Lorenz und ich
Annas Urgroßonkel wurde im Nationalsozialismus wegen einer psychischen Erkrankung umgebracht. Eine Spurensuche.
Text: Anna-Katharina Wintersteller
Lorenz war immer schon Teil von mir. Selbst als ich seinen Namen noch nicht kannte. Da war er in meiner Familie ein wiederkehrender Satz über das Schicksal des Bruders meines Urgroßvaters: „Den hom die Nazis mitgnumma.” Wohin und was genau mit Lorenz geschehen war, war nicht klar. Mich beschäftigte sein Schicksal. Deshalb machte ich mich auf die Suche, um herauszufinden, wer Lorenz war. Ich redete mit Familienmitgliedern, recherchierte im Internet, sprach mit Historikern und besuchte wichtige Stationen seines Lebens. Aber nach jedem Gespräch, jeder Textzeile und jedem Eindruck ergaben sich mehr Fragen. Denn Geschichte gibt keine klaren Antworten; sie zeigt Perspektiven.
„Der spinnt“
Für meine Großmutter Erika war Lorenz ein Onkel, den sie nicht kennenlernen konnte. Als sie 1939 in einem kleinen Ort im Salzburger Tennengau zur Welt kam, war Lorenz bereits in einer Einrichtung, die meine Großmutter Nervenklinik nannte. Heute würde man von einer psychiatrischen Klinik sprechen. Es sei ihm einmal gut und einmal schlecht gegangen. Seine Diagnose kannte meine Großmutter nicht. Nur dass gesagt wurde: „Der spinnt.”
Lorenz sei der Grund gewesen, warum sich mein Urgroßvater sein Leben lang Vorwürfe gemacht habe. Dass er und seine vielen Geschwister sich nicht mehr gewehrt hatten gegen das, was Lorenz widerfuhr.
Laut den Akten im Landesarchiv Salzburg war Lorenz ein Patient mit einer psychiatrischen Diagnose. Jemand mit „nervösen Erregungszuständen, abwechselnd mit depressiven Verstimmungen”. Jemand, der „sehr gefährliche Drohungen” machte, sich etwas anzutun. Jemand, der „dunkle Gestalten” sah, Angstzustände hatte und glaubte, sein Wasser sei vergiftet worden. Der in den Wald verschwand, am nächsten Tag heimkehrte und sich nicht daran erinnern konnte. Schizophrenie war der Name, den man seinem Zustand in den Patientenakten gab.
In den Akten des Landesarchivs Salzburg finden sich heute noch Spuren von Lorenz‘ Aufenthalten in der Salzburger Heilanstalt.
Die drei vergilbten Bögen im Archiv erzählen: Lorenz war ein Kind, das – wie damals üblich – zu Hause geboren wurde, acht Jahre die Schule besuchte und dem das Lernen leicht fiel. Er war ein Soldat, der im Ersten Weltkrieg an der Front kämpfte und sich dort eine Schussverletzung am Bein zuzog. Er war ein sogenannter Kriegsbeschädigter, der ab 1925 nicht mehr arbeiten konnte. Ein „Gemeindearmer”, so steht es in den Papieren, dem es ab diesem Zeitpunkt immer schlechter ging. Dreimal war er in der Landesheilanstalt für Geistes- und Gemütskranke in Salzburg. Beschrieben wird er als ruhig, einmal als verwirrt, einmal als uninteressiert an seinen Mitpatient:innen.
Schutz vor der Gestapo
Lorenz war ein Patient, der aufgrund einer überfüllten Landesheilanstalt 1939 in die private Anstalt Schloss Schernberg in Schwarzach gebracht wurde. Raumnot war ein jahrzehntelanges Problem der Heilanstalt in Salzburg. Zwei Jahre lang verbrachte Lorenz in Schernberg, wo ihn die Nonnen der Barmherzigen Schwestern pflegten. Dann kam die Gestapo, um die Bewohner:innen zu holen.
Für die Schwestern in Schernberg waren Menschen wie Lorenz es wert, Widerstand zu leisten. Das lässt sich aus den Protestschreiben ableiten, die die Visitatorin, eine kirchliche Aufseherin der Barmherzigen Schwestern, Anna Bertha Königsegg schrieb. Sie verzögerte die Abtransporte aus Schernberg und verbot ihren Untergebenen, beim Abtransport mitzuhelfen. Als Lorenz am frühen Morgen des 21. April 1941 endgültig von der Gestapo abgeholt wurde, saß Königsegg in Haft.
Annas Recherche fördert auch den Widerstand der Nonnen der Barmherzigen Schwestern zutage, die Patient:innen wie Lorenz vor dem Abtransport durch die Gestapo schützen wollten.
Ihre Mitschwester Rosaria Brunauer beschreibt ihr die Vorgänge in einem Brief, der heute in Königeggs Biografie nachzulesen ist: „Anfangs verhielten sich die Kranken ruhig. Als sie sich aber ohne den Schutz der Schwestern fühlten, fingen sie an zu schreien: ,Schwester, Schwester, hilf, hilf!!!’ Sie klammerten sich an die Bettgestelle, rissen diese mit sich, als man Hand an sie legen wollte.” Viel mehr Informationen über das Geschehene finde ich in Brunauers Brief nicht, nur: „Die Gehfähigen wurden wie eine Viehherde den Berg hinuntergetrieben, die anderen brachten die Autos nach. In den schwarzen, großen Fahrzeugen waren Etagen eingebaut, Da wurden die Armen hineingeschoben. […] Wer sich beim Hineinschieben wehrte oder schrie, erhielt eine Injektion und bald herrschte Ruhe.” Die Gestapo brachte Lorenz zum Ort seiner Ermordung, in das Schloss Hartheim in Oberösterreich.
