„Ich musste den Verstand verlieren“: Tanja
Tanja hatte selbst Psychosen. Heute unterstützt sie andere Patient:innen.
Text: Keshia Cireddu
Foto: Keshia Cireddu
Bilder: Media Whale Stock/janiecbros/lizorozco/Getty Images

Als Tanja im Jahr 2002 zum ersten Mal eine akute Psychose erlebte, fühlte sie sich völlig verloren. Stimmen in ihrem Kopf, visuelle Halluzinationen, Wahrnehmungsstörungen – der tiefe Fall in eine Welt, die niemand außer ihr zu verstehen schien. „Man kommt auf die Welt und geht nicht davon aus, dass man den Verstand verlieren kann. Ich hatte die Konstanz meines Hirns zuvor nie hinterfragt.“
Wie Tanja ergeht es vielen Menschen, die plötzlich mit einer Psychose konfrontiert sind. Der Realitätsverlust kann sie in tiefe Einsamkeit stürzen – oft begleitet von Angst und Orientierungslosigkeit. „Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf explodiert.“ Weil all ihre kognitiven Kapazitäten damit beschäftigt waren, visuelle Halluzinationen und Gedanken zu verarbeiten, konnte sie selbst bei einfachen Small-Talk-Gesprächen in ihrer Freundesgruppe nicht mehr mithalten. Da sie davon maßlos überfordert war, zog sie sich zurück. Es folgte ein halbes Jahr des Schweigens. In akuten Phasen ist die Krankheitseinsicht stark eingeschränkt, so dass sich der Genesungsweg oft lang und herausfordernd gestaltet. Denn wer nicht weiß, dass er krank ist, gelangt nur schwer an die richtige Behandlung.
Nach außen schien Tanjas Leben stabil. Als staatlich geprüfte Kinderpflegerin und stellvertretende Leiterin einer Pflegeeinrichtung war die 46-Jährige beruflich erfolgreich. Doch hinter der Fassade hatte sie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, ausgelöst durch ihre Kindheit in einem Haushalt mit Suchterkrankungen, zu kämpfen. Sie lebte in einer schwierigen Partnerschaft, über die Tanja heute nicht weiter sprechen möchte, und versuchte sich durch Selbstmedikation mit Cannabis abzulenken. „So wie das damals war, denke ich, musste ich den Verstand verlieren.“

Nach außen wirkte Tanja vollkommen stabil, ihre Psyche befand sich jedoch am Abgrund.
Heute sitzt Tanja in der Küche des Vereins Pandora e.V., lächelt und trinkt einen schwarzen Kaffee, während sanfte Sonnenstrahlen den Raum erhellen. Nach ihrem zweiten und letzten psychotischen Schub im Jahr 2006 in Berlin durchlief Tanja eine lange Phase der Neuorientierung. Sie probierte sich in verschiedenen Berufsfeldern aus, bis sie sich 2011 entschloss, die EX-IN Ausbildung zu absolvieren. Das bedeutet, dass sie als ehemalige Betroffene heute andere psychisch erkrankte Patient:innen begleitet. Statt bloßer Ratschläge vermittelt sie ihren Klient:innen etwas viel Wertvolleres: Verständnis, Empathie und echte Lebenserfahrung. „Ich brenne für meinen Job und bin überzeugt, dass jeder Mensch seinen Platz finden kann!“
Das Ausmaß ihrer eigenen Erkrankung verstand Tanja selbst erst, als sie in der Psychiatrie zum eigenen Schutz zwangsmedikamentiert wurde. Den Schlüsselmoment brachte ein Gespräch mit einer Mitpatientin: „Siehst du es auch? Wir werden beobachtet und überwacht. Sie filmen uns und wissen alles“, sagte diese zu ihr. Tanja erkannte sich selbst in diesen Worten – „Ja, das dachte ich vor drei Tagen auch noch.“
Mit der ersten Psychose kam für Tanja, die in der deutschen Stadt Fürth wohnt, die bittere Erkenntnis: „Ich stand vor einem Scherbenhaufen und musste die Teile meines Lebens erst wieder zu einem Ganzen zusammensetzen.“ Die anhaltenden Halluzinationen oder Wahrnehmungsstörungen lenken Psychosepatient:innen stets von den kleinen Dingen des Alltags ab. Damit wird selbst dieser zur Herausforderung. Die Aufmerksamkeit beim Spazieren bewusst auf das Gehen zu richten, erfordert dann viel Konzentration, Geduld und Übung. „Man muss ins Tun kommen, um langfristig gesellschaftskonform zu funktionieren.“
Auch einfache Gespräche über alltägliche Dinge fielen Tanja damals schwer. Denn ein häufiges Symptom der Krankheit sind sogenannte Beziehungsideen – eine verzerrte Wahrnehmung, bei der Betroffene zufällige Bemerkungen oder Situationen auf sich selbst beziehen und ihnen eine tiefere, oft bedeutungsschwere oder sogar bedrohliche Bedeutung zuschreiben. Alltägliche Äußerungen erscheinen ihnen dann als versteckte Botschaften, die speziell für sie bestimmt sind. Heute kann Tanja darüber lachen: „Manchmal geht es eben einfach um die Kleidung, die Nägel oder den Lipgloss – nicht um tiefe philosophische oder kosmische Themen.“
In ihren selbst konzipierten Workshops zu Recovery, Resilienz, Armutsmanagement und Achtsamkeit vermittelt Tanja heute praktische Werkzeuge, um den Alltag bewältigbarer zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Reflexion der Vergangenheit und um Strategien zum Umgang mit wenig Geld, sondern auch um ganz konkrete Übungen – wie zum Beispiel achtsames Zähneputzen, bei dem jeder Zwischenschritt, wie das Aufschäumen der Zahnpasta, ganz bewusst wahrgenommen wird.
„Es sind kleine Übungen, die helfen, sich zu erden und das Leben lebenswerter zu gestalten. Ich achte darauf, dass wir Dinge nicht zu fundamental sehen. Den ganzen Tag zu meditieren ist für jemanden mit einer Psychose nicht unbedingt hilfreich. Dafür rennen die Gedanken zu wild und unstrukturiert. Durch den Realitätsverlust entfernen sich Psychosepatient:innen bei der Meditation nur noch mehr. Da sie bereits durch die Auseinandersetzung mit sich selbst gefordert sind und sich darin verlieren können, ist es wichtig, dass sie wieder in den Moment finden. Dabei hilft Entspannung, die im Kontakt mit der Außenwelt stattfindet.“

