Triggerwarnung

Der Artikel enthält explizite Beschreibungen psychischer und physischer Gewalt. Bestimmte Inhalte oder Wörter können negative Gefühle oder Erinnerungen auslösen. Wir möchten dich darauf hinweisen, den Artikel nicht zu lesen, falls du dich heute nicht stabil genug fühlst.

Unter seiner Kontrolle: Vanessa

Vanessas Partner ist gewalttätig. Nach zahlreichen Vorfällen findet sie den Mut, zu gehen.

Text: Karina Grünauer
Fotos: Karl Fluch
Collage: Jana Reininger da Rosa

Datum: 17. Dezember 2024
Person mit VR-Brille in Pflanzenumgebung

Vanessa liegt am Strand, ein Cocktail in der linken, ihr Handy in der rechten Hand. Sie macht ein Selfie und verschickt es per Messenger an ihren Freund. Auf der Liege neben ihr sonnt sich ihre Freundin Patricia, deren echter Name hier keine Rolle spielen soll. Beide Frauen haben schon lange ihren gemeinsamen Urlaub in Spanien herbeigesehnt. Kaum eine Minute später kommt die Antwort von ihrem Freund Stefan: „Willst du dich wirklich so anderen Leuten zeigen?“ Ihr Bikini sei zu freizügig.

Als gesellig und lebensfroh bezeichnet sich die heute 27-jährige Online-Marketing-Managerin selbst. Sie lebt in Linz, aber liebt es zu reisen, in fremde Kulturen einzutauchen, und im Rhythmus der Musik zu tanzen. Darauf hat sie sich auch während ihres Spanienurlaubs gefreut. Die sonnigen Tage verbringt Vanessa jedoch häufig weinend am Strand. Die permanente Kontrolle ihres Freundes, der tausende Kilometer entfernt sitzt und auf ihre Statusmeldungen wartet, lässt sie verzweifeln. Während des Urlaubs bekommt sie zig Anrufe, Nachrichten mit Vorwürfen, dass sie Stefan betrügen würde, warum sie schon wieder feiern sei, dass es ihr doch nur um andere Männer gehen würde. Im halbstündigen Takt schickt sie ihm Updates, um zu beschwichtigen. Sie schreibt, was die beiden Freundinnen machen, wo sie mit wem unterwegs sind, was sie sehen, was sie essen. Rückblickend sei das der schlimmste Urlaub ihres Lebens gewesen, sagt die Oberösterreicherin.

Kennengelernt haben sich Vanessa und der gleichaltrige Stefan, der im wahren Leben anders heißt, über die Social-Media-Plattform Instagram. Mit ihren 19 Jahren war Vanessa zu der Zeit noch unerfahren im Daten, unsicher, ob sie sich überhaupt mit dem fremden jungen Mann treffen soll. Als sie sich nach zahlreichen netten Nachrichten in einer Shisha-Bar zum ersten Mal begegnen, ist sie von seiner umwerbenden, fürsorglichen Art angetan. Auch als sie ihm erzählt, dass sie gerne tanze und verreise, scheint er davon begeistert. Sie sind sich schnell einig, einander bald wiedersehen zu wollen. 

Aus bald wird fast täglich. Stefan überhäuft Vanessa mit Komplimenten, er gibt ihr schnell zu verstehen, dass er sie begehre, dass sie „die Eine“ für ihn sei. Zeitgleich mit diesem Geständnis zeichnet sich ab, was Stefan damit noch meint: Wenn sie für ihn „die Eine“ ist, so duldet er neben sich keine weiteren Personen.

Zwischen Kontrolle und Kritik

Es beginnt damit, dass der Rock, den sie zum Weggehen anhat, zu kurz sei, das Top zu viel Haut zeige. Vanessa räumt ein, dass er zwar nie explizit etwas verboten hätte, ihr aber jedes Mal klar und deutlich zu verstehen gegeben habe, dass er es nicht gutheißen würde, wenn sie sich so präsentiert. Anfangs vertraut Vanessa ihm und ist sich sicher, dass er es gut mit ihr meint. Schließlich ist sie verunsichert, was sich in einer festen Beziehung gehört und was nicht. 

Person sitzt zusammengekauert am Boden, blickt weinend auf Handy in der Hand. Credits: sketchify

Wenn sich Vanessa und ihr Freund nicht sehen, muss sie ihm per Handy Bericht erstatten, was sie isst, was sie trägt, was sie macht – und mit wem.