Über 70.000 Krankenhauspatient:innen ermordet
Laut den Geschichtsbüchern ist Lorenz ein Opfer der sogenannten „Aktion T4”. So wurde die systematische Ermordung von Kranken und Menschen mit Behinderung in insgesamt sechs Tötungsanstalten im damaligen Deutschen Reich genannt. Das Schloss Hartheim in der Nähe von Linz war eine der Anstalten. Ein auf den 1. September 1939 zurückdatiertes Schreiben Hitlers war der Grundstein für den Mord von über 70.000 Patient:innen in Krankenanstalten. 40 Ärzte, die die Patient:innen zuvor nie gesehen hatten, entschieden allein aufgrund der Informationen und Daten der Heilanstalten, ob eine Person „würdig war”, weiterzuleben, wie der Historiker Johannes Hofinger in seinem Buch Nationalsozialismus in Salzburg beschreibt. Die Markierung mit einem roten Plus auf der Karteikarte bedeutete den Tod. Nach Widerstand von Seiten der Kirche und Unruhen in der Bevölkerung beendete Hitler die „Aktion T4” im August 1941 offiziell. Das hieß jedoch nicht, dass die Ermordung von Kranken und Menschen mit Behinderung ein Ende nahm. Ärzt:innen ließen Patient:innen in den Krankenanstalten verhungern oder verabreichten ihnen Überdosen von Medikamenten, so Hofinger.
Ein Teil von mir
In der Gedenkstätte im Schloss Hartheim ist Lorenz Quehenberger ein kleiner Schriftzug unter vielen Namen, die die Wände des großen Raumes bedecken. Hier sollen die Patient:innen ein letztes Mal untersucht worden sein, erklärt mir Peter Eigelsberger von der Dokumentationsstelle Hartheim bei meinem Besuch. Die kahlen Wände und die Stille im Nebenraum erdrücken mich nahezu. In diesem Raum, der als Dusche getarnt war, nahm Lorenz wohl seine letzten Atemzüge, bevor sein Körper verbrannt wurde und es in Hartheim süßlich nach Tod roch. Als ich den Tatort verlasse, fühle ich mich leichter.
Eigelsberger erzählt, heuer meldeten sich mehr Angehörige als sonst bei ihm, um mehr über die Schicksale ihrer Vorfahren zu erfahren. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich 2025 das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal jährt. Beim Besuch der Gedenkstätte fließen bei vielen Besucher:innen die Tränen, sagt Eigelsberger. Bei mir nicht. Erst zu Hause überkommt es mich. Die Gefühle erschöpfen. Ich fühle mich schuldig, kann aber nicht benennen, warum. Jede Ungerechtigkeit, von der ich im Zug auf dem Heimweg in der Zeitung lese, fühlt sich auf einmal noch schwerer an.
Die Recherche in den Archiven zeigt: Lorenz’ psychische Erkrankung bedeutete vor 85 Jahren seinen Tod.
Wann genau Lorenz ermordet wurde, kann man heute nicht mehr feststellen. Genau wie so viel anderes aus dem Leben meines Urgroßonkels. Mehr Klarheit über ihn zu haben, beruhigt dennoch. Nicht nur mich, sondern auch meine Familie. Manche schüttelten den Kopf, manche hatten Tränen in den Augen, alle dankten mir, als ich ihnen von meiner Recherche erzählte. Einen Tag nachdem ich das Schloss Hartheim besucht hatte, verstarb meine Großmutter Erika. Lorenz war auch bei meinem letzten Besuch im Hospiz noch Thema.
Für mich ist Lorenz ein Teil von mir. Als seine Nachfahrin und als Frau mit einer psychischen Erkrankung ist es unmöglich, seine Geschichte losgelöst von meiner zu betrachten. Als in einem Gespräch mit einem Historiker der Satz fiel, Menschen wie uns hätte das gar nicht betroffen, schüttelte ich den Kopf. Es schmerzt, zu wissen: In meiner psychischen Krise retteten mich Medikamente und Therapie. Lorenz’ psychische Krise war vor 85 Jahren sein Todesurteil.
Quellen
-
- Dohle, O. & Kowanda J. (2024). Die Rolle der Landesheilanstalt vor, während und nach dem NS-Regime. Land Salzburg.
- Hofinger, Johannes. (2016). Nationalsozialismus in Salzburg: Opfer, Täter, Gegner. StudienVerlag.
- Leininger, K., & Leininger, E. (2019). Grüße aus dem Grand-Hotel Polizei (S. 111–112). Edition Tandem.
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/ (abgerufen am 16.12.2025)
- https://www.schloss-hartheim.at/gedenkstaette-ausstellung/historischer-ort/toetungsanstalt-1940-1944 (abgerufen am 16.12.2025)