehmcamp, erinnert sich auch bei ihrem Camp an emotionale Momente: „Beim gemeinsamen Wiegen flossen die Tränen. Die Kinder hatten einen unheimlich großen Druck, abzunehmen.” Sieht man sich frühere Werbeangebote von Abnehmcamps an, scheint es, als würden diese die Freude am Sport und den Spaß in den Ferien an erster Stelle stellen. Wie Kunz erklärt, entspricht das meistens nicht der Realität: „Die Kinder waren da, um abzunehmen, Spaß und Ferien gerieten da in den Hintergrund. Mittlerweile ist es fünf Jahre her, dass Kunz und ihr Ehemann im Jugendhotel ihrer Schwiegereltern Abnehmcamps für Kinder und Jugendliche veranstaltet haben, nachdem ein ehemaliger Camp-Anbieter abgesprungen war. Die Betreuung der Kinder sahen Kunz und ihr Mann damals als große Herausforderung: „Die Kinder und ihre Familien sind oft aus verschiedensten sozialen Schichten, manche sind sensibel und fühlen sich schnell unwohl, andere erleben zum ersten Mal Freundschaften.” Auch Maria berichtet von Freundschaften während des Abnehmcamps: „Man fühlt sich miteinander verbunden, und beim Abendprogramm hatten wir immer Spaß miteinander.” 

Im Laufe der Zeit merkt Maria, dass sie nicht die einzige ist, die unter dem Abnehmdruck leidet. Sie erinnert sich an einen Jungen, der bereits zum sechsten Mal teilgenommen hat und versucht haben soll, aus dem Camp zu flüchten. Ihrer Mutter gegenüber zeigt sie sich zuversichtlich, als sie mit ihr während der erlaubten Handyzeit telefoniert. Morgens um 6:30 Uhr beißt sie sich durch den Morning Run oder durch das Zirkeltraining am schattenfreien Hartplatz. Am Ende der drei Wochen hat sie Gewicht verloren und darf nun wieder ins lang ersehnte Zuhause. Doch so schnell wie die Kilos fliegen, kommen sie auch wieder zurück. Genauso wie alle anderen Kinder nimmt Maria bereits nach kurzer Zeit wieder zu, so auch bei den anderen beiden Malen. Das ist keine Seltenheit. Mehr als 80 Prozent der Diäten scheitern, erklärt die Diätologin Isabella Bersenkowitsch, die die Abnehmcamps, genau wie andere Ernährungswissenschaftler:innen, stark kritisiert.

Auch bei Hip Teens gelingt es den Teilnehmenden nicht, ihr Gewicht danach langfristig zu halten. Kunz und ihr Mann stehen den Camps heute kritisch gegenüber. Als es während der Coronapandemie aufgrund des Social Distancings nicht mehr möglich ist, Hip Teens in Kärnten durchzuführen, beginnt Kunz, sich auf Onlineberatungen, Kurse und Workshops zu fokussieren. Mit dem neu gewonnenen Abstand zu ihren Camps, beginnt sich ihre Einstellungen diesen gegenüber zu wandeln: „Bei den Camps habe ich gesehen, dass sich bei den Kindern und den Familien selbst nie wirklich etwas verändert hat. Bei den Online-Seminaren hingegen sind die Eltern meist voller Begeisterung involviert, und geben auch ein besseres Feedback”, sagt Kunz. Heute ist Kunz sich sicher: Psychische Komponenten kommen im Camp zu kurz. 

„Die Camps schaden mehr, als sie helfen. Ich verstehe die Intention, dass man helfen will, aber der Weg führt nicht zum Ziel. Die Kinder lernen früh, dass sie nicht richtig sind, so wie sie sind”, sagt die Diätologin Isabel Bersenkowitsch. Auch Maria erkennt, dass Abnehmcamps keine Lösung für die Gesundheit bieten. „Viele der Teilnehmenden waren mollige Kinder, deren Gewicht sich mit der Zeit von selbst reguliert hat. Einige der schwereren sehe ich heute immer wieder, nur bei Wenigen hat das Camp geholfen”, berichtet sie. 