Selbst im Alltag muss Vanessa ihr Outfit von ihm täglich per Foto absegnen lassen – kommt die Nachricht zu spät, weil sie verschlafen hat oder spät dran ist, fragt Stefan gleich nach, weshalb sie noch nichts geschickt hat. Über den Tag verteilt, während sie im Büro sitzt, kommen immer wieder kontrollierende Nachrichten. In der Mittagspause muss sie mit ihm telefonieren, er will wissen, was sie isst – und mit wem. Wenn sie es nicht schafft, anzurufen, kommt der Vorwurf, wieso sie keine Zeit für ihn habe. Permanente Kritik, zum Beispiel nicht die richtige Menge Reis gekocht zu haben oder darüber, dass sie mit Freunden ausgehen oder gar Kontakt zu einem männlichen Freund halten will, lässt ihren Selbstwert über Wochen hinweg bröckeln. 

Immer gerade dann, wenn Vanessa sich zwischen Kontrolle und Kritik eingeengt fühlt, wirken Stefans Komplimente wie eine Droge.

„Gerade wenn du am Boden bist, willst du wieder hochkommen, hoffst, dass danach wieder eine schöne Zeit kommt.“ Schließlich beteuert Stefan immer wieder, wie sehr er sie liebe und dass er das alles nur für sie mache, sie gehören doch zusammen.

Vanessas Persönlichkeit scheint zu verschwinden

Stefan und sie wollen für eine Woche nach Kroatien fahren, dem Alltag entfliehen und eine schöne Zeit zu zweit verbringen. Nachdem sie nach einer langen Autofahrt im Hotel ankommen und zu Abend essen, ist Vanessa müde und erklärt, sie müsse sich hinlegen. Stefan macht sie darauf aufmerksam, dass er erwartet habe, dass sie noch miteinander schlafen. Vanessa ist zu müde und schläft ein. Plötzlich schreit Stefan: Sie habe es ihm versprochen. Wutentbrannt ohrfeigt er sie, nimmt eine Packung Chips und entleert sie über Vanessas Kopf. Als Vanessa zurückschlägt, wird Stefan noch wütender und schubst sie. Verängstigt läuft Vanessa aus dem Apartment. Rückblickend relativiert die Oberösterreicherin ihre Reaktion: „Ich weiß, es war nicht die beste Idee zurückzuschlagen, aber ich hatte das erste Mal das Gefühl, mich wehren zu müssen.“ Und auch Stefan scheint Reue zu zeigen, indem er ihr nachläuft und um Verzeihung bittet.

Wieder in Österreich zieht sich Vanessa auch aus ihrem Freundeskreis zurück: Immer wieder sagt sie Treffen ab, bleibt unter dem Vorbehalt, zu müde zu sein zu Hause, wenn ihre Freundinnen ausgehen. „Normalerweise war ich immer der Sonnenschein unserer Gruppe. Schrittweise habe ich aber diesen Spaß am Leben verloren und war ständig im Kopf bei ihm“, erinnert sie sich. Auch Vanessas Familie bereitet sich Sorgen, dass etwas nicht stimmt. Des Öfteren wird die junge Frau darauf angesprochen, dass sie sichtbar an Gewicht verloren habe, gefragt, weshalb sie nicht mehr esse. 

Auf Abstand

An Vanessas Geburtstag trifft sie sich mit ihren Freundinnen zum Feiern und Tanzen, Stefan und ein Freund von ihm begleiten sie. Die Gruppe hat in einem Club einen Tisch reserviert und bestellt die erste Runde Getränke. Die Musik gefällt Vanessa, sie möchte mit ihren Freundinnen auf die Tanzfläche gehen. Scheinbar aus dem Nichts taucht Stefan nach einigen Minuten vor Vanessa auf und löscht seine Zigarette in ihrem Getränk. Brüsk dreht er sich um und verlässt den Club. Vanessa versteht nicht, was los ist und eilt ihm hinterher. Vor dem Gebäude schreit er sie an und reißt ihr die Kette mit der persönlichen Gravur, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hat, vom Hals. Verstört von den Geschehnissen des Abends distanziert Vanessa sich zunächst von Stefan: „Ich habe versucht, ihm zu vermitteln, dass ich ein bisschen Zeit für mich, eine Pause brauche.“ Seine Antwort darauf:

