Woher kommst du?

Aufgeregt und voller Vorfreude geht Mila zu ihrem Erstgespräch in die Psychotherapie, doch der vermeintliche Safer Space wandelt sich zu ihrem persönlichen Alptraum.

Text: Celeste Ilkanaev
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva

Datum: 18. April 2024
Hier steht die Princess Charming vor einer schweren Entscheidung: Wer muss gehen und wer darf bleiben?

„Bevor ich meine Jacke überhaupt ausgezogen habe, hat mich die Therapeutin schon gefragt, woher ich komme“, erzählt Mila*, eine 23-jährige Studentin aus Wien. Milas Eltern stammen ursprünglich aus Ostafrika. Dass sie das aber schon erklären muss, als sie die Praxis betritt, hat sie nicht erwartet. Mila gibt der Therapeutin zu verstehen, dass sie die Bemerkung als unangebracht empfindet. Die Reaktion der Therapeutin darauf zeigt ihr, dass sie Mila nicht versteht: „Ich bin Deutsche und da fragen mich Wiener:innen auch oft, woher ich komme, wenn sie meinen Dialekt hören.” 

Rassistische Mikroaggressionen, also das Markieren der Nicht-Zugehörigkeit einer Person, wie beispielsweise durch Fragen nach der Herkunft, werden in unterschiedlichen Studien von über 50 Prozent aller BIPoC-Patient:innen berichtet. Laut einer Studie von Schütteler und Slotta zur diskriminierungssensiblen Psychotherapie und Beratung aus dem Jahr 2023 fehlt es im Berufsbild der Psychotherapeut:innen an Diversität. Es mangele ebenso an interkultureller Kompetenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, respektvoll mit Menschen anderer Kulturen umzugehen, Unterschiede zu akzeptieren und erfolgreich mit ihnen zusammenzuarbeiten. Durch das Fehlen dieser Kompetenz bestünde die Gefahr, dass sich schnell rassistische Stereotype, Äußerungen und Handlungen gegenüber BIPoC sowie anderen minorisierten Personen in der Therapiesitzung oder bei der Therapeut:innensuche reproduzieren. 

Während Milas erster Therapiesitzung häufen sich diese rassistischen Mikroaggressionen in kurzer Zeit. Als nächstes bemerkt die Therapeutin, dass Milas Nachname „interessant“ klinge. Die Politikwissenschaft-Studentin ist darüber verwundert, denn ihr Nachname ist in islamischen Ländern sehr gängig. „Da wusste ich schon, dass diese Frau keine einzige Person mit Migrationshintergrund kennen kann“, stellt Mila fest. Auch die weiteren Fragen und Bemerkungen der Therapeutin irritieren sie. Für die Studentin wirkt es nicht so, als hätte sich die Therapeutin mit Rassismus auseinandergesetzt. Das jedoch ist Mila für die Beziehung und das Vertrauen zu einem Therapeuten oder einer Therapeutin durchaus wichtig, erklärt sie im Gespräch mit ZIMT. Da sie aber einen der wenigen Kassenplätze in Österreich bekommen hat, die vollständig von der Krankenkasse übernommen werden, ist es ihr wichtig, zu bleiben – auch wenn sie sich unwohl fühlt. Ansonsten kann sie sich die Therapie nicht leisten.

Vorurteile beeinflussen auch therapeutische Gespräche

Mila setzt sich der Therapeutin gegenüber und beginnt zu erklären, warum sie den Therapiewunsch hatte.  Die Therapeutin unterbricht sie: „Liegt es an den familiären Umständen? Es ist ja relativ häufig, dass islamische Familien sehr frauenfeindlich sind. Das ist natürlich sehr schwer als Frau.“

Die Therapeutin konfrontiert Mila mit einem Vorurteil nach dem anderen. Mila bricht die erste Therapiestunde nach 40 Minuten ab. Sie ist wütend und enttäuscht. Die Studentin steht auf und erklärt der Therapeutin, was in ihren Augen alles falsch gelaufen sei und wie unreflektiert die Aussagen ihr erscheinen. Doch die Therapeutin ist über ihre Aufregung verwundert und rechtfertigt sich: „Aber das ist ja nur Neugier, wenn da so ein interessantes, junges, gutaussehendes Mädchen zur Tür hereinkommt und dann auch noch so gut Deutsch spricht.“ Damit verhält sich die Therapeutin laut Ergebnissen der Studie von Schütteler und Slotta, wie viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und reagiert auf den Hinweis ihres Fehlverhaltens abweisend. Bereits mit der Frage nach Milas Herkunft betreibt sie „Othering“ und markiert damit die Person als fremd und nicht dazugehörig.

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

Mila bricht die erste Therapiestunde nach 40 Minuten ab.

Rassistische Erfahrungen beeinflussen die Psyche

„Ich glaube nicht, dass Psychotherapeut:innen solche Aussagen mit einem bösen Willen tätigen, sondern eher, weil ihnen das Bewusstsein dazu fehlt. Solche unreflektierten Aussagen können im schlimmsten Fall ein Trauma reproduzieren“, so Barbara Haid, Präsidentin des österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP).