Das Angebot an Abnehmcamps schwindet heute stark, die Kritik überwiegt. Kunz und ihr Mann versuchen deshalb, bei Hip Teens stärker auf psychische Aspekte einzugehen und das Abnehmcamp in ein „Motivationscamp“ zu verwandeln. Anstatt sich auf Gewichtsreduktion zu fokussieren, setzen sie auf einen gesunden Lebensstil mit einem unterstützenden Umfeld. „Die Kinder sollen selbst motiviert sein, einen langfristig gesunden Lebensstil zu entwickeln. Wir haben auch überlegt, ein Eltern-Kind-Camp zu veranstalten, um das Umfeld aktiv mit einzubeziehen”, sagt sie. Doch die Maßnahmen wurden nicht eingeführt, denn die Eltern seien nicht an Motivationscamps interessiert, so Kunz. Im Jahr 2020 beschließt sie, vorerst keine Camps mehr zu betreiben und sich vorerst auf Eltern-Workshops und das Schreiben von Ratgebern zu fokussieren.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen

Das Streben nach normschönen Körpern in den 1990er Jahren ließ auch Abnehmcamps für Jugendliche florieren. Mittlerweile wird ihr Ansatz kritisch betrachtet.

Auch das Camp, das Maria besucht hat, wurde mittlerweile abgeschafft. Obwohl umstrittene Camps weniger werden, scheinen sich die Einstellungen gegenüber schwereren Körpern nicht zu bessern.

Mehrgewicht, mehr Faktoren

Diätprogramme scheitern, weil die Ursache für das Mehrgewicht mehr als nur Ernährung ist. Sie reicht von einem ungesunden Lebensstil bis hin zu Gendefekten, Schlafstörungen und Nebenwirkungen von Medikamenten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält fest, dass auch der soziale Status und das Geschlecht mit der Gewichtszunahme zusammenhängen. So ist Adipositas in Ländern mit hoher sozialer Ungleichheit verbreiteter, vor allem bei Frauen und Kindern. „Wenn ich viel Ressourcen, also Zeit und Geld, habe, in meinen Körper zu investieren, habe ich eher die Chance, mein Aussehen in Richtung normschön zu verändern. Wer öfter Schicht arbeiten muss, von Armut betroffen ist, sich keine Kinderbetreuung oder das frische Bio-Gemüse leisten kann, hat es viel schwerer. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die hier zusammenspielen”, erklärt Elisabeth Lechner.

Auch die Österreichische Adipositas-Gesellschaft bemüht sich darum, auf soziale Risikofaktoren aufmerksam zu machen: „Übergewicht ist eine Erkrankung der sozialen Gesellschaft, die Menschen mit Migrationshintergrund oder Kinder aus Haushalten mit geringem Einkommen zum Beispiel besonders treffen kann. Die Betroffenen brauchen keine Verurteilung oder Stigmatisierung, sondern medizinische und therapeutische Hilfe”, betont Cavini. Die Dringlichkeit um Aufklärung und eine passende Behandlung sind hoch. Immerhin wird Mehrgewicht mit mehr 100 Folgeerkrankungen in Verbindung gebracht, etwa Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme oder Krebs. Die Lebensdauer kann dadurch um bis zu zehn Jahre verkürzt werden, was der Prävention und Therapie von Mehrgewicht einen erheblichen Stellenwert verleiht. Im Jahr 2019 fielen deshalb etwa fünf Prozent aller Gesundheitskosten in Österreich auf die Behandlung von Adipositas, aktuellere Zahlen gibt es bis dato noch nicht.

Menschen mit Mehrgewicht können nicht nur körperlichen, sondern auch psychischen Folgen ausgesetzt sein. Eine Studie der Medizinischen Universität Wien aus dem Jahr 2023 belegt, dass Menschen ein zweieinhalb mal höheres Risiko für depressive Episoden haben als Normalgewichtige. Auch Angststörungen, bipolare Störungen oder Essstörungen treten bei ihnen häufiger auf. Forschungen zeigen, dass Stigmatisierung und Diskriminierung dabei wesentliche Risikofaktoren sind.  

So viel Hass wie kaum zuvor

So auch bei Maria. Während ihr Erfolg einst mit Videos rund um Body Positivity begann, spricht sie heute kaum noch darüber. Der Grund: eine riesige Welle an Hass, teilweise Morddrohungen. Unter all ihren Videos finden sich Beschimpfungen und Drohungen. „Sogar mehrgewichtige Menschen selbst betreiben Body Shaming und kritisieren mein Aussehen”, sagt Maria. Auch Alin, Marias Ehemann und selbst Influencer, ist von den unzähligen Hasskommentaren betroffen. „Man wirft mir vor, meine Frau krankhaft zu füttern”, erklärt er. Der Hass bringt den beiden große Herausforderungen, sowohl beruflich als auch privat. 

