Triggerwarnung

Der Artikel befasst sich mit psychischem Missbrauch. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Neuanfang: Clara

Claras Mutter ist ihrer Tochter gegenüber regelmäßig aggressiv. Erst der Abstand hilft Clara, ein gesünderes Leben zu führen.

Text: Jana Reininger
Fotos: privat 

Datum: 12. September 2022

Es ist ein heißer Tag im August, an dem Clara ihre Kisten im Kofferraum verstaut. Sie haut mit Wucht die Autotür zu und fährt weg. Weg von den schmerzhaften Erinnerungen, von Verfolgung und Beleidigungen. Weg von ihrer Mutter. Hinein in ein neues Leben in einer fremden Stadt.

Clara ist 25 Jahre alt und lebt mit ihrer Schwester in Wien. Hier macht sie die Ausbildung zur Psychotherapeutin und arbeitet als Model. Ihre Mutter wohnt siebeneinhalb Stunden entfernt. “Die Beziehung zu meiner Mutter war immer schwierig”, erinnert sich Clara heute. “Aber ich dachte lange, dass sie eben einfach gemeiner ist, als die Mütter anderer Kinder, dass ich da eben einfach Pech habe.”

Unverständliche Aggressionen

Clara ist zehn Jahre alt, als ihr Vater plötzlich an einem Schlaganfall stirbt. Für Clara, ihre Schwester und ihre Mutter zerbricht eine Welt. Clara fällt es schwer, den Tod von Papa zu verarbeiten und auch ihre ältere Schwester hat Schwierigkeiten. Letztere ist viel mit Freund:innen unterwegs, die der jüngeren Schwester ungeheuer wirken. Clara bleibt mit ihrer Mutter zuhause, wo sich der psychische Gesundheitszustand der erwachsenen Frau verschlechtert.

Die Jahre vergehen und Claras Trauer nicht. Ihre Mutter zeigt kein Verständnis dafür. “Es ist jetzt schon drei Jahre her und ich trauere auch nicht mehr“, sagt sie zu ihr. Clara fühlt sich unverstanden. Sie entwickelt ein schwieriges Verhältnis zu Essen, verwendet es, um Trost zu finden und wird dick. “Doppelwhopper”, ruft ihre Mutter sie oder “Fettarsch” und auch Clara wünscht sich, dünn zu sein. Sie fängt an zu hungern und verliert im Alter von 17 Jahren innerhalb von 12 Monaten 31 Kilo. Die Essstörung führt Clara in eine Klinik. Einige Wochen bleibt Clara im Krankenhaus. Dann holt Mama sie ab. Sie hat ein Hotel gebucht, um Mutter-Tochter-Urlaub zu machen und Clara freut sich darüber. Doch weil es Clara nicht gut geht, spricht sie nicht viel und Mama wird sauer. “Urlaub mit dir macht überhaupt keinen Spaß”, sagt sie. “Wer psychisch so schwach ist wie du, wird im Leben nie etwas hinbekommen”, sagt sie später, als Clara zurück zur Klinik fahren muss, weil die Tochter vergessen hat, ihren Schlüssel dort zu lassen.

Heute hat sich Clara von ihrer Mutter distanziert.

Für Clara ist das ein Wendepunkt. “Da dachte ich: Das kann nicht sein, dass meine Mutter so mit mir spricht. Sie war nie nett zu mir. Aber zu diesem Zeitpunkt fühlte es sich für mich an, als wäre sie einfach nicht mehr meine Mutter.” Das Verhalten ihrer Mutter beschäftigt Clara. Sie fängt an, das Internet nach Antworten zu durchsuchen und stößt rasch auf den Begriff “narzisstische Persönlichkeitsstörung”. Erst einige Jahre später versteht sie, dass das nicht die Diagnose ihrer Mutter ist. Die Erkenntnis, dass ihre Mutter eine psychische Störung haben könnte, hilft Clara dennoch. Nun versteht sie, dass an dem Verhalten ihrer Mama nicht selbst schuld ist. “Als ich sie mit meiner Vermutung konfrontierte war sie total ironisch. Sie lachte total und sagte dann: Ja natürlich. Ich bin eine Narzisstin.’” Ernst nimmt sie die Sorgen ihrer Tochter nicht.

Grenzen werden nicht akzeptiert

Clara beschließt auszuziehen. Als sie ihre Mutter in ihre Absichten einweiht, hilft diese ihr eine Wohnung zu finden. Clara wundert sich über die Hilfsbereitschaft, aber sie freut sich auch. Der Auszug tut Clara gut. Sie wohnt nun drei Minuten von der Wohnung ihrer Schwester entfernt. Manchmal schickt Mama ihr Nachrichten, in denen sie ihr schreibt, wie sehr sie sie vermisst. Das ist schön für Clara, aber die Ruhe währt nicht lange. Es folgen Beschimpfungen und Beleidigungen, die die Tochter schmerzen.

Clara und ihre Schwester antworten nicht auf die Nachrichten. Sie besuchen ihre Mutter nicht und versuchen sich zurückzuziehen. Schon bald läutet es an ihrer Türe und zwei fremde Menschen stehen vor der Türe. “Sie sind auf dem falschen Weg. Wir können Ihnen helfen”, sagen der Mann, der eine Bibel trägt, und die Frau, die hinter ihm steht. Clara ist verdutzt und bittet die Fremden zu gehen. “Ich kannte die Leute nicht. Aber meine Mutter geht in die Kirche und ist sehr gläubig, weshalb ich mir sicher war dass sie das eingefädelt hatte. Eine Bestätigung kam aber nie”, erzählt sie heute.

Einige Tage später sieht Clara vor dem Café, in dem ihre Schwester und sie arbeiten, zwei fremde Frauen in einem Auto sitzen und hört sie den Namen ihrer Schwester sagen. “Das ist die Tochter”, flüstern sie und Clara fühlt sich in ihrer Vermutung bestätigt. Als einige Tage später Claras Mutter selbst vor dem Auto vor der Haustür ihrer älteren Tochter sitzt, rechtfertigt sie sich: „Ich darf machen was ich will. Ich kann mir jederzeit eine Wohnung in dem Haus, in dem du wohnst, mieten oder einen Kaffee in dem Lokal, in dem du arbeitest, trinken.“ Für die Töchter ist damit eine Grenze überschritten.

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Es ist ein heißer Tag im August, an dem Clara ihre Kisten im Kofferraum verstaut. Sie haut mit Wucht die Autotür zu und fährt weg. Weg von den schmerzhaften Erinnerungen, von Verfolgung und Beleidigungen. Weg von ihrer Mutter. Hinein in ein neues Leben in einer fremden Stadt. Das Flugzeug bringt sie nach Wien.

In Wien haben Clara und ihre Schwester gemeinsam eine Wohnung gemietet. Von ihrem Umzug haben sie ihrer Mutter nicht erzählt.  Sie haben ihre Nummer blockiert und ihre Adresse auch vor gemeinsamen Bekannten geheim gehalten. Es ist ein heißer Tag im August. Clara und ihre Schwester machen einen Neuanfang.