„Wenn ich jetzt durch die Tür gehe, dann war es das.“ 

Trotz der offiziellen Trennung, halten die beiden Kontakt, zu stark sind Vanessas Gefühle für Stefan. Ab diesem Zeitpunkt, beschreibt Vanessa, sei er aber ein komplett anderer Mensch gewesen: Wo er sie vorher noch umworben hatte, zeigte er ihr nun die kalte Schulter. Vanessas Welt bricht zusammen, obwohl es eigentlich das ist, was sie sich vermeintlich gewünscht hat: „Ich hatte das Gefühl, irgendetwas ist mir aus dem Leib gerissen worden. Es hat mich so fertig gemacht, dass er auf einmal so kalt und abweisend war, dass ich doch wieder mehr den Kontakt zu ihm gesucht habe. Ich konnte ihn gar nicht mehr loslassen.“ 

Person mit VR-Brille, im Hintergrund fliegende Tauben

Abstand zu gewinnen, fällt Vanessa nicht leicht. Zu stark wirkt Stefans Manipulation auf sie.

Bei einem Besuch in Stefans Wohnung bemerkt Vanessa einen benutzten Tampon im Mülleimer. Als sie Stefan damit konfrontiert und er abstreitet, zu wissen, von wem dieser sei, beginnt wieder ein heftiger Streit. Vanessa will die Wohnung verlassen, doch Stefan schlägt sie zu Boden und zieht sie zurück ins Vorzimmer. Vanessa versucht sich im Schlafzimmer in Sicherheit zu bringen, Stefan drückt sie erneut zu Boden und würgt sie, lässt dann aber von ihr ab. Vollkommen verstört ergreift Vanessa die Chance und rennt aus der Wohnung. „Ich habe wirklich kurz gedacht, er bringt mich jetzt um.“ Zuhause angekommen stellt sich Vanessa erstmals die Frage, ob sie beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr lebend herauskommt.

Freiheit

Nach der letzten Begegnung mit Stefan fährt Vanessa in den Urlaub, um Abstand zu gewinnen, wieder Kontakte zu anderen Menschen zu pflegen und um etwas zu tun, das ihr persönlich Freude und Lebensenergie zurückbringt. Sie hat für sich einen Schlussstrich gezogen, weiß jedoch, dass sie keinen Einfluss darauf hat, wie Stefan mit der Situation umgeht. Wieder zuhause angekommen, erhält sie immer wieder Nachrichten von ihrem Ex-Freund. Als sie nicht reagiert, schreibt er sie von Fake-Accounts an, ruft immer wieder mit unterdrückter Nummer an, kontaktiert ihre Freundinnen, Familie, um den Kontakt zu ihr wiederherzustellen. Immer wieder spricht er von Reue, ob sie ihm verzeihen könne – aber vor allem spricht er von sich. 

2023, drei Jahre nach den Vorfällen, geht Vanessa zur Polizei und erstattet Anzeige, um, wie sie sagt, endlich für sich selbst einzustehen. Wegen zu geringer Beweislast und Verjährung wird ihre Anzeige von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht weiterverfolgt. Auch wenn sie Aufholbedarf bei der Strafverfolgung seitens der Behörden sieht, ist sich Vanessa sicher, dass es die richtige Entscheidung war, sich an die Polizei zu wenden, alles Erlebte zu dokumentieren, sich Freunden und Familie anzuvertrauen, und vor allem sich professionelle Hilfe zu holen. Darüber hinaus beschließt Vanessa, an die Öffentlichkeit zu gehen und vermehrt darüber zu sprechen, dass Gewalt in der Partnerschaft verschiedene Formen annehmen kann. Was mit Manipulation beginnt, kann schon bald in körperliche Übergriffe münden.

Nach dem Beziehungsende hat sich Vanessa in Therapie begeben, um ihre Gewalterfahrungen schrittweise aufzuarbeiten. Erst mit der Zeit hat sie gelernt, dass man sich in gesunden Beziehungen nicht ständig rechtfertigen und kontrollieren lassen muss. Ein Gespräch mit einer Frau, die von narzisstischem Missbrauch betroffen war, ist ihr im Laufe ihrer Therapie in Erinnerung geblieben:

„Jeden Tag, an dem du keinen Kontakt mehr zu einer Person hast, die dir nicht guttut, geht ein Tropfen Gift aus deinem Körper.“ 

Wenn du Opfer von Gewalt geworden bist, findest du Hilfe unter:

Weisser Ring Österreich: telefonisch unter 050 50 16, Mo-Do 9-16 Uhr, Fr 9-15 Uhr 

Weisser Ring Deutschland: telefonisch unter 116 006, täglich 7-22 Uhr sowie online unter: https://weisser-ring.de/hilfe-fuer-opfer/onlineberatung