„Fat Shaming trifft uns überall, in der Arbeit, im Handel, in der Politik, selbst im medizinischen Kontext”, erklärt Justyna, Aktivistin und Curvy-Model in Wien. Gemeinsam mit Bobby, 44, betreibt die 31-Jährige den Podcast Fat Business, und will über Gewichtsdiskriminierung aufklären. „Hass gegen dicke Menschen ist zwar nichts Neues, mittlerweile hat er jedoch eine Massivität und Aggressivität erlangt, die wir bislang noch nicht kannten”, sagt Bobby. „Es ist unmenschlich, wie wir beleidigt werden. Da sind Begriffe wie Frittenpanzer, oder Wal noch harmlos.” Auf ihren Social-Media-Kanälen sind die beiden mit Unmengen an Hass konfrontiert. Justyna erzählt, dass sie mittlerweile mehr als 1.000 Instagram-Nutzer:innen blockiert habe.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen

Die Wirtschaft profitiert von dem Wunsch der Menschen, dünn zu sein: Diät- und Fitnessprodukte florieren, Werbung und Social Media nähren das negative Selbstbild.

„Bereits im Kindesalter beginnen Menschen damit, Mehrgewicht mit Wörtern wie faul, verlogen, hässlich oder dumm zu assoziieren”, sagt Anna-Maria Cavini, Kinder- und Jugendfachärztin, Psychotherapeutische Medizinerin und Mitglied der Österreichischen Adipositas-Gesellschaft (ÖAG). In der Wissenschaft wird die Diskriminierung aufgrund des Aussehens als Lookism bezeichnet. Die Konsequenzen können Arbeitswelt, Liebesleben und die eigene Gesundheit treffen. „Nachdem ich an Corona erkrankt bin, war ich ständig erschöpft. Als ich zur Ärztin ging, meinte sie nur zu mir, ich sollte meine Ernährung umstellen. Als ich daraufhin selbstständig eine Neurologin aufgesucht habe, wurde mir dann Long Covid diagnostiziert”, erklärt Justyna. Dass Patient:innen mit Mehrgewicht auf ihr Gewicht reduziert werden, sei an sich keine Seltenheit, meint Bersenkowitsch. Die Diätologin setzt deshalb für gewichtsneutrale Medizin ein. „Beim Thema Übergewicht wird häufig zu eindimensional gedacht. Man sagt, dass Dicke selbst an ihrem Gewicht schuld sind. Oft liegt es aber an vielen Sachen, etwa, dass die Esskultur oder Emotionen nicht ausreichend berücksichtigt werden.” 

Die Diskriminierung von Körperbildern, auch Body Shaming genannt, liegt vielen komplexen Faktoren zugrunde. Einer davon sei der Druck der Schönheitsindustrie, erklärt Elisabeth Lechner. In einer Welt, die Schlanksein zur Norm erhebt, verdient die Wirtschaft am Streben nach Schlankheit. Schlanke und durchtrainierte Körper werden zum Ideal erklärt, während Produkte und Dienstleistungen zur Gewichtsreduktion boomen.

Body Positivity als Wirtschaftsprofit

Wer nach Möglichkeiten sucht, Gewicht zu verlieren, stößt schnell auf unzählige Angebote. Diätprodukte, Fitness-Influencer:innen, Trainingspläne und vieles mehr werden massenhaft beworben. Das Ziel: Menschen zur Gewichtsreduktion motivieren. Die Wirtschaft profitiert von dem Wunsch des Dünnseins, und das schon seit Langem. Bereits zu Zeiten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung protestierten Frauen gegen die verzerrten Normbilder. Mitte der 1960er Jahre formierte sich die erste Fat-Liberation-Bewegung, dessen Forderungen mehr Akzeptanz und Gleichberechtigung für mehrgewichtige Menschen waren. In den 1990er Jahren dominierte ein ausgeprägter Schlankheitstrend. Der Begriff “Heroin-Chic”, geprägt von Kate Moss, beschreibt ein extrem schlankes Erscheinungsbild, mit blasser Haut und dunklen Augenringen. Ein Bild, das an Heroinabhängige erinnert. Erst danach keimte die Fat-Liberation-Bewegung in grundlegend abgewandelter Form mit den Sozialen Medien neu auf. Unabhängig von politischen Protesten riefen nun Posts und Videos zu mehr Selbstliebe und Akzeptanz von Körperbildern auf.

