Eine bunte Welt: Leonie

Leonie hat eine Superkraft: Sie sieht überall Farben. Das erleichtert ihr Leben mit Behinderung.

Text: Leonie Schüler
Bilder: ZIMT Magazin/AI-Generator: Canva / privat

Datum: 28. Oktober 2024
Fantasielandschaft am Frühstückstisch, Credits: ZIMT Magazin/Canva AI
Vor einigen Jahren saß ich mit meiner Mutter beim Abendessen und fragte sie, ob sie, wenn sie auf den Wandkalender schaut, ebenfalls Wochentage mit Farben verbindet. Da ich die Wochentage in meiner Wahrnehmung mit festen Farben verbinde, hat meine Woche eine fixe Farbstruktur, die vor meinem geistigen Auge wie ein Turm aus Bauklötzen aussieht, wobei die Klötze zum Ende der Woche hin kleiner werden. Als sie mit Nein antwortete, wurde mir klar, dass es sich um eine besondere Fähigkeit handeln musste.

Ich begann danach zu recherchieren und mir begegnete zum ersten Mal der Begriff Synästhesie: Synästhet:innen sind Menschen, die Reizempfindungen eines Sinnesorgans in Kombination mit einer gleichzeitig auftretenden anderen Sinnesempfindung wahrnehmen – so zum Beispiel das Auftreten von Farbempfindungen bei Zahlen oder Wochentagen. Seit diesem Abend weiß ich, wieso ich früher im Mathematikunterricht, um eine Aufgabe zu verstehen, immer verschiedene Teile einer Gleichung mit unterschiedlichen Farben markiert habe. Das half mir beim Lernen.

Etwa 4 Prozent der Weltbevölkerung haben laut der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft Synästhesie. Vermutlich ist die Dunkelziffer aber durchaus höher, denn oft wissen die Betroffenen, so wie ich bis vor einigen Jahren, gar nicht um ihre Besonderheit. Es gibt verschiedene Arten der Synästhesie. Alle Kombinationen von Sinnesempfindungen sind möglich. Aus diesem Grund ist es so schwierig, das Phänomen zu erforschen. Nach langer Suche fand ich am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen in Holland einen Experten im Bereich Sprache und Genetik. Durch einen Videobeitrag auf YouTube zum Thema Synästhesie wurde ich auf ihn aufmerksam. Ich hatte viele Fragen an ihn, zum Beispiel danach, wie Hochsensibilität mit Synästhesie zusammenhängt oder ob man anhand ihrer Kunst erkennen kann, welche Maler:innen, Musiker:innen oder Autor:innen Synästhesie haben. Leider konnte selbst er mir keine Antworten geben, da zurzeit nicht im Bereich der Synästhesie geforscht werde, so seine Begründung. Meine Recherchen verloren sich also in den Niederlanden.

Meine Synästhesie ist keine Krankheit, sondern eine zusätzliche Fähigkeit. Mit ihr geht einher, dass ich eine verstärkte Vorstellungskraft habe und dadurch kreativer sein kann als andere Menschen. Oft sehe ich einen Artikel, den ich als Journalistin produziere, bereits vor meinem geistigen Auge, ehe ich ihn erstellt habe. Diese Fähigkeit ermöglicht es mir, fokussiert zu bleiben, da ich durch die starke Vorstellungskraft oft einen genauen Plan habe.

Fantasielandschaft am Frühstückstisch, Credits: ZIMT Magazin/Canva AI

Synästhesie hilft Leonie darin, mit den Anforderungen des Alltags besser zurecht zu kommen.

Seit meiner Geburt lebe ich mit einer Beeinträchtigung namens infantiler Cerebralparese. Das ist eine Störung des Bewegungsablaufs. In meinem Alltag bin ich auf die Nutzung eines Elektro-Rollstuhls angewiesen. Mein Leben als Rollstuhlfahrerin ist nicht immer einfach, da mir die Teilhabe am alltäglichen Leben durch sichtbare und unsichtbare Barrieren erschwert wird zum Beispiel wenn ein Aufzug in einer U-Bahn-Station defekt ist. Wenn man nach den Vorurteilen vieler Menschen geht, würde das bedeuten, dass ich viel trauriger sein müsste, als ich bin. Dank meiner zusätzlichen Fähigkeit und der damit verbundenen starken Vorstellungskraft, ist es mir möglich, meine mentale Gesundheit zu nutzen. Meine Kreativität und Produktivität werden gesteigert.

