Essstörung – was jetzt?
Der Verdacht auf eine Essstörung kann Angst machen und verunsichern. Aber: Es gibt Hilfe. Ein Überblick darüber, worauf Betroffene und Angehörige achten sollen.
Text: Livia Döller
Illustration: Markus Steinböck
Aller Anfang ist schwer
Im ersten Moment haben viele Menschen die Hoffnung, dass sie ihre Essprobleme selbst in den Griff bekommen können. Das ist zwar nicht ausgeschlossen, aber: Essstörungen sind komplexe Erkrankungen, die körperliche und psychische Symptome verursachen. Sie können das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen und gefährden langfristig ihre Gesundheit.
Dieser Text ist im Rahmen der ZIMT-Werkstatt entstanden.
Aus zahlreichen Studien geht hervor, dass professionelle Hilfe meistens unumgänglich ist. Aber der Weg dorthin stellt oft eine große Hürde dar. Gedanken wie: „Bin ich überhaupt krank genug?” oder „So schlimm ist es doch gar nicht.” verhindern oftmals den Gang zum Arzt. Auch Angehörige und Familienmitglieder sind häufig verunsichert, wenn zu Hause ein Verdachtsfall besteht. Oftmals fällt es besonders dem Umfeld schwer, das Ausmaß einer Essstörung zu begreifen. Das berichtet auch Birgit Höfle aus ihrer Arbeit als Schulärztin. Psychoedukation für Eltern und Schüler:innen hat bei ihr oberste Priorität, damit eine erfolgreiche Behandlung erfolgen kann.
Es gibt zahlreiche spezialisierte Anlaufstellen in Österreich, die zunächst kostenlose Beratung in Person oder online anbieten. Betroffene sowie Angehörige werden hier über die Tragweite der Erkrankung aufgeklärt. In diesem geschützten Rahmen haben alle Fragen und Befürchtungen Platz und es können – falls gewünscht – direkt weitere Maßnahmen ergriffen werden. Beratungsstellen können den Betroffenen spezialisierte Therapeut:innen und Kliniken weiterempfehlen und bei der Kontaktaufnahme unterstützen. In Essstörungszentren kann direkt gemeinsam ein passender Therapieplan erarbeitet werden. Bei allen weiteren Schritten gilt: Die Betroffenen können zu nichts gezwungen werden und müssen den Heilungsprozess vor allem selbst wollen.
Alternativ können Betroffene auch Hausärzt:innen aufsuchen, um sich erste medizinische Unterstützung zu holen. Oder sie vertrauen sich einer Person aus dem persönlichen Umfeld an, die sie dann bei den nächsten Schritten begleitet. Auch wenn es noch schwer fällt: Nach Hilfe fragen ist kein Zeichen von Schwäche.
Nicht jede Psychotherapie ist die richtige
Ist das Schweigen gebrochen und eine Diagnose vorhanden, beginnt meist der herausforderndste Teil: die Behandlung.
Da Essstörungen viele verschiedene Ursachen haben und sich auf mehrere Bereiche des Lebens auswirken, ist fast immer eine Betreuung durch mehrere Berufsgruppen notwendig. Das beschreiben Eva Wunderer und Andreas Schnebel in ihrem Buch “Interdisziplinäre Essstörungstherapie”. Dazu gehört eine ärztliche Begleitung, um körperliche Folgen der Erkrankung im Auge zu behalten. Auch Psychiater:innen können mit medikamentöser Behandlung unterstützen. Bestimmte Antidepressiva helfen nachweislich bei Bulimie. Oft werden auch Ernährungsberater:innen eingesetzt, um wieder ein gesundes Verhältnis zu Nahrungsmitteln und Essen zu erlernen.Bei Kindern und Jugendlichen kommt häufig Familientherapie dazu und auch eine sozialpädagogische Begleitung kann hilfreich sein, so Andreas Karwautz, Leiter der Ambulanz für Essstörungen im Kindes- und Jugendalter im Wiener AKH.
Neben diesen Maßnahmen spielt vor allem Psychotherapie eine tragende Rolle bei der Behandlung von Essstörungen. Das Problem: Jede:r Therapeut:in darf in Österreich angeben, dass er:sie Essstörungen behandelt, die Therapierichtung spielt dabei keine Rolle. Wer sich nicht direkt an spezialisierte Zentren wendet, werde im Internet mit einem undurchsichtigen Dschungel an Therapieangeboten konfrontiert, so Birgit Höfle. Oft werden dann Expert:innen nach Sympathie ausgewählt. Das ist auf persönlicher Ebene zwar wichtig, sage aber über die Wirksamkeit der Therapie nichts aus, so Andreas Karwautz. Im Gegenteil: Im schlimmsten Fall könne Therapie dann schaden und dazu führen, dass sich die Essstörung verschlimmert und chronisch wird. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Betroffene so schnell wie möglich die richtige Behandlung finden.
Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass nicht jede Art der Therapie nachweislich für die Behandlung von Essstörungen geeignet ist, wie aus verschiedenen Studien hervorgeht. Zu den hilfreichen Formen gehören unter anderem die kognitive Verhaltenstherapie, spezifische Formen der Essstörungstherapien im Rahmen von psychodynamischen Therapien und systemische Therapien, erzählt Andreas Karwautz im Interview.
Einrichtungen gibt es viele
In welchem Rahmen die Therapie abgehalten wird, hängt von der individuellen Symptomatik und Situation ab. Eine Einschätzung kann nur nach ärztlicher Beurteilung erfolgen und muss nach einem ausführlichen Beratungsgespräch geklärt werden. Außerdem beeinflussen lange Wartezeiten, zu wenig Kassenplätze und fehlende evidenzbasierte Therapieplätze die Auswahl, erzählt Andreas Karwautz.
Komplizierte Fälle, zum Beispiel Kinder mit Magersucht im lebensbedrohlichen Gewichtsbereich, können stationär in der Spezialambulanz für Essstörungen im Kindes- und Jugendalter des AKH Wien betreut werden. Darüber hinaus gibt es eigene Kliniken für Essstörungen oder Wohngruppen, in denen Jugendliche sowie Erwachsene über einen bestimmten Zeitraum vor Ort behandelt werden. Ein Zwischenmodell bieten Tageskliniken an, wo man etwa mehrere Stunden täglich in der Klinik verbringt (z.B. die Barmherzigen Schwestern in Wien), aber weiterhin zu Hause schläft. Ambulante Therapiezentren und Psychotherapeut:innen werden nur zu vereinbarten Terminen besucht, Betroffene gehen ihrem Alltag meist so gut wie möglich gewohnt nach.
Um gesund zu werden, braucht es mehr als nur Arztbesuche
Die Sammlung “Patientenleitlinie für Diagnostik und Therapie der Essstörungen” bestätigt, dass es für Menschen mit Essstörungen, die sich in ihrem gewohnten Umfeld befinden, wichtig ist, sich auch außerhalb der professionellen Hilfe Unterstützung zu suchen. Das kann in Form von Selbsthilfegruppen und -büchern oder auch in Online-Communities sein. Dabei sollten Seiten im Internet aber immer mit Vorsicht genossen werden, da nicht alle davon richtige Informationen verbreiten oder vertrauenswürdig sind. Offizielle Hilfsangebote sind hier immer noch die sicherste Variante.
Erfahrungsberichte und Studien zeigen außerdem, dass auch Angehörige oft sehr gefordert sind, denn die Erkrankung kann auch für sie bedrückend sein. Hier ist es wichtig zu betonen, dass sich Nahestehende genauso Hilfe holen dürfen, wie Betroffene selbst. Viele Therapieeinrichtungen bieten Austauschabende für Familienmitglieder an. Es gibt auch eigene Selbsthilfegruppen und selbstverständlich soll und darf auch auf Psychotherapie zurückgegriffen werden.
Eine Aufgabe, die Kraft kostet
Essstörungen können erfolgreich behandelt werden. Aber es kann ein langer Weg sein und nicht immer ist eine vollständige Heilung möglich. Je früher die Diagnose und die richtige Behandlung erfolgt, desto größer ist die Chance auf ein Leben ohne Essstörung.
Quellen:
- Fichter et al. 2018. S3 Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. In: AWMF Leitlinienregister.
- Hay et al. 2009. Psychological treatments for bulimia nervosa and binging. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009. Issue 4.
- Österreichische Gesellschaft für Essstörungen
- Sowhat-Kompetenzzentrum für Essstörungen
- Reich et al. 2010. Psychotherapie der Essstörungen. Lindauer Psychotherapie-Module.
- Wunderer und Schnebel. 2008. Interdisziplinäre Essstörungstherapie: Psychotherapie, Medizinische Behandlung, Sozialpädagogische Begleitung, Ernährungstherapie.
- Zeeck et al. 2015. Patientenleitlinie Diagnostik und Behandlung von Essstörungen