Illustration: weiblich gelesene Figur hält Kuchen an der offenen Backofentür, Sprachblase mit Herz, im Hintergrund männlich gelesene Figur hält mit einer Hand eine Schüssel, im Vordergrund Radio mit Lautstärkezeichen

Was als Protest gegen Schönheitsnormen begann, ist heute Marketing: Unternehmen weltweit nutzen Body-Positivity, um Kund:innen zu gewinnen.

Was einst ein Protest gegen die Wirtschaft war, ist heute eine große Einnahmequelle für sie. Weltweit schließen sich Unternehmen der Body-Positivity an, zeigen Werbung mit Körpern in allen Farben und Formen, um neue Kund:innen zu gewinnen und bestehende zum Kauf zu motivieren. Doch ein Blick hinter die Kulissen offenbart eine Realität, in der Körperliebe keinen Platz findet. „Aktivistische Bewegungen werden zum Trend gemacht und vom Kapitalismus instrumentalisiert”, erklärt Lechner. Soziale Plattformen finanzieren sich durch Werbung. Um ihren Gewinn zu steigern, nutzen Unternehmen Trends, um aus ihnen Profit zu schlagen. Plus-Size-Models müssen in der Werbung trotzdem normschön sein, dürfen weder Körperhaare noch andere sogenannte Makel zeigen, so die Wissenschaftlerin. „Wir haben die strukturelle Inklusion nie durchgesetzt, der Druck, schön zu sein, ist für alle noch da.” Nun scheint auch noch der Schlankheitswahn der 90er zurück zu sein. Curvy-Models verschwinden vom Laufsteg, während Kleidermarken ihre Übergrößen aus dem Verkauf ziehen. 

Einer Meta-Analyse aus dem Jahr 2017 zufolge sollen mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung zumindest einmal versucht haben, abzunehmen. Eine Studie des Gesundheitsministeriums bestätigt dies und zeigt, dass sich etwa 35 Prozent aller Jugendlichen in Österreich zu dick fühlen. Der Abnehm-Boom erfährt seine Rückkehr, das zeigen auch aktuelle Angaben zur Industrie. Das Marktforschungsunternehmen Market Research Future hat die globale Gewichtsmanagement-Industrie im Jahr 2024 auf mehr als 140 Milliarden Euro geschätzt. Bis zum Jahr 2030 soll sich der Wert auf mehr als 219 Milliarden verdoppeln. Wie viel Kapital mit dem Wunsch nach Schönheit gemacht wird, zeigt auch der Erfolg der sogenannten Abnehmspritzen wie „Ozempic“. Der Wirkstoff Semaglutid sorgt zwar für Diskussionen über Wirkung und Nebenwirkungen, in Hollywood hat sich die Spritze aber längst durchgesetzt. 

Auch in sozialen Netzwerken dominiert der Abnehmtrend: Die Google-Trends-Analyse weist auf ein stetiges Wachstum der Suchanfragen für das Schlagwort #SkinnyTok seit Anfang des Jahres hin. 

Ist gesundheitsneutrale Medizin die Zukunft?

Die Aufruhr um gefährliche Internet-Trends und verzerrte Normen ist in der Wissenschaft groß. Um dem Abnehmdrang und der Stigmatisierung im medizinischen Kontext entgegenzuwirken, eröffnet Bersenkowitsch deshalb gemeinsam mit Elisabeth Marcinkowski voraussichtlich im Herbst Österreichs erstes gewichtsneutrales Gesundheitszentrum. Die Anschubfinanzierung für das Projekt HOLI, kurz für holistisches Gesundheitszentrum, kam zum Teil über Crowdfunding und Förderungen zustande. Das Team soll sich aus verschiedenen Expert:innen aus den Bereichen Sport, Diätologie und Psychologie und mehr zusammensetzen. Bersenkowitsch erklärt, dass sich das HOLI als ergänzendes Angebot zur medizinischen Behandlung versteht – daher sind auch keine Ärzt:innen im Zentrum tätig. Wir setzen auf gesunde Ernährung, gute Beziehung zum Essen und ausreichend Bewegung. Der Fokus ist das Verhalten und Wohlbefinden, damit der Körper von selbst sein Sollgewicht finden kann”, erklärt die Diätologin.