Laut Linda Acikalin, Psychotherapeutin bei „Miteinander Lernen“, einer Beratungsstelle für junge Erwachsene mit Migrationshintergrund, hat jede Erfahrung rassistischer Ausgrenzung das Potenzial, die geistige und körperliche Gesundheit stark zu beeinträchtigen. Die Psychotherapeutin weist darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag oft Diskriminierungen ausgesetzt sind, ob am Arbeitsmarkt, in Ausbildungsstätten oder in der Öffentlichkeit. Das kann zu Einsamkeit, Isolation, kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Unsicherheiten führen. Wenn Therapeut:innen rassistische Erfahrungen der Klient:innen herunterspielen beziehungsweise verharmlosen, kann es laut Acikalin zu einer erneuten emotionalen Verletzung führen. 

Vor Wut und zu ihrem eigenen Schutz beschließt Mila, den Raum zu verlassen. „Ich war sehr enttäuscht. Ich habe mich immerhin immens über den Kassenplatz gefreut. So eine Erfahrung ist so demotivierend“, sagt Mila. Seitdem traut sie sich nicht mehr nach einem neuen Therapieplatz zu suchen. Auch ihre Freundinnen machen ähnliche Erfahrungen. Mila entschließt sich dazu, beim „Verein der Schwarzen Frauen“ nach Beratung zu suchen, obwohl sie eigentlich lieber eine Therapie machen würde. Eine Beratung unterscheidet sich von einer Psychotherapie, denn Berater:innen dürfen und können keine psychischen Erkrankungen diagnostizieren und/oder behandeln, da sie nicht dazu ausgebildet sind. Für Mila ist es wichtig, dass das psychologische beziehungsweise das psychotherapeutische Wissen vorhanden ist. „So kann man mehr in die Tiefe und den Problemen mehr auf den Grund gehen“, erklärt sie.

Handy mit Blüten (c) Jana Reininger

Auch an Universitäten kann das Bewusstsein für Rassismus fehlen.

Bei Rassismus mangelt es an interkultureller Kompetenz – und meist an Bewusstsein

Aufgrund der vielen Diskriminierungserfahrungen oder rassistischer Mikroaggressionen haben viele Betroffene Angst, über ihre eigenen Rassismuserfahrungen in Therapie zu sprechen. Auch für Mila ist das eine große Hemmschwelle. Sie kann sich nach diesem Erlebnis nicht mehr vorstellen, über ihre Rassismuserfahrungen mit einem weißen Therapeuten oder mit einer weißen Therapeutin zu sprechen. Es ist aber durchaus wichtig, dass Klient:innen ihre Rassismuserfahrungen in einem sicheren Raum teilen können und Unterstützung bekommen. Dazu fehle es aber laut Acikalin an Bewusstsein und interkultureller Kompetenz auf Seiten der Psychotherapeut:innen und das führe dazu, dass viele Klient:innen die Therapie frühzeitig abbrechen oder vorzeitig entlassen werden. Die mangelnde interkulturelle Kompetenz lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass rassismuskritische bzw. -sensible Therapie beispielsweise in den Lehrplänen der Sigmund-Freud-Universität Wien sowie der Universität Wien nur angeschnitten werden. Fortbildungen zur rassismuskritischen Therapie seien laut Acikalin ebenso mit hohen Kosten verbunden. 

Bisher sieht Acikalin keine Zunahme des Bewusstseins für Rassismus in der Therapie. Dem ÖBVP, der Interessenvertretung der Berufsgruppe der Psychotherapeut:innen, sei laut Barbara Haid das Ausmaß des Rassismusproblems nicht bekannt. Barbara Haid und Ines Gstrein, Präsidentin und Präsidiumsmitglied des ÖBVP, zeigten sich jedoch über die Schilderungen der Rassismuserfahrungen in der Therapie schockiert. „Es sollte selbstverständlich sein, dass sich Klient:innen bei der Psychotherapie, egal welcher Hautfarbe, egal welchen Geschlechts, grundsätzlich einfach sicher, wohlfühlen, gesehen und wahrgenommen werden”, so Barbara Haid. 

Laut Acikalin gebe es zu wenig Forschung, welche die Auswirkungen von Rassismuserfahrungen auf die psychische und körperliche Gesundheit untersucht. Diese sollten in Studiengängen wie Psychologie, Medizin oder Sozialpädagogik, in der Psychotherapie-Ausbildung und in Fachärzt:innentausbildungen als fester Ausbildungsbestandteil integriert werden. Es sei außerdem wichtig, dass alle Menschen sich mit ihrer eigenen kulturellen Identität und ihrer Bedeutung auseinandersetzen.​

Barbara Haid und Ines Gstrein vom ÖBVP haben erkannt, dass sich etwas an dem fehlenden Rassismusbewusstsein von Therapeut:innen ändern muss. Sie möchten zukünftig das Thema Rassismus in Arbeitsgruppen integrieren und eine Fortbildung dazu anbieten.

 

*Auf Wunsch der Protagonistin verwenden wir im Text einen anderen Namen. Unserer Autorin ist der echte Name bekannt.

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