Ich habe das Glück, mit Hilfe meiner Fantasie an jeden möglichen Ort der Welt zu gehen, obwohl ich diesen vielleicht physisch gar nicht besuchen könnte. Ebenfalls dient mir die Synästhesie als Selbstschutz, da ich mich gedanklich an andere Orte flüchten kann, um meine wiederkehrenden Probleme mit sichtbaren und unsichtbaren Barrieren zu vergessen. Ich bin nicht behindert, sondern ich werde es. Die Strukturen unserer Gesellschaft sind noch nicht für alle geschaffen. Als Frau mit einer körperlichen Beeinträchtigung merke ich das auf mehreren Ebenen. Während es beispielsweise für Männer verschiedene Angebote, etwa von Sexualbegleiter:innen, gibt, ihre Sexualität trotz Beeinträchtigung auszuleben, wird das mir als Frau wegen fehlender Angebote und umso größerer Tabus noch mehr erschwert.

Obwohl mein Leben als Rollstuhlfahrerin immer noch so viele Barrieren beinhaltet, mache ich immer das Beste daraus, und zwar jeden einzelnen Tag. Ich bekomme Botschaften durch meine Träume und handele danach. Dies stärkt mein Vertrauen in das Leben.

Zudem kann ich jedem Menschen, der bedeutsam für mein Leben ist, egal ob physisch anwesend oder nicht, in meinen eigenen Gedanken Fragen stellen und finde die Antwort bei mir selbst. Selbst dann, wenn es sich um Menschen handelt, die nur indirekter Teil meines Lebens sind, so wie Vorbilder oder starke Persönlichkeiten. Solche Menschen beeinflussen mein eigenes Handeln, weil mir ermöglicht wird, mich durch meine starke Vorstellungskraft auf einer tiefergehenden Ebene intensiver mit diesen Menschen auseinanderzusetzen. Ich kann mögliche Handlungen und Auswirkungen dieser Menschen besser einschätzen und finde einen Zugang. So kann ich meine Gedanken besser sortieren, um mich selbst zu reflektieren. 

Wie jedes Phänomen hat meine Synästhesie aber nicht nur positive Seiten, sondern kann im Alltag auch belastend sein. So verbinde ich etwa störende Geräusche mit Warnfarben. Belastend empfinde ich Staubsaugergeräusche oder die Türklingel. Je nach Lautstärke des Geräusches kann sich die Intensität der Farbe ändern. Erst neulich war ich in einer Parfümerie und hatte immer wieder das Problem, dass ich mich nicht für einen bestimmten Duft entscheiden konnte. Zu jedem Parfum entstand ein Bild in meinem Kopf. Solche Geschehnisse können im Alltag ganz plötzlich zu Überforderung führen, indem sie die unterschiedlichsten Emotionen auslösen. Diese Reizüberflutung kostet in jedem Fall Energie. Als ich in der Parfümerie war, schaffte ich es jedoch, das Positive aus der Erfahrung zu ziehen: Je nachdem, wie das Bild vor dem geistigen Auge auf mich wirkte, entschied ich, ob ich den jeweiligen Duft mochte oder nicht.

Auch wenn meine Synästhesie an manchen Tagen eine Reizüberflutung verursacht und dadurch eine psychische Belastung entsteht, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Eigenschaften dieser zusätzlichen Fähigkeit als Bereicherung zu sehen und das einzigartige Potenzial auszuschöpfen. Meine Mutter jedenfalls wunderte sich an dem Tag, an dem ich sie nach dem Aussehen ihrer Wochentage fragte, über meine Fähigkeit. Sie findet in ihrer Vorstellungskraft nicht so viel Kraft wie ich.

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