Auch Maria bemerkt, dass gute Beziehungen ihrer Gesundheit gut tun. Anstatt sich zum Abnehmen zu drängen, setzt sie heute auf eine gesunde und nachhaltige Ernährung, ihre Rezepte veröffentlicht sie weiterhin im Internet. Im Frühjahr gründeten sie und ihr Mann Alin die Modemarke femmea. Ihr Ziel: Kleider in allen Formen und Größen. Wir Dicken dürfen im Leben sein, unser Körper darf sein. Wir verdienen Respekt wie jede:r andere”, betont sie. 

Grafik: zwei Schlüssel verbunden durch einen Ring

Auch im Gesundheitssystem wirkt sich Gewichtsstigmatisierung aus: Vorurteile von Fachpersonal können Diagnosen verzögern oder Behandlungen beeinflussen.

Sowohl Wissenschaft als auch Praxis zeigen, dass Gewichtsverlust alleine nicht der Weg zu nachhaltiger Gesundheit ist. Genau aus diesem Grund fordern Personen wie Bobby und Justyna einen Paradigmenwechsel, bei dem Gewicht nur einer von vielen Faktoren des eigenen Wohlbefindens ist. In Österreich wird Adipositas seit Anfang des Jahres als Erkrankung anerkannt, ein Schritt, den die beiden Aktivistinnen kritisch betrachten: Selbst in der Medizin ist umstritten, ob Adipositas als Krankheit eingestuft werden sollte. Das Problem liegt eigentlich aber ganz woanders und ändert nichts an der Diskriminierung dicker Menschen im medizinischen System. Vorurteile von medizinischem Fachpersonal können Folgen bei Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen dicker Menschen haben. Wo bleibt also die Frage nach der Prävention, wo der objektive Blick der Medizin über das Gewicht hinaus?”, betont Bobby. Cavini hingegen bewertet die Anerkennung als essentiell und weist auf die gesundheitlichen Folgen hin: Adipositas ist eine Krankheit. Das zeigen uns die Folgeerkrankung und die verkürzte Lebenszeit. Nichtsdestotrotz müssen wir mit dem Gedanken aufräumen, dass Betroffene selbst schuld sind. Dafür braucht es eine offizielle Krankheitsdiagnose.”

Die Podcasterinnen wollen die Fat-Liberation wieder aufleben lassen und mehrgewichtige Menschen unterstützen. Dabei verwenden sie bewusst Begriffe wie ‚fett‘ und ‚dick‘, um diese von negativen Zuschreibungen zu befreien. Von der österreichischen Politik fordern sie mehr Aufmerksamkeit für Gewichtsstigmatisierung, einen objektiven Diskurs – und rechtlichen Schutz vor Gewichtsdiskriminierung. Auch Alin und Maria wollen gegen Diskriminierung vorgehen und sammeln Klagen gegen die Verfasser:innen ihrer Hasskommentare. Einen gesetzlichen Rahmen dafür gibt es in Österreich bislang nicht. Im Gleichbehandlungsgebot, es bildet die Grundlage für Gesetze für Gleichbehandlung, werden Aussehen und Gewicht nicht genannt. Ob ein Gesetz gegen die Diskriminierung dicker Menschen geplant ist, lässt sich nicht sagen, eine Anfrage nach etwaigen Maßnahmen lässt das Sozialministerium bis zum Redaktionsschluss dieser Recherche unbeantwortet. Bis diskriminierungsfreie Gewichtsneutralität den Weg in die Gesellschaft findet, wird es also noch dauern. Die Geschichten von Maria, Bobby, Justyna und unzähligen weiteren Menschen mit Mehrgewicht zeigen jedoch, wie dringend das Land vor einem Handlungsbedarf steht. Vorerst steht jedoch die Sommerpause an, eine Zeit, in der selbst die Politik Entspannung findet. 

Ansprechspartner für Betroffene von Diskriminierung

Österreichische Adipositas Gesellschaft
Tel: +43 650 770 33 78
Währinger Straße 39/2/2, 1090 Wien

Beratungsstelle ZARA gegen Hass im Netz
Tel: +43 1 929 13 99
Schönbrunner Straße 119/13, 1050 Wien

Stelle zur Bekämpfung von Diskriminierung
Tel:  +43 1 4000-38950
Muthgasse 62, Riegel C 3.07, 1190 Wien

Wiener Pflege- und Patient’innenanwaltschaft (WPPA)
Tel: +43 1 587 12 04
Ramperstorffergasse 67, 1050 Wien

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