In ihren Workshops bietet Tanja konkrete Hilfestellungen, damit Betroffene ihren Alltag wieder bewältigen können.
Ihren eigenen Kontakt zum Leben gewann sie einst durch eine Aussage eines Verwandten wieder: „Als mein kleiner Bruder sagte, er befürchte, ich würde nie wieder in die Realität zurückkommen, hat mich das zutiefst bewegt. Für ihn habe ich mein Bestes versucht, um psychosefrei zu werden.“ Mithilfe therapeutischer Unterstützung, anfänglich in stationärer, klinischer Behandlung, später mithilfe ambulanter Verhaltens- und Traumatherapie, schaffte sie es. Dabei half ihr auch das Wissen darum, dass sie stets geliebt und unterstützt wird.
Für Tanja sind Lernbereitschaft, Neugier und Hoffnung zentrale Elemente ihrer Arbeit. Sie glaubt fest an ein Miteinander auf Augenhöhe, in dem alle voneinander lernen können – ein Konzept, das sie „Wir-Wissen“ nennt. Dabei gibt es keine leeren Durchhalteparolen, sondern echte, gelebte Hoffnung und konkrete Tools aus einem breiten Methodenkoffer. Vor allem aber: die Gewissheit, dass Veränderung möglich ist.
Dass das Leben nicht linear verläuft, weiß Tanja nur zu gut. Vor einem Jahr erhielt sie eine weitere erschütternde Diagnose: Multiple Sklerose. Wieder stand sie vor einer Herausforderung, die ihr Leben veränderte. Dabei, resilient zu bleiben, half ihr vor allem ihr Umfeld: Teilnehmende ihrer Workshops, aber allen voran ihre Kolleg:innen. „Die haben das super mitgetragen, als ich an meine körperlichen Grenzen gestoßen bin.“ Jede Krise, jede Erschütterung hat Tanja stärker gemacht. Statt sich von der Krankheit entmutigen zu lassen, fand sie neue Wege, mit ihren Ressourcen umzugehen. „Das Leben hat immer Höhen und Tiefen – es ist ein Lernprozess.“
Ihr Wunsch für die Zukunft? Dass psychische Krisen entstigmatisiert werden. Dass Betroffene nicht mehr schweigen müssen, sondern sich Hilfe holen können – ohne Angst vor Vorurteilen oder Ausgrenzung. Denn: „Die kleinen Wunder stecken in uns allen.“